10. Kapitel
«Ich will nicht wissen, wo er gelernt hat, so zu verteilen», schimpfte mein Vater, der sich das Blut von der Nase tupfte und vor Darios Zimmertür an der Wand lehnte. Drinnen waren Mom, Dario und Rosie. Mom und Rosie versuchten Dario zu beruhigen, was mir sagte, dass der Versuch, ihn zu untersuchen, schiefgegangen war. Denn Schwester Hannah war eben ausgetreten und hatte einen eher schmerzhaften Blick getragen.
«Hättest sehen müssen, wie Giacomo zu Boden gegangen ist», meinte ich immer noch die Chipstüte haltend. Dad schmunzelte bloß und legte seinen Kopf in den Nacken. «Dieser Junge.»
Man hörte Dario laut mit Rosie diskutieren und schimpfen. «Wie hast du es herausgefunden? Also, das mit dem Essen.» «An dem Abend, wo wir ihn aufgefangen haben, hat er die Suppe an Diego weitergegeben und so getan, als hätte er sie gegessen. Und seine Ausrede, dass er mit Giorgia Pizza essen war, fiel auch ins Wasser, weil Gio und ich sein verstecktes Pizzastück bei ihr auf dem Dach gefunden haben und Dario hat auch die Waffel, die er mit mir essen war, einfach liegen lassen.»
Dads Augen lauerten auf mir und ich wusste nicht, was er dachte, ob ich etwas falsch gemacht hatte oder weiterreden sollte, doch das liebevolle Lächeln, das sich auf den Lippen meines Vaters bildete, nahm mir jegliche Sorgen. «Das war sehr aufmerksam von dir, Mäuschen. Das hast du gut gemacht. Melde es das nächste Mal vielleicht etwas früher, okay?»
Ich lächelte zurück und zuckte zusammen, als Darios Stimme lauter wurde. «Fass mich nicht an!» Es war angsteinflößend, wie schnell er den Hahn aufdrehen konnte. In der einen Sekunde war er ruhig und nur kurz später war er aggressiv und handelte impulsiv. «Warum waren du und er zusammen Waffeln essen?» «Habe ihm angeboten, zusammen die Hausaufgaben zu machen. Ich war eher überrascht, als er wirklich aufgetaucht ist.» Dad nickte. «Binde dich nicht zu sehr an ihn.» «Wir sind nicht mal Freunde, Dad.» «Ja, aber ich sehe doch, wie sehr du dich für ihn interessierst und Dario ist kein einfacher Junge.»
Dad zerknitterte das blutige Nasentuch in seiner Hand und schob es in seine Jackentasche. «Ich weiß, dass du nur helfen möchtest, aber tu dies mit einem gewissen Abstand. Ich will nicht, dass er dir wehtut.» Kopfschüttelnd lehnte ich mich an Dads Schulter und schloss meine Augen. «Nenn mir bitte eine einzige Methode jemandem auf Abstand helfen zu können, wenn es wahrscheinlich um die persönlichsten Dinge geht, die ein Mensch durchmachen kann?»
Darauf hatte Dad keine Antwort bereit, was mir zeigte, dass ich im Rechten lag. «Was denkst du, warum Bayton nicht vorankommt?» Ein Nicken meines Vaters war das letzte, was ich sah, bevor Darios Zimmertür aufging und Mom und Rosie austraten. Mom zog die Tür hinter sich zu und schlüpfte dann in Dads Arme.
«Da liegt viel mehr als nur eine Essstörung dahinter.» Rosie stimmte schweigend zu und sah mich dann an. «Er trinkt und raucht, oder?» «Ja.» «Okay, dann wäre unser erster Schritt, mal zu schauen, dass er die Finger davon lässt. Auch werde ich mich mit Bayton zusammensetzen und seine Art, mit Dario umzugehen, besprechen.» Und wie wollten sie das auf die Reihe bekommen?
Dario würde doch sicherlich einen Weg finden, während der Schule zu rauchen und Hausarrest, was sein Feierngehen anging, hatte auch noch nie funktioniert. «Er wird täglich getestet. Da kommt er nicht drum herum. Anders geht es im Moment nicht und-» Moms Blick blieb an der Chipstüte hängen und ich konnte zusehen, wie sie langsam meinen Körper hochsah, bis sich ihr und mein Blick trafen. «Noè, denkst du, du kannst versuchen, ihm beim Essen zu helfen?»
Dad schritt ein, «Fiona, das soll verdammt nochmal ein Fachspezialist machen. Nicht unsere Tochter!» Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Um ehrlich zu sein, war ich doch keineswegs die richtige Person hierfür. Dario mochte mich nicht. Wie um Gotteswillen sollte ich ihm also beim Essen helfen können?
«Er streikt, Schatz. Und ich denke, Dario braucht jetzt in diesem Moment keinen Ernährungsberater, sondern jemanden, der ihm hilft sich zu überwinden und ich weiß, was für eine Wirkung Noè auf andere haben kann.» Ich dachte an Dads Worte von eben.
Es war also klar, dass er kein großer Fan davon war. «Ja, aber Noè weiß nicht damit umzugehen, Fiona. Weißt du, wie unprofessionell das ist?» «Mom, er ist wütend auf mich. Ich bin gerade die letzte Person, die ihm bei irgendeiner Sache helfen könnte.» «Du hast ihm doch bereits geholfen. Er muss es nur noch einsehen.» Verdammte Scheiße, ich wollte nicht einfach wie alle anderen bloß mit Dario reden, weil man mir den Auftrag dazu gegeben hatte.
Ich wollte ihn kennenlernen und nicht Therapeutin spielen. «Ich mache es nicht, Mom. Ich bin keine Therapeutin, weder noch eine Ernährungsberaterin oder was weiß ich.» Wenn ich etwas für Dario sein sollte, dann eine Freundin. Er selbst hatte mir bereits gebeichtet, wie erstickend es war, von allen Seiten als Projekt angesehen zu werden. «Okay, ich kann dich verstehen, Noè. Das ist okay.»
Mom und Rosie machten den Anschein, zu gehen und ich lag richtig, denn sie verließen uns mit der Erklärung, dass sie das mit dem Drogentest und dem Alkoholmessgerät besprechen mussten.
Sie wollten den Italiener also komplett nüchtern behalten. Was dies bewirken würde, würden wir dann in wenigen Tagen erst sehen. Auch Dad verließ den ersten Stock und ich stand noch immer vor der offenen Zimmertür.
Dass Dario sich nicht eingemischt hatte, wunderte mich sehr. Er war direkt auch nicht sichtbar. Vorsichtig überschritt ich die Türschwelle und suchte nach dem Lockenkopf, doch er war nirgends zu sehen. Sein Bett war leer. Das Badezimmer hatten Mom und Rosie abgesperrt. Er durfte nun nur noch das Allgemeinklo im Erdgeschoss benutzen.
Seine Anwesenheit fehlte im ganzen Zimmer, bis ich zum Fenster blickte und sah, dass draußen Rauch anstieg. Ich legte die Chipstüte also auf den Fensterrahmen und kletterte auf das Dach, wo ich Dario dann auch wirklich auffand.
Er zog an einer Zigarette, die Mom ihm wohl nicht entnehmen konnte und als er mich klettern sah, verdrehte er seine Augen. «Was gibt's, Doc? Möchten Sie mich auch noch dazu überreden, von Hannah untersucht zu werden?»
Ich schüttelte meinen Kopf. «Nope, möchte bloß hier sitzen.» Ich hockte mich neben ihn und wir beide schwiegen. Er blies den eingeatmeten Rauch aus und schaute geradeaus zum Nachbarhaus, das komplett dunkel war, denn die Nacht hatte bereits eingeschlagen. «Möchtest du die Akten deiner Mom immer noch haben?»
Ich konnte im Augenwinkel erkennen, wie die Hand mit der Zigarette, die auf dem Weg zu seinen Lippen war, wieder sank. Sein Kopf drehte sich zu mir und ich tat ihm gleich. «Ja, aber du musst sie nich-» «Du bist gestern nur gekommen, weil du mich danach fragen wolltest, oder?» Er verzog seine Miene und lachte halbherzig auf. «Eventuell.»
Wieder ein Zug und langsames Ausatmen. «Nicht sehr klassisch von mir, sorry.» Ich winkte ab. «Ist okay, wir machen das doch auch bei dir.» «Hä?» Ich wandte mich an ihn und zog meine Beine an, um sie eng zu umarmen.
«Bayton, meine Eltern, ich und Rosie kommen doch auch immer nur zu dir, um etwas aus dir herauszubekommen. Ist also Fairplay.» Dieses Mal war er es, der schluckte. «Wäre ich jetzt high, würde mir das die Birne wegblasen. Das war deep.»
Ich konnte es nicht zurückhalten und lachte auf. «Du bist nüchtern?» «Jetzt kling nicht so überrascht. Klar, bin ich nüchtern. Ich besaufe mich nicht pausenlos. Ich bin kein Suchti.» Stimmte auch wieder. «Aber du weißt, was Rosie und meine Mom vorhaben, oder?» Bloß ein Schulterzucken.
Klar, wusste er es. Schließlich würden sie ihn morgen das erste Mal testen. Ich musterte seine Miene, versuchte Unsicherheit zu erspähen, aber sie war blank. Dario zeigte weder eine Reaktion noch eine Emotion. Seine Augen schauten leer und glanzlos nach vorn. «Ich werde dir eine Kopie von den Akten deiner Mom holen.»
Ich legte mich hin und schaute nach oben in den leeren Himmel. Sterne brauchte man im Moment nicht zu suchen. «Aber nur, wenn du mir sagst, warum du sie genau brauchst.» Seine schwarzen Locken wippten hin und her, als er seinen Kopf schüttelte und auf seinen Schoß grinste. «Ich will mehr über sie und ihr Leben wissen.» «Da könntest du meine Eltern oder Bayton fragen. Ich glaube dir also nicht, sorry.» Dario seufzte. «Du hast recht, du brauchst mir die Kopien nicht bringen.»
Ich sah zu, wie er gleichgültig abwinkte und sich dann seine Stirn rieb. Er presste seine Augenlider doll aufeinander und atmete etwas schneller und schwerer. «Alles ok-» «Ja, mir ist nur nicht so gut.» Ja, warum auch? Er schien kraftlos und die heutigen Ereignisse begannen sich langsam zu zeigen. Darios Körper gab nach.
Ich wusste nicht, ob dies eine gute Idee war, aber ich versuchte nicht groß nachzudenken und den Italiener einfach wie einen Kumpel zu behandeln, weshalb ich gelassen die Chipstüte holte und sie ihm, ohne ihn dazu zu drängen, hinhielt. Er schielte zu meiner Hand und als er erkannte, was ich ihm anbot, versteckte er sein Gesicht in seinen Händen und schüttelte den Kopf. «Das wird schon wieder. Ich brauche nur eine Zigarette.»
Er begann in seinen Hosentaschen zu suchen, doch realisierte dann, dass Mom ihm alle abgenommen hatte. Als es ihm einsackte, ließ er sich nach hinten fallen und warf die Arme übers Gesicht. «Ich sag nicht, dass du essen musst. Ich möchte dich bloß daran erinnern, dass es eine Möglichkeit wäre.»
«Für dich vielleicht. Für mich nicht.» So eine direkte Antwort hatte ich nicht erwartet. Deswegen kam auch keine durchdachte Rückfrage aus mir raus. «Warum nicht?»
Ich hörte ihn atmen und als er sich nicht rührte, nicht antwortete, zog ich meinen Arm zurück und aß selbst ein paar Chips.
Ich dachte ein paar Jahre zurück und versuchte mich an den damaligen Dario zu erinnern. Wie sah er damals aus? War er jemals etwas fester gewesen? Warum hatte er Probleme zu essen? Lag es überhaupt an seiner Figur oder lag es tiefer, an einem schwereren Felsen, den wir noch gar nicht entdeckt hatten?
«Weil es mich krank macht.»
Was das wohl zu bedeuten hat...
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