17. Kapitel
Klar war, dass ich nicht nach Hause konnte und Dario im Moment am besten nicht zurück ins Heim gehen sollte.
Wo hatte uns das also hingeführt? Zu Dario nach Hause. Also Santiagos Haus, um ganz genau zu sein. Dieser war im Moment außer Haus. Für wie lange wusste Dario nicht.
Übergeben hatte ich mich bereits im marmorverzierten Badezimmer und jetzt nippte ich ab und zu mit schweren Augen an einer Wasserflasche, die Dario mir geholt hatte.
«Ich habe Hunger», meinte ich leise und hüpfte vom Barhocker, um den Kühlschrank aufzumachen, doch der Lockenkopf hielt nicht viel davon. «Halt, warte!» Dario folgte mir und stand eng hinter mir, um selbst in den Kühlschrank schauen zu können.
«Ich denke nicht, dass du was von hier essen solltest. Es gibt sicher noch jemand, der so spät liefert.» Verwirrung breitete sich in mir aus. «Der Kühlschrank ist voll, Dario. Und das Zeug wird sowieso schlecht, wenn Santiago nicht hier ist und es nicht essen wird.»
Er schob mich vom Kühlschrank weg und schloss ihn schnell wieder. «Ich denke, die eine Pizzeria liefert noch. Möchtest du Pizza?» Hatte er mich gerade ignoriert? Ich wollte etwas sagen, als Dario begann, die Früchteschale und alles Essbare aus meiner Reichweite zu räumen.
«Pizza? Der Kühlschrank hat noch Lasagne und sogar kalte Hotdogs. Die könnten wir ganz schnell aufwärmen und fertig.»
Er schüttelte den Kopf und zückte sein Handy. «Welche Pizza möchtest du?» Sein Ernst? Ich zwängte mich an ihm vorbei und öffnete den Kühlschrank erneut. Was zum Teufel sollte das?
«Ich mach mir ein wenig von der Lasagne warm.» Ich ließ dem plötzlich gestressten Italiener keine Zeit zu protestieren und schob den Teller in die Mikrowelle und schaltete sie ein.
Als ich mich zu Dario umdrehte, erblickte ich angsterfüllte Augen und Hände, die sich verkrampft am Tresen festhielten. Sein Blick klebte an der Mikrowelle, die leise summte. «Alles oka-»
«Du solltest das wirklich nicht essen. Es könnte verdorben sein.» Ich hockte mich wieder hin und stützte meinen Kopf auf meiner Hand ab. «Ja, ich werde schon merken, wenn es faul ist. Dann werfe ich es einfach weg. Kein Ding.»
Er schüttelte seinen Kopf und winkte mein Argument ab. «Ja, aber was, wenn du dich dann übergeben musst? Ich spreche hier nicht von faul, sondern von richtig schlimm verdorben. Zum Kotzen schlimm.» Zum Kotzen schlimm? Verdorben?
Ich hatte noch nie etwas so schlimm Verdorbenes gegessen, dass ich mich übergeben musste. «Das Zeug sieht aber alles noch recht frisch aus. Ich denke nicht, dass diese Lasagne so verdorben sein kann. Dario, alles okay? Du siehst fett gestresst aus.» Er rieb sich seine Stirn und nickte dann erschöpft.
Ein Seufzer schlich sich von seinen Lippen und ich konnte sehen, wie er sich selbst zu beruhigen versuchte. «Ja, sorry. Aber ich rate dir wirklich davon ab.» Die Mikrowelle piepte und sprang auf. Dario hatte deshalb beinahe einen Herzinfarkt bekommen und war fest zusammengezuckt.
Es roch atemberaubend. Diese Lasagne war alles andere als verdorben. Ich holte mir eine Gabel und brachte den Teller eher ungeschickt zu mir an den Tresen. Das Teil war verdammt heiß.
«Wenn es verdorben wäre, würden wir das doch riechen? Was ist los?» Ich wollte einen Happen essen, als Dario mir einfach den Teller wegzog und aufstand. «Dario!»
Ich sprang ihm hinterher und langte nach seiner Schulter. «Verdammte Scheiße, was soll das?» «Iss das nicht, okay?! Du weißt nicht, ob mein Dad da wieder was draufgepackt hat!»
«Was meinst du?! Was könnte er da draufgetan haben?» Ich wollte wieder nach meinem Teller greifen, doch Dario leerte den ganzen Inhalt in den Mülleimer und wagte es nicht, mir in meine Augen zu schauen.
Es war so als hätte mir jemand in den Magen geschlagen, als es mir plötzlich einleuchtete. Dario wollte nicht, dass ich etwas Verdorbenes aß und mich deswegen übergeben musste.
Er war auch derjenige, der mir gebeichtet hatte, dass er sich nach dem Essen übergeben musste.
Hieß das- Nein, sicher nicht, oder? War das alles die Schuld seines Vaters?
«Was macht Santiago mit dem Essen?» Er wusch den Teller ab und räumte ihn wieder weg.
Es war krank, zu sehen, wie erleichtert er war, da ich nun nichts mehr vor mir auf einem Teller liegen hatte. «Rede mit mir, Dario. Was hat er getan?»
«Nichts, vergiss das einfach. Ich bestelle dir jetzt eine Pizza, gut?» «Nein! Ich will es wissen. Warum darf ich nichts von deinem Vater essen?»
Auch wenn es mir schon wieder um einiges besser ging als noch vor einer Stunde, war ich immer noch etwas angeduselt. Definitiv genug, um den Mut, den ich gerade brauchte, in Aktion zu bringen.
«Ich- Er-», stockte Dario und ich langte nach seinen Händen, um ihn zurück an den Tresen zu führen.
Dort hockte ich mich hin und ließ Dario wieder los. «Es hat angefangen, als ich neu zu ihm gezogen bin. Er-» Er schluckte schwer. So schwer, dass es mir sogar in meiner eigenen Kehle wehtat, wie sehr er zu kämpfen hatte.
«Noè, das ist nicht wichtig, okay?» Ich schüttelte meinen Kopf. «Ich sage es niemanden weiter. Das verspreche ich dir hoch und heilig, wirklich.» Er versuchte sich von mir abzuwenden, «Es ist unsinnig. Eine Lappalie. Ist das ein Wort? Ja, oder?»
Er sah an mir vorbei, mied meine Augen und mein sanftes Lächeln, das ich ihm schenkte, da es niedlich war, wie er wieder an seine englischen Grenzen kam. Aber allein schon das ließ mich merken, wie nahe ihm dieses Thema lag.
«Ist das hier der Grund dafür, dass du nichts mehr essen kannst?» Ich hüpfte vom Hocker runter und stellte mich nahe vor Dario, um ihm in seine Augen hinaufschauen zu können.
Aus Angst, er würde sich gleich aus dem Staub machen, umgriff ich seine Handgelenke, doch er wich zurück und wand sich wieder aus meinen Händen. «Nicht.»
Er schloss seine Augen, presste seine Augenlider fest aufeinander und schüttelte dann den Kopf. «Er wollte mich nie hier haben und konnte es nicht ab, wenn ich manchmal einfach was zum Essen geholt habe.»
So müde, wie Dario aussah, plagte mich die Sorge, dass er mir gleich vor den Füßen zusammensacken würde, weshalb ich mich nicht daran hindern konnte, immer wieder nach ihm zu langen.
Dieser Alkohol ließ mich Grenzen überschreiten, die ich mir und meinem rational denkenden Hirn gesetzt hatte.
«Und damit ich aufhöre, hat er angefangen für mich zu kochen und dann immer was draufgetan. Ich- ich weiß nicht was, aber es war so schlimm, dass ich mich danach vier, fünfmal übergeben musste und mir dann stundenlang schlecht war und mein Bauch hat tagelange wehgetan. Er hat es immer wieder gemacht, mir versprochen, dass er sich dieses Mal mehr Mühe gegeben hat und es sicher besser schmecken wird, aber immer wieder dasselbe.»
Mir blieb die Spucke weg. Worte fehlten mir auch und am liebsten würde ich Santiago aufsuchen, und ihm dasselbe antun. Wie konnte man so etwas an einem kleinen Jungen antun? Wusste er überhaupt, was er mit Dario angestellt hatte?
«Und- Jetzt kann ich nichts mehr essen, ohne daran zu denken. Ich schmecke automatisch diesen Scheiß, den er immer draufgepackt hat. Es ist wie Abwaschmittel oder so. Ich kann einfach nichts mehr kauen und schlucken, ohne mich übergeben zu müssen. Es macht mich fertig!»
Ich ließ Dario langsam los und musste selbst erstmal wieder lernen zu atmen, bevor ich ihm helfen und ihn beruhigen konnte. «Ich wollte nicht, dass dir dasselbe passiert. Ich weiß nicht, ob er das immer noch macht. Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm angefasst.»
Was zum Teufel konnte ich jetzt sagen? Was passte? Mir fehlten die Worte. Verdammt, ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm helfen konnte.
Es tat mir so leid, dass er so etwas erleben musste. Wie konnte Santiago zu solchen Mitteln greifen, um ein Kleinkind davon abzuhalten, etwas zu essen?
Mir fehlten die Hirnstränge, solch einem Tun folgen zu können. Wie, verdammt, wie?!
«Hey, shh.» Ich schritt auf Dario zu und umgriff seine Wangen. So sanft wie ich es schwankend auf die Reihe bekam. «Ich werde nichts essen, okay? Ich habe keinen Hunger mehr. Lass uns aus der Küche gehen.»
Er nickte nur kläglich und umgriff meine Hände mit seinen, um sie langsam von ihm zu lösen. «Ich brauche jetzt kein Mitleid, Noè.»
«Ich weiß, aber du musst dich beruhigen. Und so leid es mir auch tut, aber ich kann es gerade nicht vermeiden Mitleid zu empfinden. Das, was Santiago getan hat, ist barbarisch. Das ist alles andere als menschlich und es ist unfair, dass du jetzt aufgrund seiner Taten zu kämpfen hast.»
Ich dachte nicht einmal mehr daran, Darios Hände wieder loszulassen und zog ihn ins Wohnzimmer. «Wo ist dein Zimmer?» «Im Untergeschoss.» Im Unter- Okay...
Ich hätte eher mit dem ersten Stock gerechnet, denn so hatte es Santiago in der Akte vermerkt und ich konnte mich genau daran erinnern, wie Mom und Dad im ersten Stock das Zimmer kontrolliert und davon geschwärmt hatten, bevor Dario hier eingezogen war, aber Santiago hatte seinen Sohn schlussendlich im Untergeschoss leben lassen. Was für eine Überraschung.
«Wo ist die Treppe?» «Da», atmete er und zeigte den Flur herunter und ganz versteckt, neben dem Wäschezimmer führte wirklich eine Treppe nach unten. Ich hatte diese Treppe eiskalt übersehen. «Aber ich habe nicht aufgeräumt.»
«Bei allem Respekt, Dario. Mir ist gerade scheißegal, wie ordentlich du dein Zimmer hältst.» Er lächelte ganz kurz auf und ließ sich von mir in sein Zimmer zerren.
Ich denke, er hatte sich bereits wieder etwas beruhigt. Ich hingegen, wäre am liebsten die Wände hoch.
Wenn ich das alles richtig verstanden hatte, vergiftete Santiago seinen Sohn, um ihn vom Essen seiner Esswaren abzuhalten. Meine Güte. Das hätte Dario töten können.
Wir betraten sein Zimmer und nicht aufgeräumt war definitiv eine Unterreibung gewesen.
Es sah aus, als hätten hier drin zwei Affen miteinander gekämpft und alles, was in Griffnähe gewesen war, um sich geworfen. «Ich habe dich vorgewarnt.»
«Ja ja, ist ja nicht schlimm.»
Ich schwieg, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Auch tat ich mir schwer, das alles zu verarbeiten.
Wie konnte ein Vater so etwas tun? Ich schielte zu Dario rüber, der in seinem Sitzsack vor der alten Playstation 2 am Boden saß.
Sein Vater hatte sich wohl nie die Mühe gemacht, dieses Zimmer passend zu gestalten, aber das überraschte mich keineswegs. Dieser raum schien mir eher wie ein alter Hobbyraum.
Anhand des Staubes, den ich auf der Konsole und der Fernbedienung zu erkennen schien, hatte Dario sich schon seit längerer Zeit nicht mehr hier aufgehalten.
Die Kleider, die am Boden lagen, waren älter und kleiner. Sie gehörten wahrscheinlich einem jüngeren Dario. «Du bist normalerweise nicht mehr hier, was?»
Er nickte und rieb sich bedrückt seine Stirn. «Ich habe vielleicht vor knapp 3 Jahren zuletzt in diesem Bett geschlafen. Irgendwann konnte ich es hier nicht mehr aushalten.» Ich hockte vor Dario auf den Boden und lehnte mich an den zerkratzten Fernsehtisch hinter mir an.
«Wo hast du denn sonst übernachtet?» Ein Schulterzucken. «Manchmal bei Gio, heimlich natürlich. Ihr Vater wusste nichts davon. Manchmal bei meinen Kumpels und zwei, dreimal bei meiner Mom.» Sein Blick sank, als er seine Mutter erwähnte. «Aber damit habe ich schnell wieder aufgehört. Die Mitbewohner meiner Mom sind ganz komische Leute.»
«Und jetzt wieder im Heim, was?» Er lächelte sanft auf und sah mir in meine Augen. «Ab und zu, ja.» «Nur ab und zu?» «Ich kann nicht mehr wirklich schlafen, Noè. Ich liege meistens stundenlang wach im Bett, bis ich mir ein paar Tabletten reinhaue. Dann bin ich weg. Aber wenn das nicht funktioniert oder ich keine habe, gehe ich raus und suche die nächstbeste Party auf.»
Ich nickte schwach und ein kalter Schauer wanderte über meine Wirbelsäule runter und ließ mich verkrampft ausatmen. Alles, was Dario mir sagte, erinnerte mich an Dinge, die verlorene Leute taten. Das war es doch, oder?
Dario tat Dinge, um sich selber tiefer zu vergraben, da er sich gar nicht mehr zu finden wusste.
Nur wusste ich nicht, vor wie vielen Jahren er sich verloren hatte. Oder waren wir, die Leute um ihn herum, die ihn zu dem gemacht hatten? Waren wir diejenigen, die ihn so eng in eine Ecke getrieben hatten, dass er sich nun so durch Tag und Nacht kämpfen musste?
«Mit all dem, was gerade alles abgeht. Also, ich rede von dem Essding, den Tabletten und sonst Dingen, die dich belasten. Mit all dem um dich herum, gibt es denn nichts, dass dir hilft? Du willst nicht reden. Das ist auch nicht das Problem, aber hast du denn wirklich nichts, was dir auf irgendeine Art und Weise helfen kann?»
Da musste doch etwas sein, aber was war es? Hatte er dieses etwas vielleicht noch gar nicht gefunden?
«Die Tabletten helfen mir krass.» Er kratzte sich in seinem Nacken und sah dann hinter mich, wahrscheinlich in den verstaubten Fernseher, der sein Spiegelbild abbildete.
«Okay, aber nichts anderes? Machst du denn sonst nichts anderes? Du bist doch immer unterwegs, siehst deine Freunde oder verbringst Zeit mit Gio.» Da musste etwas sein.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Dario am morgen nur aufstand, um sich Tabletten den Rachen runterzukippen.
«Na ja, ich habe mal Fußball gespielt, aber irgendwann hat es mir keinen Spaß gemacht. Plus, mein Körper kann diese 90 Minuten nicht mehr wirklich durchhalten.»
Er legte seinen Kopf schief und sah mir tief in meine Augen. Beinahe hatte ich übersehen, wie angespannt er seinen Kiefer malen ließ.
«Sonst gehe ich halt raus und rauche oder trinke mit den anderen, aber Spaß machen tut das auch nicht wirklich. Alles andere ist zu anstrengend.» Wirklich nichts anderes? Wollte er denn nichts anderes machen?
«Du könntest was Neues prob-» «Ich denke, du verstehst nicht, was ich sagen möchte. Ich will nichts anderes machen. Wenn ich etwas anderes mache, kann ich das nicht genießen. Es fühlt sich dann immer so an, als wäre ich kilometerweit weg und sehe zu, wie alle ihr Leben genießen und Spaß haben. Alles um mich herum wird dann grau und ganz, ganz weit weg von mir, sehe ich Leute, die im Gegensatz zu mir, es auf die Reihe bekommen, glücklich sein.»
Dario stand auf und knackte seine Finger. «Ich denke, es ist im Wohnzimmer auf den Sofas am bequemsten. Ich kann dir ein paar Decken holen.» Das war wohl seine Art, einen Schlussstrich zu ziehen. Mehr hatte er mir nicht zu sagen.
Oder wollte er einfach nicht?
Hmm...
Was hält ihr von Darios Trauma? (Weird Frage, ik xD)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro