1. Kapitel
«Uiiiiiiii!» Noè drückte sich an mir vorbei und hüpfte aus dem Reisebus.
Als ich es halbwegs lebendig die Stufen runtergeschafft hatte, suchte ich nach ihrem Sommerkleid, doch sie war nirgends mehr zu finden.
«Ohhhh! Ach du Scheiße, wir sind im Paradies angekommen!» Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber definitiv hören.
Na ja, ich steuerte den ersten Mülleimer an und öffnete meinen Rucksack, wo ich die vier leeren Nikotinkaugummi-Verpackungen entsorgte. Die Fünfte hatte noch drei drinnen.
Ich meine, ja, uiiiiii, alles schön und so, aber mir gings richtig Scheiße. Ich hatte mich verdammte 6-mal auf der ganzen Reise hier her übergeben müssen.
Eins war klar: Heroin war nichts für mich und ja, schämen tat ich mich auch dafür.
Amallia fing Noè ein und lachte zusammen mit ihr. Da hatten sich zwei gefunden. Amallia war die Schwester von meiner Mom und auch mit der fiel es mir schwer, mich mit ihr zu unterhalten.
Unser letztes Aufeinandertreffen war alles andere als angenehm gewesen, doch wenigstens war ich jetzt endlich aus Marblehead rausgekommen und ja, hier in Tropea.
Die Luft war feucht und es war verdammt heiß, doch ich konnte mich da überhaupt nicht beklagen. Marblehead war mir für meinen Geschmack immer etwas zu kalt gewesen.
Ich musste mir die ganze Zeit über anhören, dass ich mir doch etwas Kurzes anziehen können hätte. Joa, die einzigen kurzen Hosen, die ich hatte, hatte ich mit 12 getragen.
Das hätte ich Noè nicht verraten sollen, denn ihr erstes Ziel war es nun, mir Kleider für die 37 Grad, die hier sind, zu kaufen, plus, sie beharrte auf eine Badehose für mich, denn sie wollte dringend, so schnell wie möglich ans Meer. Ihr war aber schon bewusst, dass ich die Definition von Selbstverletzung war, oder?
«Und? Schwitzt du schon?» Meine Freundin zog verspielt an meinem Hoodie und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich brauchte eine Kippe und bei Gott fühlte sich das schön an, den Rauch einzuatmen. Ich konnte diese dummen Kaugummis nicht mehr anschauen.
«Ihr bleibt bei Antonella, deiner Großmutter. Sie wohnt über unserem Restaurant, das mittlerweile nur noch ein kleines Café ist. Ihr seid dort so gut wie am Meer und was zu essen habt ihr auch immer. Sie freut sich richtig auf euch.» Okay... Ja, in erster Linie hatte ich mich so auf diese Reise gefreut, dass ich irgendwie vergessen hatte, auf wen ich hier alles treffen könnte.
Und die ganzen Fragen, die aufkommen würden, hatten mich die ganze Reise wachgehalten. Und es war ja jetzt nicht mehr so, dass ich Noè reden lassen konnte. Schließlich konnte sie kein Italienisch. Aber ja, mal sehen.
«Meine Brüder und Schwestern wohnen verteilt in ganz Tropea, außer Cristian. Er lebt in New York und wo seine Kinder, deine Cousins und Cousinen, mittlerweile leben, weiß ich gar nicht mehr. Er ist der Älteste von uns sechs und geht schon auf die 50 zu. Ich glaube, du bist der jüngste von unserer Familie, Dario. Davide hat Zwillinge, aber die sind beide 16 und Marco, Sara und ich haben keine Kinder. Bei Marco weiß ich zwar nicht, wie lange das noch so sein wird und Sara will keine haben.»
So viele Namen und anscheinend alle in Verbindung zu mir, doch ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren. «Also, ist Lio das Baby der Familie. Schön, dass du zu deiner Omi kannst.» Noè strahlte, was wieder einmal typisch sie war.
Sie war in gewisser Art und Weise so einfach zu begeistern, aber das machte sie so niedlich und in meinen Augen perfekt. Ich war ehrlich gesagt froh darüber, dass es ihr jetzt so ging, denn am Samstag war es überhaupt nicht so gewesen.
Die Beerdigung ihrer Mutter hatte sie zerstört und um ehrlich zu sein, war sie für mich auch nicht gerade einfach gewesen, aber ja, wir hatten es überlebt und ich denke, Noè konnte so einiges loswerden und ihrer Mutter auf gewisse Weise auf Wiedersehen sagen, ohne sie komplett loslassen zu müssen.
«Tropea ist ziemlich klein, aber man kann sich trotzdem schnell verlaufen. Ich habe eine kleine Karte für euch.» Sie übergab sie Noè, die nickte und sich an mich lehnte.
«Es ist eigentlich ganz simpel. Wenn ihr im Zentrum seid, kommt ihr innerhalb 5 bis 10 Minuten überall hin, wo ihr hinmüsst. Das Restaurant ist knappe 4 Minuten davon entfernt. Die Strände sind jetzt im März nicht so voll, da es nicht wirklich Touristen-Saison ist, aber leer werden sie auch nicht sein.»
Ich erkannte an einem Schild, dass wir uns bereits im Zentrum befanden und stupste Noè an, weil sie verzweifelt versuchte herauszufinden, wo wir auf der Karte lang mussten, um ins Zentrum zu kommen.
Sie schaute verwirrt auf und ich deutete auf das Schild. «Centro, Micina. Wir sind bereits da.» Sie verdrehte die Augen und faltete die kleine Karte wieder zusammen. «Sorry, habe das englische Wort gesucht.»
Das hatte ich mir bereits gedacht, doch ich beließ es dabei und legte schwach grinsend einen Arm um ihre Schultern, um sie an mich heranzuholen, damit ich ihre Schläfe küssen konnte. Sie lief rot an.
«Gleich hier um die Ecke ist ein Supermarkt. Aber es hat auch überall kleine Volksläden, falls ich Kleinigkeiten braucht oder so. Ich wohne in der Nähe vom Hafen. Ich habe meine Adresse auf die Karte geschrieben. Falls etwas ist, kommt vorbei oder ruft mich an. Ich melde mich eh alle paar Tage bei euch, damit ich deinem Vater, Noè, Bericht geben kann. Und ansonsten kann euch sicher auch Antonella weiterhelfen. Sie lebt schon ihr ganzes Leben hier.»
Joa, Noès Dad musste stark mit sich selbst kämpfen, um uns gehen zu lassen. Aber es hatte funktioniert. Dass das ganze Risiken mit sich brachte, wussten wir. Dass diese Risiken alle nur mit mir zu tun hatten auch, aber ja... Ich würde mir Mühe geben.
Ich hatte Noè versprochen, clean zu bleiben. Zur Not hatten wir Medikamente für mich, die mich inert kurzer Zeit beruhigen konnten, bekommen, doch die hatte Noè irgendwo bei sich versteckt. Vertrauen tat mir eigentlich niemand mehr, aber was war daran neu?
«Soll ich euch direkt zum Restaurant bringen oder habt ihr noch was vor, wenn wir ja gerade hier im Zentrum sind?» Ich wollte sagen, dass wir ruhig gehen konnten. Meine Beine taten weh und ich hatte Muskelkater, ohne Sport gemacht zu haben. Doch Noè winkte ab. «Schon gut, wir finden es schon. Dario kann im Notfall die Leute fragen, aber zuerst brauchen wir noch paar Sachen.»
Oh nein... «Du willst mit dem ganzen Gepäck rumlaufen?» Sie hielt inne. Hatte sie etwa schon vergessen, dass wir Tasche und Koffer dabei hatten? Amallia hatte einen Plan: «Das ist kein Problem. Ich kann mein Taxi fragen, ob er eure Sachen bei meiner Mutter abstellen kann und ich wollte eh noch kurz zu ihr. Holt ihr ruhig eure Sachen, die ihr braucht.» Wieso funktionierten Noè und Amallia so gut miteinander? Hatten sich die beiden gegen mich verschworen?
Ich drückte meine Kippe am Mülleimer aus und drehte mich zu Noè, die auf einmal mit einem kleinen Keks vor mir stand und mir den vor den Mund hielt. Sie tat das schon die ganze Zeit. Sie hatte am Flughafen kleine Kostproben mitgenommen und fütterte mich alle paar Stunden mit denen.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, hier das Kleinkind auf der Reise zu sein. Ich verdrehte meine Augen und biss eine kleine Ecke ab. Da hatte ich keine Chance. Ich musste gar nicht erst versuchen, nein zu sagen, wenn es um Noè und ihre kleinen Snacks ging.
«Also, wir hören voneinander, okay?» Amallia winkte uns zu, als sie dem Taxifahrer half, unsere Sachen in den Kofferraum zu stapeln und winkte uns dann nochmals zu, als sie einstieg.
Noè seufzte und streckte sich einmal. Sie trug ein beiges Sommerkleid und weiße Turnschuhe. Sie sah wunderschön aus, aber das traute ich mich nicht ihr zu sagen. Ich wollte nicht zu aufdringlich wirken.
«Also, wir brauchen Klamotten für dich.» Ich hätte am liebsten auf geweint, doch sie hatte schon recht. Ich konnte hier nicht mit Jeans und Hoodie rumlaufen. Um mir das Leben etwas einfacher zu machen, zog ich mir diesen über den Kopf und strich mein Shirt darunter glatt.
Man sah die Narben am Oberarm vom Zirkel, aber ich war sicherlich der Einzige, dem diese auffielen, oder?
Es war komisch, nur noch Italienisch zu hören, aber doch irgendwie sehr heimisch. Keine Ahnung, wie ich das sonst beschreiben konnte. Wie musste sich das für Noè anfühlen?
Sie verstand sicherlich um einiges weniger als ich. Ich meine, ich hatte ihr die Basics beigebracht, aber wie viel davon konnte sie jetzt noch? Die Stimmen waren laut, die Hände schwebten. Wir waren definitiv in Italien.
Noè zog mich in einen kleinen Kleiderladen. «Buongiorno», trällerte sie und lief mit mir direkt zu den Hosen. Die etwas kleinere Dame kam sanft lächelnd hinter der Kasse hervor und begrüßte uns. «Ciao a tutti e due. Come posso aiutarvi?» Noè fror ein und drehte sich hilflos zu mir um.
Ich wusste jetzt schon, dass ich meine Zeit hier als Dolmetscher verbringen würde. Ich seufzte und rieb mir übers Gesicht. «Vuole comprarmi dei vestiti. Pantaloncini e magliette.» Die Dame nickte und deutete dann auf die Klamotten vor uns.
Noè nickte nur. Hatte sie überhaupt verstanden, was ich gesagt habe? Die Verkäuferin selbst hatte auch verstanden, dass Noè keinen blassen Schimmer hatte. «Sprechen Sie Deutsch?» Bitte was? Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Was hatte sie gesagt? «Parla tedesco?» Ob wir Deutsch sprechen?
Ich schüttelte meinen Kopf und deutete auf Noè, die es aufgegeben hatte und einfach nur die Jeans-Shorts vor uns anschaute und wahrscheinlich überlegte, welche Größe ich hatte.
«Parla inglese», deutete ich auf Noè und die Frau begann zu lächeln. «Englisch?» Ach, sieh einer an, Noè wachte wieder auf. Sie nickte erfreut.
«Wir haben diese hier, aber auch etwas Engere weiter hinten. Was sucht ihr genau?» Das Englisch der Dame war gebrochen, aber verständlich. Noè schaute kurz zu mir und zuckte dann mit den Schultern. «Eigentlich nur ein oder zwei Shorts und ein paar Shirts. Mehr nicht.»
Sie kannte mich, von meinen Jeans würde sie mich nicht vollkommen losbekommen. Da brauchten wir nicht keine Ahnung wie viele kurzen Hosen zu kaufen.
Ich konnte nicht glauben, dass Noè mir das antat, doch sie schob mich in eine Umkleidekabine und drückte mir drei Hosen an die Brust. «Micina, ich muss die nicht anprobieren. Die passen mir sowieso.» Sie grinste verspielt auf und zuckte mit den Schultern. «Na und? Mach doch einfach. Sicher ist sicher.»
Mir war eh schon schlecht und jetzt packte sie mich noch in so eine dampfende Mikrowelle, doch ich hörte auf sie und zog die Hosen an. Ob ich zufrieden war, spielte, glaube ich, gar keine Rolle. Noè genoss einfach die Tatsache, dass wir normal sein konnten.
Irgendwie war es hier anders. Der Stress hatte uns noch nicht eingeholt. Oder hatte er uns ganz verlassen?
Die letzte Hose war am bequemsten und Noè stand vor mir und richtete den Gurt. Ich sah ihr schweigend zu und blieb an ihren weiß bemalten Fingernägel hängen.
Ganz egal, wie gut mir das hier alles tun würde, ich denke, Noè wird es auch helfen. Sie wirkte bereits ganz anders. Vielleicht war es auch nur das Wetter und die Sonne, doch sie strahlte. «Nehmen wir, oder?» Ich nickte und sah ihr in die Augen.
Die weiße Sonnenbrille auf ihrem Kopf hielt ihr die roten Haare zurück und ihre Wangen wurden rosig, als ich sie einfach nur weiter anschaute. «Was?», fragte sie leise nach. Ich begann sanft zu lächeln und streichelte ihre Wange. «Nichts», flüsterte ich und nahm ihr die Hand von meiner Hose, weil sie vergessen hatte, wie man sich bewegt.
Aber wir kauften zwei von diesen scheiß Hosen und Noè hatte willkürlich nach ein paar großen Shirts gegriffen und diese dazu geworfen. Wenn sie jetzt zufrieden war, war ich das auch, doch sie hielt draußen ruckartig inne. «Badehose! Wir brauchen noch eine Badehose.»
«Das hat doch keine Eile, ich denke nicht, dass-» «Doch wir gehen heute Abend, wenn's dunkel wird, ans Meer. Weißt du, wie verdammt schön das wird?» Ich gab endgültig auf und ließ mir auch noch eine Badehose kaufen. Eine schwarze, um genau zu sein.
Sie wollte mir zuerst eine mit Fischen drauf kaufen, doch irgendwann musste ich dann auch Grenzen setzen.
Das mochte jetzt gemein klingen, doch Noè sah wie eine richtige Touristin aus: Extrem motiviert, blasse Haut und ein, zwei Einkaufstaschen am Unterarm. Obwohl, ich sah da wohl nicht besser aus.
Ich war nicht der Einzige, der das sah, denn, als wir in Richtung Restaurant liefen, hörte ich Pfiffe, die an meine Freundin gerichtet waren. Ich lief etwas hinter ihr, weil sie mit der Karte beschäftigt war. «Ciao, bellissima. Dove stai andando? Possiamo aiutarvi?» Zwei Jungs sprangen von der kleinen Mauer runter und blieben vor ihr stehen.
Sie blieb auch stehen und winkte ab. Und ich, ich kramte nach einer Kippe und schaute mir an, ob Noès Italienischlektionen etwas gebracht hatten oder nicht. Dass diese Idioten sie anmachten, versuchte ich zu übersehen, denn ich war ja hier und konnte jede Sekunde einschreiten.
«Eh, no, grazie. Tutto bene", stotterte sie unsicher. Niedlich. Sie hatte mich im Kleiderladen kochen lassen, jetzt ließ ich sie auch etwas in der Hitze brutzeln. Fair game.
«Sei sicuro di essere solo? Da quanto tempo sei qui?» Dass sie alleine war, stimmte nicht, aber sie hatten mich noch nicht bemerkt. Und wie lange sie hierbleiben würde, hatte die beiden nicht zu interessieren.
Sie begann mir leidzutun, weil sie nicht mehr alles verstand, was sie sagten, weshalb ich mich zu ihr gesellen wollte, doch sie drehte sich eh von alleine zu mir um und blinzelte mir hilflos entgegen. «Da bist du ja! Lass mich doch nicht alleine hier rumstehen! Komm!» Sie langte nach meiner Hand und klammerte sich an ihr fest.
Einer der Typen: «Ah, ha un fidanzato. Americani del cazzo.» Ich lachte leise auf und schüttelte meinen Kopf. Ich wollte eigentlich nichts dazu sagen, weil ja, weil ich ich war, aber irgendwie passte es mir nicht, als Amerikaner abgestempelt zu werden.
Aber ich brauchte auch nichts mehr zu sagen, denn sie hatten bereits kapiert, dass ich sie verstand. «Sei italiano?» Ich zuckte nur mit den Schultern und ließ mich von Noè mitziehen, denn sie hatte genug.
«Das ist Scheiße.» «Was denn?» «Ja, dass ich kein Wort verstehe.» «Das kommt sicher mit der Zeit. Und um es kurzzuhalten: Die Typen wollten sich einen Sommer-Hookup klarmachen. Kann mir gut vorstellen, dass die das hier noch öfters machen, mit den ganzen jungen Touristinnen.»
«Tja, ich lass mich nur von einem klarmachen.» Ich konnte nur meinen Kopf schütteln.
Ich denke, Tropea passt zu den beiden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro