6. Kapitel
Quill, einer der beiden Zwillingsbrüder, hatte mir mein Handy geklaut und las erfreut meine Chats mit Tabea und Vicky durch. Ich konnte nicht anders, als auch darüber zu lachen, denn irgendwie war es echt egal, wie alt, dass man war und wurde, man behielt immer einen Freund bei, der gefühlt noch ein Teenie in der Pubertät war.
Und Quill war derjenige. Sein Bruder Dom war nicht wirklich besser, aber wenigstens etwas erwachsener. Jedoch störte mich Quill nicht. Es tat doch auch mal gut, einen Kindskopf im Freundeskreis zu haben.
«Damn, dein Dario ignoriert dich, was? Habt ihr euch gestritten?» Ich schüttelte den Kopf und griff wieder nach meinem Handy, aber kriegen tat ich es nicht. «Er ist gestresst und er muss mir nicht immer inert Minuten antworten.»
«Ja, aber deine letzten Nachrichten deuten sehr stark darauf hin, dass du dich bei ihm zu entschuldigen versuchst. Du weißt, dass du mir wichtig bist. Ich liebe dich, Lio. Ich will nur das Beste für dich.» Auch Dom las nun nach und ich hatte ja echt nichts zu verbergen, aber ich wusste, dass Dario es nicht schätzen würde, würde er wissen, dass andere Typen nachlesen konnten, was wir miteinander schrieben.
«Komm, hört auf. Meine Beziehung ist wohl immer noch meine Sache, was?» Wesley gab mir recht und versuchte mir zu helfen, doch Dom war selbstverständlicher Weise auf der Seite seines Zwillings. «Du musst halt mal mit anderen Mitteln handelt, Noèchen. Halt sie fest, D.»
Dom packte mich und umarmte mich ganz fest von hinten. So fest, dass ich mich verkrampft an seinen Unterarmen, die über meinen Schlüsselbeinen lagen, festkrallte und versuchte, sie von mir zu lösen. «Dom, du erwürgst mich, man», lachte ich und ich bemerkte gar nicht, dass Quill ein Foto von uns machte und sich dann etwas zurückzog.
Wesley sprang Dom an und half mir aus seinen Pranken. Ich haute ihm verspielt gegen die Stirn und zeigte ihm kichernd den Vogel. Ich wartete immer noch auf den Tag, wo diese Zwillinge mir einen ruhigen Tag gönnen werden. Verdammte Scheiße, jeden Tag waren die auf Unsinn aus.
«Quill, gib mir mein Handy man!» Ich holte zu ihm auf, er war am Ende des Flurs und tippte was herum und ich nutze seine konzentrierte Miene zu meinem Vorteil und riss ihm mein Handy aus der Hand. Meine gute Laune schwand ziemlich schnell, als ich aber realisierte, was Quill getan hatte.
Mein Grinsen zerfiel, mein Herz setzte aus und pure Furcht breitete sich in meiner Brust aus. «Wieso machst du das?!» Quill lachte und zuckte mit den Schultern. «Er ignoriert dich jetzt sicher nicht mehr, wenn er weiß, dass er nicht der Einzige ist.» «Bist du blöd? Du kennst ihn doch gar nicht! Woher willst du wissen, dass er nicht ganz anders reagiert und verdammt nochmal gar nicht mehr auf mich reagieren will?! Willst du mich verarschen?!»
Ich machte keine Faxen und verzog mich in mein Zimmer, während ich Darios Nummer wählte. Quill hatte ein Foto von mir und Dom gemacht und es Lio gesandt, mit der Unterschrift, «Wenn du sie ignorierst, holt sie sich halt bei jemand anderen die Aufmerksamkeit.»
Ich könnte kotzen, so schlecht war mir. Weil ich wusste ganz genau, wie das bei Dario ankam. Er kam nicht ans Handy. Ich wählte die Nummer erneut. Wieder nicht. Man! Ich schrieb ihm hastig, dass das nicht ernst war und ich nichts davon gewusst hatte und vor allem versicherte ich ihm, dass ich mir doch niemals die Aufmerksamkeit von einem anderen Typen holen würde, wenn Dario etwas Zeit für sich allein brauchte.
Aber er las diese Nachrichten nicht mehr. Er hatte Quills Nachricht gelesen und war danach nicht mehr online gekommen. Ich merkte gar nicht, wie mir Tränen über die Wangen tropften und schrak zusammen, als es an meiner Zimmertür klopfte. Wesley kam leise rein. Die Zwillinge trugen beide noch ein Grinsen, bis sie sahen, dass ich heulte.
Ja, es war nämlich nicht witzig. Klar, war es ein guter Witz und eigentlich nichts Schlimmes, aber doch nicht bei Dario. Nicht bei ihm. Solche Scherze waren bei ihm gefährlich. «Er reagiert nicht mehr auf mich. Ich habe Angst um ihn. Man, Quill... Wieso denkst du nicht nach, bevor du so etwas machst?» Er entschuldigte sich leise und kam zu mir.
«Er wird wohl verstehen, dass es ein Scherz war, oder? Ich meine, er weiß, dass du treu bist und so. Ihr vertraut einander doch.» «Ja, klar. Aber wir waren uns heute wegen etwas nicht einig und dann bringst du auch noch den hier. Fuck, Alter. Ich hab' richtig Angst um ihn.» «Wieso denn? Ich meine, der meldet sich sicher wieder.» «Raffst du es nicht, Dom?» Ich schaute beide Brüder an.
Wesley war die Einzige hier, die wusste, dass Dario erkrankt war. Keine Angst, Dario wusste, dass Wesley es wusste. Diesen Fehler würde ich kein zweites Mal begehen. «Er ist fucking Borderliner, man. Vertrauen reicht nicht immer aus. Vor allem nicht bei solcher Scheiße. Ich glaube, ich klapp' gleich zusammen. Was, wenn er austickt oder so?» Ich hielt mir meine Brust und versuchte tief durchzuatmen.
Dario ging noch immer nicht ans Handy und Lex konnte ich auch nicht erreichen. «Okay, jetzt atme durch. Borderliner hin oder her, er ist sicherlich nicht dumm und dreht jetzt am Rad oder so. Schreib' ihm einfach nochmals und ruf' ihn an, bis er rangeht oder so, aber es passiert sicherlich nichts.» Da hatten sie leicht reden. Wussten die denn überhaupt, wie schnell etwas passieren konnte? Ich meine, Wesley wusste es sicherlich und die Jungs hatten die Vorlesungen, welche uns darüber geschult hatten, doch auch besucht.
Ich wählte wieder Lios Nummer, doch wieder keine Antwort. Was jedoch klingelte, war die Haustür und wir alle schraken auf. Wesley ging zur Tür und machte sie auf. Die Jungs und ich standen im Flur vor meinem Zimmer und warteten auf das Feedback meiner Mitbewohnerin, doch sie meinte, man konnte niemanden erkennen, durchs Guckloch.
Doch, als sie die Tür aufmachte, wusste ich direkt, wem die dunkle Statur gehörte und wessen Locken vorne aus der Kapuze hinausschauten. Ich konnte zum ersten Mal seit 15 Minuten wieder durchatmen, weil Dario da war. Er war da. Er stand da. Mit Hoodie und Lederjacke. Unversehrt und auf den ersten Blick ziemlich ruhig sogar.
Er überragte Wesley bei Weitem und schaute eher genervt auf, denn Flur runter und blieb an den Zwillingen hängen, die auch wenig kleiner waren als er. «Komm ruhig rein», murmelte Wes nur, denn sie wusste, wer er war. Schließlich war sein Gesicht keine Unbekanntheit mehr.
Ich konnte nicht einschätzen, was in ihm vorging, als er eintrat und seine grünen Augen sich an mir festbissen. Er zeigte auf mich. «Du pennst bei mir. Komm.» «Was? Lio, ich hab' morgen zwei Vorlesungen.» «Das ist mir gerade sowas von scheißegal», wurde er lauter. Er langte nach meinem Handgelenk und zog mich an sich heran.
Nun lagen seine Augen auf den Zwillingen. Sie räusperten sich unsicher, denn ja... Dario war gerade sehr angsteinflößend. Ihn zu lesen, brauchte man gerade gar nicht zu versuchen. Selbst ich, welche wusste, dass er mir kein Haar krümmen wurde, wusste nicht, woran sie gerade war und was er dachte.
«Es war nur ein Scherz, Dude», versuchte Quill, der die Situation zu lockern versuchte. Dario lachte leise auf und trug ein Schmunzeln. «Es war ein verdammt schlechter Scherz. Werd' erwachsen, du Pappnase.» Abgesehen davon, dass Quill und Dom schon 19 waren und Dario erst 16, fast 17 war. «Chill doch, du weißt doch, dass Noè nicht so ist.»
Dario ignorierte Quill und bat mich leise dazu, mir eine Jacke zu holen und meine Schuhe anzuziehen. Doch Dom wollte es klären und sicherstellen, dass sie es nicht böse gemeint hatten und keinen Stress wollten. Da war ich derselben Meinung, aber Dario hatte wohl keine Lust dazu. «Mach' bitte einfach den Mund zu, bevor ich dir eine reinhaue.»
Dom verstummte und ich bat Dario, sich zusammenzureißen. Er war doch eigentlich gar nicht so und würde sich später nur wieder dafür schämen, die Jungs so angefahren zu haben. Er blieb still und wartete. «Dario, ich will aber nicht bei dir pennen. Ich hab' morgen Schule.» «Noè... Bitte, komm einfach mit.» Man... «Dario-,» «Noè, per favore, vieni! Non ce la faccio in questo momento! Sto per perdere completamente la testa!»
Ich wollte bei meiner Meinung bleiben und hier bleiben, doch als Dario mir ein weiteres Mal in die Augen sah und ich diese kleine Prise an Hilflosigkeit in ihnen auf flimmern sah, gab ich doch nach. Ich tat es nicht gerne, denn die Tage, an denen ich mich meinem Freund immer nur unterwarf und nach seiner Pfeife tanzte, waren eigentlich vorbei.
Aber seine Reaktion jetzt war eh schon untypisch, da breitete sich doch ein eher großer Klumpen in meinem Magen aus. Ein ungutes Gefühl. Dass er hier auftauchte und mich holte... Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem hier.
Ich dachte, Rio würde sich Tage lange nicht mehr bei mir melden, mich ignorieren und mit mir schlussmachen, aber nein. Er drehte den Hahn auf, tauchte hier auf, drohte den Zwillingen und blieb nicht gerade sanft im Umgang. Mein Handgelenk pochte etwas, aber ich ging nicht darauf ein.
«Wes, ich penne bei ihm. Ich weiß nicht, ob ich es in die erste Vorlesung schaffen werde, also warte nicht auf mich. Ich nehm' wahrscheinlich online teil, oder so.» Dario wartete bei der Haustür und fummelte bereits nach einer Kippe. Seine Finger zitterten.
«Ey, man. Ich wollte echt keinen Stress machen oder so», entschuldigte sich Quill bei ihm und die Brüder folgten mir zur Haustür, wo ich mir die Schuhe anzog. Dario sah auf und musterte meinen Kumpel. Er rümpfte seine Nase und zuckte dann mit den Schultern. «Ist okay...» Er schaffte es endlich, eine Kippe hervorzukramen und klemmte sich diese bereits zwischen die Lippen. «Nicht jeder besitzt ein Hirn zum Nachdenken.» Mal typisch Rio, oder...
«Also sind wir cool?» Quill hielt ihm eine Hand hin und hoffte auf Darios Einschlag, doch er ignorierte ihn und sah mich auffordernd an. Ich folgte ihm ins Treppenhaus raus und verabschiedete mich kleinlaut von den anderen.
Dario sagte nur Wesley ciao und langte dann angespannt nach meiner Hand. «Das war nicht okay, Lio.», murmelte ich, als wir unten in die Nacht traten. Er lachte nur leise auf und zündete sich die Zigaretten an. «Das war das scheiß Bild von eben auch nicht.» «Ja, aber du weißt doch, dass ich das niemals machen würde.»
Dario schüttelte den Kopf und zog an der Kippe. So doll, dass er sogar husten musste. Ich langte nach seiner Brust, presste meine Hand darauf und versuchte, ihm Halt zu geben. «Klar, weiß ich das. Aber die sollen dich nicht einfach so anpacken.»
Er wimmelte meine fürsorglichen Hände ab und leitete unseren Weg zum Hotel ein. «Ich dachte zuerst, die missbrauchen dich oder so... Deswegen bin ich so genervt. Stell dir vor, jemand schickt dir ein Bild, in dem er mich gegen meinen Willen festhält oder so.» Okay... Ja...
«Aber Quill und Dom meinten es echt nicht böse. Sie wollten uns beiden auf die Sprünge helfen, weil wir heute etwas brenzlig auseinander sind.» Dario atmete den Rauch aus und schaute mich dabei verwirrt an. «Brenzlig? Was erzählst du denen für Scheiße? Sagst du denen, dass wir nur am Streiten sind, oder was? Stell' mich doch nicht als Arschloch dar, Noè. Man, ey.»
Ich sah den nächsten Lungenzug kommen und nahm Lio kurz davor die Kippe weg und trat sie schnell auf dem Boden aus. «Lass es mit dem Rauchen. Du verträgst es gerade ganz und gar nicht.» «Woher willst du das denn wieder wissen, Frau Doktor Noè?» Dario holte die Packung aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers, doch ich hatte die Schnauze voll.
Dario war überfordert, gestresst, verängstigt und überhaupt nicht okay. Wenn der alte Dario begann durchzuscheinen, war Vorsicht geboten. Ich riss ihm die Packung aus der Hand und sah ihn warnend an. «Bitte lass es.» Seine grünen Augen lauerten auf mir und er gab dann doch seufzend nach.
«Du musst doch auch verstehen, wie das für mich rübergekommen ist, als der Spacko von eben mir dieses Foto geschickt hat.» «Sicher. Tu' ich ja auch. Deswegen habe ich Quill auch zur Sau gemacht und direkt versucht, dich anzurufen.» Dario nickte nur wieder und legte einen Arm um meine Schultern, um mich näher an sich heranzuziehen.
«Falls es dich beruhigt, Dom, der Zwilling, der mich gehalten hat, hat was mit Wesley. Nichts Ernstes, aber etwas.» Dario blieb ruhig und lehnte sich mehr gegen mich, während wir die Straße hinunterspazierten. Die Kapuze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen und er hatte auch mir meine über den Kopf gezwungen.
Ich bekam zu spüren, wie erschöpft er war und schlang einen Arm um seinen Rücken. Zum Hotel war es nicht mehr allzu weit, doch Dario sank mir auf die nächste Parkbank und atmete dort schwerfällig und schwach ein und aus. Ich ging vor ihm in die Hocke, hatte es ihm aber vorher angekündigt.
Seine Augen waren zu, seine Lippen einen Spalt offen. «Dario? Was ist los?» Er hustete trocken und hielt sich die Brust und dann die Stirn. «Mir ist kotzübel.» «Bitte sei ehrlich, wann hattest du zuletzt was Richtiges zum Essen?» «Die paar Pommes von dir...»
Die ganzen Snacks, die ich ihm gestern beim Interview und Meeting zugeschoben hatte, hatte er nicht gegessen? «Und was ist mit den Snacks, die ich dir zugeschoben habe?» Diese aß er wenigstens. Besser als gar nichts. Ich wusste, dass er solche Snacks, wie Salzstangen oder Cracker oder ein Snickers oder Twix, aß. Auch wenn nicht gerne. Aber er tat es. Für mich. «Rico hat die gesehen und mir weggenommen. Zu viel Zucker und Kohlenhydrate.» Was?
Dario hielt sich das Gesicht und zitterte. «Wird dir schwarz vor Augen?» Er nickte ganz schwach und sank zurück in die Rückenlehne der Bank. «Okay, Lio...» Ich hielt seine Wange, denn Panik nahm mich ein. Ich wusste nicht, wie ich ihm gerade helfen konnte, ohne es morgen in den Nachrichten lesen zu müssen.
Ich schaute mich um und erblickte einen 24h Kiosk, der noch immer leuchtete. «Bleib hier. Ich komme gleich wieder.» Ich hatte mein Handy dabei. Ich würde so zahlen können. «Wo gehst du hin? Und wie stellst du dir vor, dass ich so abhauen könnte? Ich seh' keine zwei Meter mehr.» Darios Blick folgte mir, auch wenn nur verschleiert.
«Ich bin nur im Kiosk dort vorne. Ich hole dir etwas.» Er wollte sich weigern und sagte mir, dass er das nicht wollte, doch ich hörte nicht auf ihn. Ich fischte nach einem Proteinriegel, Wasser und einem Sandwich, welches mich knappe 12 Dollar kostete.
Dario war noch immer auf der Bank, doch er lehnte sich über seine Knie und hielt sich den Kopf. «Hier, Lio. Komm, hoch.» Ich hockte mich neben ihn und hielt ihm den Riegel vor die Nase. Ich packte ihn sogar für ihn aus, doch Dario wimmerte bloß leise auf und wimmelte mich ab. Er wollte nicht.
«Dein Kreislauf versagt. Du musst was essen und trinken.» «Non posso.» «Doch, du kannst. Komm.» Ich brach den Riegel in zwei Hälften und langte nach Rios Wange, um ihn zu mir zu holen. «Bitte», flehte ich, denn würde er jetzt nicht essen, war ich dazu gezwungen 911 zu wählen.
Er machte mir Angst. Warum weigerte er sich wieder zu essen? Er hatte doch so große Fortschritte gemacht. Dario zerging förmlich in meiner Hand und behielt die Augen zu. Ich wollte ihn nicht dazu zwingen, doch ich öffnete seine zitternden Lippen mit dem Daumen am Kinn und fütterte ihn. Meine Fresse, was blieb mir denn sonst noch übrig? Ihn zusammenklappen lassen?
Er schüttelte den Kopf, wollte nicht kauen und es wieder ausspucken, doch ich langte nun mit beiden Händen nach seinen Wangen und hielt ihn fest. «Dario, bitte. Ich weiß nicht, was gerade los ist, aber du musst jetzt stark sein und etwas essen. Ich möchte nicht den Krankenwagen rufen müssen.»
Ich ließ ihn nicht mehr los, bis er zu kauen anfing und verkrampft herunterschluckte. Mein Herz brach, als er zu weinen anfing und an einem Schweißausbruch litt. «Ich will nicht. Bitte.» «Ist dir wieder schlecht? Hast du Flashbacks?» Flashbacks an den Geschmack von Waschmittel. Es sah sehr stark danach aus, dass er wieder nur Waschmittel schmecken konnte.
«Bitte, nicht mehr. Ich kann das nicht.» Ich wollte nicht, dass er leiden musste, doch im Moment war mir sein Allgemeinzustand wichtiger als die Übelkeit, die vom Essen kam. Diese würde er überleben. Einen Kollaps eher weniger.
Ich zwang ihn dazu, den Resten vom Riegel zu essen und hielt Dario gegen Ende fest in meinen Armen, denn er hatte so schlimme Flashbacks, dass er sogar auf Italienisch darum bat, von Santiago losgelassen zu werden. So viel konnte ich mittlerweile auch verstehen.
«Hör auf... Ich hab' Angst», murmelte er und ich erinnerte mich an Santiagos Erzählungen, wie er Dario in der Küche an der Theke bestraft hatte und Dario zuvor dieselben Worte von sich gegeben hatte. Im Grunde genommen, hielt ich da gerade einen kleinen Dario in den Armen. Der kleine Dario, der misshandelt, vergiftet und geschlagen wurde.
Er war mental wieder in dieser Küche und wurde von demjenigen verletzt, der ihn zu diesem Zeitpunkt am meisten hätte lieben sollen. «Du bist in Sicherheit, Lio. Ich bin bei dir.» Er gab mir keine Antwort und holte stockend Luft. Sein Herz hämmerte gegen meine Hand. «Trinkst du bitte etwas?» Ich versuchte, ihn aufzurichten und half ihm dann beim Sitzen nach.
Die Flasche an seinen Mund führend, war ich froh zu bemerken, dass er wieder etwas mehr Farbe im Gesicht hatte. «Tut mir leid», meinte er mit kratziger Stimme und nahm einen Schluck Wasser. «Alles gut. Ich denke, wir sollten jetzt zurück ins Hotel und dann musst du dringend was Gescheites oder zumindest dieses Sandwich essen.»
Er quengelte und schüttelte den Kopf. «Ich werde dir helfen, okay?» Seine wässrigen Augen lagen auf meinen und sein verängstigter Blick bohrte sich in meine Angst um sein Wohlbefinden. Aber er nickte dann nur und ließ sich von mir wieder auf die Beine ziehen.
«Ich weiß nicht, wieso es wieder so schlimm ist. Ich wollte es dir doch gar nicht sagen...» «Darüber können wir uns morgen den Kopf zerbrechen, aber jetzt ist erstmals wichtig, dass du was zu dir nimmst und dich wieder besser fühlst.» Aber ich wusste ganz genau, was da passierte.
Ricos Gelaber über die guten und schlechten Nahrungsmittel brachte Darios Weg zu Besserung mit seiner Anorexie nur wieder vollkommen durcheinander. Denn für Dario gab es nicht gut und schlecht. Für ihn war alles schlecht und ihm dann noch ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn er es endlich einmal schaffte, überhaupt etwas zu essen, wirkte sich nicht gut auf seine Psyche und Krankheit aus.
Findet ihr es überraschend, dass er mit der Essstörung und nicht mit den Drogenproblemen zu kämpfen hat?
Ich meine, man hatte eher Angst davor, er würde wegen dem Fame wieder zu den Drogen greifen.
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