
12. Kapitel
Tabea würde heute Mittag mit Calvin auswärts essen gehen. Sie hatten sich verabredet. Das hieß für mich, dass ich entweder allein oder mit einem schweigenden Dario in der Cafeteria sitzen würde.
Und so wie es aussah, würde es das Letztere sein. Denn Dario schlenderte, sogar etwas unsicher, wenn ich mich nicht täusche, auf mich zu. Und ich wusste auch ganz genau, weshalb. Miss Min hatte ihn im Auge. Er war dazu gezwungen, die Aula zu betreten.
«Ich schwöre, wenn das eine Lüge war und du mich jetzt fesselst und zusammen mit Min zwangsfütterst, werde ich dich umbringen.» Ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, doch er sagte es so gefühllos, dass ich trotzdem einmal um mich blickte und hoffte, dass dies jemand gehört hatte, falls man mich nach dem Mittag aus komischen Gründen nicht mehr finden würde.
«Min hat nichts zu sagen.» Ich drehte mich um und schaute in die große Aula, die mit hunderten von Leuten gefüllt war. «Also, ich auch nicht, aber du weißt, was ich meine.» Er stellte sich neben mich und tat mir gleich.
Seine Augen landeten zuerst beim Catering und wanderten dann zu den ganzen schmatzenden Schülern, was ihm anscheinend ein flaues Gefühl im Magen zu geben schien, denn er ließ seinen Blick senken und rieb sich seinen rechten Unterarm.
Heute gab es Bohnen und Erbsen mit Kartoffelstock und wenn man wollte, noch ein Spiegelei dazu. Das Essen hier war nicht schlecht, nur merkte man, dass es Massenabfertigung war und kein 3-Sterne-Restaurant.
Darios Anforderungen schwirrten mir im Kopf umher. Er musste jeden Mittag hier verbringen, aber das vor doch zu viel für den Anfang, oder? Wie konnte man von ihm erwarten, hier etwas zu essen, wenn er es kaum mehr allein schaffte, wenn ihm niemand zusah?
Ich versuchte also eine Lösung zu finden. Auch wollte ich ihn nicht dazu zu zwingen ein eigenes Tablett mit Esswaren, die ihn anscheinend krank machten, zu füllen.
«Wart du hier, okay? Ich komme gleich wieder.» Er war verwirrt und wollte mir wahrscheinlich kontern, als ich aber einfach in die Aula trat und mich hinten anstellte, um mir mein Mittagessen zu holen.
Und während ich überlegte, was ich Dario nehmen sollte, hatte er die Möglichkeit und vor allem Zeit, den anderen zuzusehen. Er konnte sehen, wie alle zusammen lachten, wie sie Freude am Essen hatten und wer weiß, vielleicht half ihm das ja.
Und wenn nicht, war ich mir sicher, er würde sich selbständig abwenden und etwas anderes machen. Ich machte mir also keine Sorgen, ihn zu quälen.
Ich konnte May, die nette Dame, die mir mein Mittagessen serviert hatte, dazu überreden eine kleine Schüssel zusätzlich mit wenig Kartoffelstock und ein paar Bohnen zu füllen. Diese Schüssel stand auf meinem Tablett und als ich wieder bei dem Italiener ankam, sah dieser verwirrt auf meine Hände.
«Du brauchst kein Tablett. Wäre sonst ja bloß mehr Arbeit beim Abwaschen.» «Du behandelst mich wie ein Kleinkind.» «Ich kann dich sonst auch wirklich einfach fesseln und zwangsfüttern. Was ist dir lieber?»
«Du hättest die Kraft nicht, das zu tun.» «Und du hättest sie nicht, dich zu verteidigen, also pass auf.»
Ich deutete ihm, mir zu folgen und wir liefen in die entgegengesetzte Richtung wie alle anderen, was den Lehrpersonen natürlich sofort auffiel. Min schritt ein. «Wo soll es hingehen, ihr zwei?»
«Die Aula ist zu voll. Ich mag das nicht. Ich möchte gerne woanders essen.» Ihr Blick fiel auf Dario, der nervöse Augen hatte und kurz an einem Schüttelfrost litt. «Tut mir leid, aber essen außerhalb der Aula ist nicht wirklich erlaubt.» Ich schüttelte meinen Kopf.
«Es ist erlaubt. Ich mache es oft und Sie und Ihre Arbeitskollegen machen es auch. Ich sehe also kein Problem.» Ich wusste ganz genau, weshalb sie streikte. Nämlich wegen dem Grünäugigen neben mir.
«Wenn Sie uns suchen. Wir essen vor der Turnhalle. Danke.» Ich lief an ihr vorbei und Dario folgte mir etwas langsamer. «Ich komme mir wie der letzte Dreck vor.»
«Kann ich mir gut vorstellen. Hätte dich nicht für so jemand ruhiges erwartet.» Es blieb still, bis wir den Zwischengang zu den Turnhallen erreichten. «Was soll das denn heißen?» «Na ja, wenn man bedenkt, wie du meinen und Gios Vater verdroschen hast, kommt das deinem jetzigen Zustand nicht gerade sehr nah. Sicher, dass es dir gut geht?»
Ich bekam keine Antwort mehr und als wir uns zusammen auf den Boden setzten und ich mein Tablett vor mir zu Boden legte, konnte ich zusehen, wie Dario nervös mit seinem Feuerzeug spielte. «Du kannst ruhig rauchen. Ich weiß, dass du dir Kippen besorgt hast.»
«Was weißt du sonst noch?» Er sah mich aus zu Schlitzen gezogenen Augen an und führte langsam eine Zigarette an seine Lippen. «Nicht viel. Kannst mir ruhig was erzählen, wenn du Lust hast.» Er lachte höhnisch auf und schüttelte seinen Kopf, als er den ersten Zug bereits wieder ausatmete.
Ich hingegen, atmete mein Essen wortwörtlich ein, denn ich starb beinahe vor Hunger. Und Darios Blick blieb schweigend an meiner Gabel hängen, die sich langsam füllte. Der Kartoffelstock schmeckte nicht übel.
«Hab dir auch was geholt. Wenn du es nicht willst, esse ich es einfach.» Ich aß eine Gabel und schluckte leise herunter. Ob Dario mir zugehört hatte, wusste ich nicht, denn er schaute nicht mich, sondern die kleine Schüssel für ihn an.
Ich wusste nicht, ob ich ihn in seinen Gedanken weilen lassen sollte oder nicht. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass du wirklich seit Tagen nichts mehr gegessen hast.» Jetzt lag sie auf mir: Seine Aufmerksamkeit. «Ich meine, sonst würde es dir doch noch ganz anders gehen, oder?»
Ein Schulterzucken. «Der Körper hält verdammt viel aus, Noè. Aber nein, ich habe letzten Donnerstag was gegessen, nur-» Er stoppte und zog an seiner Kippe. Ich ließ ihm Zeit, doch er machte nicht den Anschein, weiterreden zu wollen. Was wollte er sagen? «Was nur?»
Ich legte meine Gabel in meinen Teller und lehnte mich an die kühle, gräuliche Wand hinter mir. Mein Schneidersitz machte mir das etwas schwerer als gedacht, aber ich bekam es hin. «Es geht mir danach nicht wirklich gut, okay?!»
Seine Stimme nahm komischerweise an Volumen zu, was mir deutete, dass ich eventuell seinem roten Bereich zu nahe gekommen war. Er war vielleicht noch nicht dazu bereit, mir genauer zu sagen, was los war. «Okay. Tut mir leid. Habe nicht nachgedacht. Das wusste ich ja eigentlich bereits.»
Ich nahm mir meinen Teller auf den Schoß und aß schweigend weiter. Es ging ihm nach dem Essen nicht gut. War das auch der Grund, warum er nicht mehr vor anderen aß? «Du traust dich nicht vor anderen zu essen, weil es dir danach übel geht, oder?» Er nickte und atmete den Rauch langsam aus.
Er war so nett und tat dies von mir weg, da ich am Essen war. «Wenn ich allein bin, stellt keiner Fragen, warum ic-» «Warum du dich übergeben musst?»
Er stoppte, als ich ihm wahrscheinlich seine Gedanken, die er nicht geplant hatte zu offenbaren, auf der Zunge servierte. Er war schockiert, stand aber nicht unter Schock. Viel mehr versuchte er zu verstehen, was ich davon hielt, denn meine Miene zeigte sich weder vorwurfsvoll noch wütend.
Ich sah ihn einfach an. Ich wusste nicht, ob ich richtig lag, doch seine Reaktion, die er nur halbwegs zu verstecken geschafft hatte, sprach wahre Bände. Ich hatte recht. «Du meidest, es zu essen, weil du dich nachher übergeben musst. Ich brauche nicht zu wissen warum, aber ich hoffe, dass du es überkommen wirst.»
Und nun war ein Themawechsel nötig, denn näher wollte ich ihm nicht treten. Da mir direkt kein anderes Thema einfiel, weil ich mit Dario meist nur über seine Probleme redete, griff ich wieder zu meiner Gabel.
«Dein Dad hat etwas, das mir gehört.» Bitte was? Ich verschluckte mich beinahe an der ganzen beschissenen Gabel. «Hat er das?»
«Mhm, ich habe es verloren, als er und ich letzte Woche eine ganz, ganz kleine Auseinandersetzung gehabt haben.» Wie oft geriet Dario denn in Auseinandersetzungen?
«Was ist es denn? Vielleicht finde ich es.» «Ehh, eine Zeichnu- Fuck, wie heißt es richtig?» Er schnippte die Asche von der Zigarette und legte seinen Kopf in den Nacken.
«Il Mandala», murmelte er dann. «Ah, ich meine Mandala. Heißt ja gleich auf Italienisch.» Ein Mandala. Das Mandala. Unser Mandala? Er wollte es zurück?
«Warum willst du es zurück?» Ich legte meinen Kopf schief und sah zu, wie Dario es sich etwas bequemer machte und auch an die Wand rutschte, um sich daran anlehnen zu können.
Ich langte nach meiner Schultasche, die ich vorhin vorlauter Nervosität vergessen hatte, in meinen Spind zu legen und deswegen mitgenommen hatte. Denn ob man es glauben mochte oder nicht, aber ich hatte das besagte Mandala bei mir im Etui.
«Du hast es mir gegeben, als noch alles einigermaßen okay war. Jedenfalls fühlte es sich so für mich an, denn ich kann mich kaum an den Tag erinnern, was es, glaube ich, eben gerade ausmacht, dass es mir da gutging.» Sein Englisch war dabei zu kippen, aber ich konnte ihm gut folgen.
Ich wusste, was er meinte. Als kleiner Junge hatte er noch nicht ganz verstanden, dass es seiner Mom nicht gut ging. Er war noch nicht von allen Seiten mit Fragen und Wünschen bombardiert worden. «Hier.» Ich hielt es ihm hin.
Es war zerknittert und unschön zusammengefaltet, aber das schien uns beide nicht zu stören. Er nahm es schweigend entgegen und schob es sich in seine Hosentasche. «Warum hast du das einfach hier?» «Weil es auch für mich eine Bedeutung hat, weißt du? Und ich dachte mir, dass du es eventuell wiederhaben möchtest. Schließlich trägt nicht jeder einfach ein Mandala bei sich, ohne etwas damit zu verbinden.»
Ich selbst wusste auch nicht mehr viel von jenem Abend, doch eins war mir klar: Dario wusste definitiv weniger als ich.
Denn ich konnte mich noch daran erinnern, wie sehr er geweint, geschrien und hyperventiliert hatte, da er von seiner Mom weggenommen wurde und alle auf einmal eine ganz andere Sprache gesprochen hatten wie er.
Aber vielleicht war das Mandala eben eine gute Erinnerung, die er brauchte, um die schlechten zu verdrängen.
«Zeichnest du diese Dinger noch?» Ich lachte auf und schüttelte meinen Kopf. «Nein, ich bin 16, Dario. Wenn ich was zeichne, dann Strichmännchen auf meinen Mathehausaufgaben.»
Er grinste. Wenn auch nicht lange. Und es war beinahe gruselig, wie schnell dieses scheinbar echte Grinsen, mir dann plötzlich den Glauben schenkte, dass es gar nicht echt gewesen war, da es inert Millisekunden einfach wieder zerfallen war.
«Danke, dass du es behalten hast.» Er drückte die Kippe auf dem glänzenden Boden aus und blickte mir dann verwundert entgegen. «Waru-» «Weil es, wie eben gesagt, mir auch sehr viel bedeutet.»
Und es bedeutete mir zehnmal mehr, dass er es bei sich trug, denn dieses Mandala, war, was uns als Kinder zusammengeführt hatte.
Es war der Ursprung unserer jetzigen Bekanntschaft und auch wenn ich es nicht gerne zugab: Es machte mich und meinen Puls beinahe verrückt, dass er es noch immer hatte und etwas Gutes damit verband.
Mögt ihr Noè?
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