19. Kapitel
Ich hatte meine Eltern anrufen müssen, den der Streit, der nach meinen Worten ausgebrochen war, war zu viel für mich gewesen.
Ich hatte Dario noch nie so aufgebracht gesehen. Nicht einmal, als das mit Giacomo oder meinem Dad gewesen war. Nicht einmal dann.
Irgendetwas an meinem Geständnis muss ihn so sehr aufgeregt haben, dass er alles daran gesetzt hatte, mich dazu zu bringen, ihn zu verabscheuen.
Er hatte mir alle Schande gewünscht und mich darum gebeten, mich zu verpissen. Ich sei purer Dreck und solle ihm nicht so einen Scheiß sagen.
Was mir von seinen ganzen Beleidigungen und Aussagen am meisten geblieben war, war die Aussage, dass ich ihn nicht anlügen sollte. Ich solle ihm so etwas nicht sagen, denn es stimmte nicht.
Aber was ließ ihn glauben, dass ich es nicht ernst meinte? Ich würde niemals über so etwas lügen.
Wir saßen gerade beide im Büro meiner Mutter, die vor uns an ihrem Tisch anlehnte und die Arme eng auf ihrer Brust verschränkt hatte.
Der Blick, den sie mir schenkte, strahlte Wut und Enttäuschung aus. Und der, den sie Dario gab, war mit Angst und Sorge gefüllt, denn es war nicht nur mir aufgefallen, wie viel schlechter es ihm auf einmal ging.
Aber ich fragte mich, ob es im Moment gerade wirklich nur an seinem Essverhalten lag.
Diese Stimmungsschwankung, die plötzlichen Wutausbrüche und das konstante Loslassen von der Realität waren neu. Lag das an dem Absetzen der Drogen?
Kam langsam der echte, nüchterne Dario zum Vorschein? Wie konnte jemand so verdorben sein? Erlitt er so viele Emotionen, die er bis jetzt immer abgedämpft hatte? Oder was war es? Hatte er Schmerzen?
Er spürte meinen Blick auf ihm und schielte kurz zu mir rüber. Seine Worte hatten mich verletzt und ich wusste nicht, was ich im Moment denken sollte.
Um ehrlich zu sein, konnte ich gerade alles andere als klar denken. Hatte er das alles ernstgemeint? War ich wirklich selbstsüchtig und falsch? War ich eine Schlange? Quälte ich ihn?
Mein Blick ließ sich von der Traurigkeit in ihm, langsam zu Boden ziehen und ich fixierte die Turnschuhe des Italieners an.
«Dario, du weißt, dass du dich auf dünnem Eis befindest. Du siehst von Tag zu Tag schlechter aus. Ich denke, das Beste ist, wenn du für eine kurze Zeit in eine Klinik gehst.» Er schluckte. Es geschah genau das, vor dem ich ihn gewarnt hatte.
Aber vielleicht war es wirklich das Beste für ihn. Bestimmt. «Wir haben das Toledo Center in Sylvania bereits kontaktiert und du wirst, sobald ein Platz frei ist und sie der Meinung sind, dass dort der passende Ort für dich ist, für mindestens zwei Wochen dort sein. Je nachdem, was sie dann meinen, wird dein Aufenthalt eventuell verlängert. Das Center ist auf Essstörungen spezialisiert, aber beachtet auch die dazugehörigen psychischen Krankheiten.»
Dario blieb still, doch sein angespannter Kiefer verriet mir, dass er kein Fan von dem, was Mom zu sagen hatte, war. «Du wirst dort fixe Esszeiten haben und konstant begleitet werden. Ich bin der Meinung, dass das genau das ist, was du im Moment brauchst, Dario. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste, aber wir sind an einem Punkt angekommen, wo ich dir nichts mehr selbst überlassen kann. Du gehst kaputt.»
Ich war mir nicht ganz sicher, warum ich hier war. Durfte oder sollte ich das alles überhaupt hören? War das nicht etwas, was Dario allein mit Mom besprechen musste?
«Ich will nicht», meinte der Schwarzhaarige dann ruhiger als ich erwartet hatte. Mom schüttelte bloß ihren Kopf und seufzte auf, «Es gibt kein Wollen mehr. Ich kann dir keine Wahl mehr geben. Du wirst dorthin gehen und fertig.»
Sie zog einen Schlussstrich, den Dario nicht ziehen wollte und wandte sich dann an mich. «Und jetzt erklärst du mir bitte mal, warum du bei Dario warst und nicht bei Tabea?»
Ach, deshalb wollte sie mich hier. «Du warst auch auf der Party, nicht wahr? Ich rieche den Rauch bis hierhin. Und deine Augenringe sprechen auch dafür.» Ich gab keine Antwort, denn Mom wusste sie bereits.
«Hast du getrunken, Noè?» Ich schüttelte meinen Kopf und Dario lachte leise auf. Vielen Dank auch, Idiot. Mom hatte dies nämlich gesehen. Sie wusste definitiv, dass ich getrunken hatte, sprach es aber nicht an. «Wir reden zu Hause darüber, verstanden?»
Ein Nicken, mehr nicht. «Und jetzt bin ich dafür, dass ihr zwei klärt, was auch immer der Grund für euren Streit sein mag.» «Stopp!» Dario stand auf und versperrte meiner Mutter, die uns allein in ihrem Büro zurücklassen wollte, den Weg.
«Fiona, bitte. Gibt es da nicht eine andere Lösung? Ich kann dort nicht hin.» Sie ließ ihre Arme geschaffen fallen und senkte ihren Blick. «Nein, du musst dorthin.» Sie wollte gehen, doch Dario ließ es nicht zu.
«Ich will dort echt nicht hin! Ich brauche das nicht. Ich bekomme das selbst in den Griff. Noè kann mir helfen, sie weiß schließlich was mein Problem ist.»
Ach was? Jetzt auf einmal war meine Hilfe wieder willkommen, oder was?
«Sorry, aber ich denke, das Center kann dir da um einiges besser helfen als ich.» Er sah mich an und schüttelte seinen Kopf.
«Jetzt auf einmal willst du mir nicht mehr helfen?! Die ganze verfickte Zeit hängst du an mir und jetzt, wo ich es wirklich brauchen könnte, wendest du dich ab?»
«Ja, du meintest doch, dass ich es lassen soll!» Plus, er sagte das nur, um nicht in die Klinik gehen zu müssen. Mom wusste das genauso sehr wie ich.
«Dario, ganz egal, was du sagst oder versprichst, du wirst gehen. Keine Widerrede.» Und dieses Mal ließ sie sich nicht aufhalten und zog die Tür schwungvoll hinter sich zu.
Dario tigerte unruhig im Raum umher, bis er sich wieder in seinen Stuhl fallen ließ und sein Gesicht in seinen Händen vergrub.
«Das ist alles deine Schuld», hörte ich ihn dann durch seine Hände murmeln und ich wollte mich verteidigen, als ich bemerkte, wie sehr der Grünäugige zitterte. «Weißt du, in was für einer Scheiße ich mich deinetwegen befinde? Ist dir klar, wie schlimm das sein wird? Wie weh es tun wird?»
Endlich traf sein Blick meinen und ich wagte es nicht, auch nur ein- oder auszuatmen. Ich hatte Angst, Dario würde mich gleich in tausend Teile zerreißen. Doch schlussendlich hatte er sich das alles selbst eingebrockt.
«Die werden mich dort niemals wieder rauslassen.» Er sank in die Kissen des Stuhls und schüttelte seinen Kopf. «Wenn du dir Mühe gibst und gut mitmachst, könnte es schon nur bei zwei Wochen bleiben, weißt du?»
«Mühe geben und gut mitmachen», äffte Dario mich nach und sah mich dann verständnislos an. «Meinst du das ernst? Du hast leicht reden. Du denkst, das ist alles ganz einfach. Einfach mitmachen und fertig, aber du raffst nicht, wie scheiße weh es tut.»
Er stand wieder auf und ich tat ihm gleich, denn ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, über mir zu stehen. «Man geht dort hin, damit es aufhört, wehzutun. Raffst du das nicht? Nimm doch die Hilfe an, die man dir anbietet.»
Er trat näher an mich heran und sah auf mich herab, direkt in meine Augen und mir wurde ganz mulmig.
Er konnte das nicht tun. Wusste er, wie schwer es für mich war, mich zu konzentrieren, wenn er dies tat? Vor allem in einer Situation wie dieser.
«Denkst du wirklich, ich kann die Hilfe fremder Leute annehmen, wenn ich es nicht mal bei Personen, die ich mag, kann? Ist es so schwer zu verstehen, dass ich nicht gerettet werden möchte? Ich will keine Hilfe.»
Seine Stimme brach. «Warum?» «Warum wohl? Es gibt verdammt nochmal tausend andere Menschen, die es dringender haben. Meine Mom zum Beispiel!»
«Sie bekommt ja auch Hilfe!» Dario schüttelte seinen Kopf. «Und jeder Mensch auf dieser Welt hat das Recht dazu, ein bisschen Hilfe zu bekommen, wenn es allein nicht mehr geht. Auch du!»
«Ich will mit dir nicht darüber reden.» Er lief zur Tür und wollte sie öffnen, als ich mich nicht mehr zurückhalten konnte.
Ich hatte keine Ahnung, woher das alles jetzt kam, aber ich musste ihm alles sagen, was in meinem Kopf umherschwirrte.
Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Dario und ich uns nach diesem Tag wahrscheinlich nicht mehr so oft sehen würden. Die entstandenen Risse waren dieses Mal zu groß.
«Du willst nicht darüber reden? Okay, kann ich akzeptieren. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist wie du mit dir selbst umgehst. Du hast ja überhaupt keine Ahnung, wie schlimm es für andere ist, zu sehen, dass du alles ablehnst, was man dir geben möchte. Kapierst du nicht, dass das dein größtes Problem ist? Du glaubst, dass du keine Hilfe brauchst. Das allein ist eine Krankheit, die du nicht mehr allein loswerden kannst. Ganz ehrlich, scheiß auf den ganzen Drogenscheiß und auf die Essstörung. Ich habe schon längst kapiert, dass du keinen Wert darin siehst, zu kämpfen. Warum sonst lässt du dich immer mehr gehen? Genau deshalb habe ich meine Eltern angerufen, weil ich es endlich verstanden habe.»
Ich stapfte vor ihn. «Und ich sehe ganz genau, wie du Leute, die dir Selbstwertgefühl und Zuneigung geben wollen, abwimmelst. Du machst ihnen weh und gibst ihnen das Gefühl, genau das Gegenteil getan zu haben. Du lässt sie denken, dass sie alles schlimmer machen. Aber sind wir doch mal ehrlich. Du kommst einfach nicht mehr klar und willst allein irgendwo verhungern und dir Pillen reinkippen, bis du keinen Mucks mehr machst.»
Ich hatte keine Ahnung wieso, aber mir kamen die Tränen, denn Dario hatte mir wirklich wehgetan und es tat gut, ihm einfach mal alles klar und deutlich zu sagen.
Ich machte mir nicht die Mühe, auf meine Wortwahl zu achten, denn er hatte es auch nicht getan, als er mich für die Tatsache, dass ich ihn mochte, zur Sau gemacht hatte.
«Und, dass du in die Klinik musst, hat rein gar nichts mit mir zu tun. Du bist derjenige, der streikt und meinen Eltern keine andere Wahl lässt.» Mein Herz raste und ich konnte nicht glauben, dass ich ihm das alles wirklich auftischte.
Aber es tat so gut. So verdammt gut, ich lachte sogar etwas auf. «Schau, wenn du keine Hilfe willst, dann mach was auch immer du willst. Mehr als anbieten können wir es dir nicht. Ich habe es versucht. Ich wollte bei dir sein und dir als Freundin helfen, aber alles, was ich dafür bekommen habe, sind Worte, die wehgetan haben. Du hast genau das erreicht, was du wolltest.»
Dario versuchte keine Emotionen zu zeigen. Seine Augen zuckten von meinen zum Boden runter und wieder hoch. Ich denke, ich hatte ihm mit meinen Worten wehgetan, aber das war doch, was er hören wollte.
Er wollte keine Hilfe. Also brauchte er von mir nicht mehr die liebevollen Ratschläge und Ideen, die ihm helfen könnten, zu erwarten.
Ich hatte wahrscheinlich so viel Falsches gesagt. Dinge, die man einer Person, der es nicht gutging, niemals sagen sollte, aber er musste endlich einmal die Wahrheit hören. Ich selbst fühlte mich erleichtert. Es hatte gutgetan.
Locker und entspannt aufseufzend, wandte ich mich von ihm ab, denn für mich war dieses Gespräch beendet. Ich hatte ihm alles gesagt.
Vielleicht hatte ich etwas Kleines ausgelassen, aber das spielte keine Rolle. Ich wusste ja bereits, wie er darauf reagieren würde.
Ich hatte im Moment gerade echt keine Lust auf einen kompletten Herzbruch, denn die ersten Risse begann sich bereits auszuweiten.
Ich langte nach meiner Jacke und suchte nach den Sandwiches, doch ich hörte es bloß hinter mir rascheln. Dario hielt beide in den Händen und streckte mir meins entgegen.
Noè mal etwas anders, aber vielleicht braucht Dario genau das? Was denkt ihr?
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