46. Kapitel
Der Film war nicht der beste gewesen, doch Ivy war zufrieden. Und betrunken, aber darüber versuchte ich, hinwegzusehen. Aber das war sie schon vor dem Kino gewesen. Ich würde mich da aber nicht einmischen, denn sie hatte es auch nicht getan, als ich vor Monaten noch nicht clean gewesen war.
«Der Film war mittelmäßig, aber ich fand ihn trotzdem irgendwie nice.» «Weil du voll bist», ergänzte ich sie, als wir nach Hause liefen. Von Noè hatte ich nur einmal ein winkendes GIF zugesandt gekommen, mit dem sie mir bestätigt hatte, dass sie noch lebte. Immerhin, aber der Knollen im Magen blieb. Ich wollte bei ihr sein.
Es fühlte sich an, wie eine Trennung. Aber eine Trennung hatten wir ja schon mehr als einmal durch gehabt und ich sollte mittlerweile mit diesem Gefühl klarkommen, aber ja. So war ich nun mal.
Karin raffte beim Eintreten direkt, dass Ivy betrunken war und rief nach Lex, der mich genau musterte. Ich wusste, was er versuchte, herauszufinden. «Ich bin nicht betrunken, Lex. Sie war schon vor dem Kino voll», verdrehte ich meine Augen und kraulte Roxy, die mir ganz sanft Hallo sagte. «Okay, ich gehe nur sicher.» «Natürlich», zischte ich und zog mir meine Schuhe aus.
Um ehrlich zu sein, war ich extrem übermüdet, kam aber nicht zum Schlaf, den ich brauchte, um mich wieder besser zu fühlen. Ich hatte beide, Lex und Karin, bereits um eine Xanax gebeten. Eine halbe, um komplett bei der Wahrheit zu bleiben. Aber keine Chance. Die würden mir keine Xanax geben. Da konnte ich gleich nach Crack oder Heroin fragen. Die Chancen standen da fast gleich.
Karin kümmerte sich um Ivy, welche plötzlich ziemlich emotional wurde und leise zu weinen begann. Man kam es nicht oft zu sehen, doch sie hatte Schmerzen. Verdammt große Schmerzen. Ich nahm es ihr nicht übel, dass sie zum Alkohol gegriffen hatte. Ich meine, ich war genauso gewesen. Gewesen...
Seien wir ehrlich, ich würde es noch immer tun, wenn nicht alles, was ich mir erbaut hatte, auf dem Spiel stehen würde. Ich konnte es mir nicht mehr erlauben. Ich wollte die enttäuschten Blicke nicht ertragen müssen.
Ich war später noch mit Lex in der Küche und er erklärte mir irgendwas über Muskelaufbau und Gewichtszunahme, doch Karin schlich sich leise dazu und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich schrak zusammen und atmete genervt auf. Ich hasste es, wenn man ich erschreckte.
«Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken, aber ja... Wärst du heute so lieb und würdest ab und zu nach Ivy schauen. Sie braucht einen Freund und keine nervige Betreuerin.» Lex schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. «Dario ist Bewohner und nicht Betreuer.»
«Ja, ich weiß doch, doch Ivy braucht jetzt einen Freund. Und ich weiß, dass sie dich mag. Sie traut dir. Das tut sie nicht vielen.» Ich stimmte nur nickend zu. Pennen konnte ich eh nicht. «Roxy schläft sicher auch gerne bei ihr», schlug ich dann vor und sah rüber zu Lex, der diesen Vorschlag besser fand.
Aber ich war dann um 2 Uhr früh so lieb und ging rüber zu Ivy. Wir teilten uns die zweite Etage. Paola und Wayet hatten die erste besetzt, aber die beiden waren ja nicht mehr da und befüllen wollten sie die Zimmer auch nicht mehr so schnell.
Ich klopfte leise an und als ich nur leises Schniefen hören konnte, trat ich vorsichtig ein. Roxy folgte mir auf Samtpfoten und drückte die Schnauze bereits durch den Türspalt. Sie spürte Ivys Aufruhr. Ivy saß verweint in ihrem Bett und schaute mit rinnender Nase zu mir auf. Sie hatte mich nicht erwartet. «Shit, fühle mich geehrt», schnäuzte sie sich die Nase und warf das Nasentuch zum Mülleimer unter ihrem Schreibtisch. Sie verfehlte.
«Dachte, du könntest Roxy gebrauchen.» Diese hatte bereits verstanden, dass sie gebraucht wurde und wartete brav an Ivys Bett, auf ihre Erlaubnis, die Matratze zu bespringen. Sie durfte dann auch und Ivy streichelte sie sanft lächelnd.
«Wie hat Noè es geschafft?» Ich hockte mich an ihren Bettrand und schaute mich einmal in ihrem Zimmer um. «Was?» «Ja, der Tod ihrer Mutter. Wie hat sie es geschafft, nicht daran kaputtzugehen?» Stimmt, Ivys Mutter war an ihrer Drogensucht gestorben.
«Sie ist daran kaputtgegangen. Sie ist kaputt.» Auch, wenn man es auf den ersten Blick nicht sehen konnte. Doch wer ließ sich schon auf einen kranken, gefährlichen Borderliner ein und machte alles dafür, dass er sie nicht auch noch verlassen würde? Ja, nur eine Person mit großen Verlustängsten. Lustig, wenn man bedenkt, dass wir beide sie mittlerweile hatten, sie aber unterschiedlich verkörperten.
«Ich weiß nicht, wie sie es schafft. Ehrlich. Ich habe keine Ahnung, wie sie da so gut durchgekommen ist, aber es tut ihr weh. Jeden Tag. Ich sehe jeden Tag, wie sich gewisser Schmerz in ihren Augen bemerkbar macht. Aber Noè nimmt ihn wahr. Sie akzeptiert ihn und lässt sich nicht von ihm kleinkriegen. Und natürlich ist sie nicht allein.»
Ivy hörte mir zuerst nur zu, bis sie mir eine Frage stellte, die uns beide stumm schlug. «Und wieso können wir zwei das nicht auch so?» Ja, wieso hatte Noè es hinbekommen und war nicht auf die falsche Bahn geraten, während Ivy und ich uns auf der entgegengesetzten Bahn befanden und verloren durch die Tage stolperten?
«Wahrscheinlich, weil wir damals allein waren, als wir diese Hilfe und Führung zum ersten Mal gebraucht hätten.» Ja, das musste es sein. Mir hatte die mütterliche oder väterliche Hand auf dem Rücken gefehlt, als ich in die falsche Richtung taumelte. Noè hatte ihren Dad, ihre Großeltern und Freunde und einfach so ein großes, starkes Herz.
«Krass... Ich könnte schon nur ein bisschen von ihrer Kraft brauchen. Dann wär sicher alles viel einfacher. Hab' gestern meinen Vater gesehen und das ging richtig falsch. Musste mir dann einfach die Birne wegsaufen.» «Kenn ich...» Ivy musterte mich und meine bedrückte Miene. «Du pennst nicht mehr, was?» «Wenn du mir jetzt anbietest, hier zu pennen, bin ich raus.» Sie lachte leise auf und schüttelte den Kopf.
Sie war immer noch ziemlich betrunken und kuschelte sich zusammen mit Roxy tiefer in ihr Bett. Der Hund würde wohl für heute Nacht hierbleiben. Damit konnte ich mehr oder weniger leben. «Hast'e keine Xan bekommen?» Ich seufzte und rieb mir meine ganz trockenen Augen. «Nope.»
Ivy gähnte und streichelte über Roxys schwarzen Kopf. Sie blinzelte sie fürsorglich an. «Du kannst eine halbe von mir haben. Meine Medikamente sind dort im Schränkchen.» Ich sah auf und fragte mich, ob ich mich verhört hatte, doch Ivy hatte das tatsächlich gesagt. «Aber nur eine halbe, Dario», ermahnte sie mich, als ich zögerlich aufstand und zum Schränkchen ging.
Eine Person, die nicht drogenabhängig war, konnte nicht verstehen, wie angsteinflößend es war, einen Schrank zu öffnen und ein Buffet vor sich zu haben, ohne gleich so zuzuschlagen, dass man am nächsten Tag mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr aufstehen würde.
Ich biss mir verspannt auf die Unterlippe und langte nach den Xanax. Den Deckel aufdrehend nahm ich eine raus und schaute sie einige Sekunden nur an. Xanax' hatte ich seit meinem Entzug nicht mehr angerührt. Sie waren meine bevorzugte Droge gewesen. Drei Bars von der, ein Joint und darauf Alkohol. Danach hatte meine Welt immer besser und vor allem friedlicher ausgesehen. Diese Menge und Kombination würde mich heute komplett flachlegen, wenn nicht sogar töten.
Ich schluckte schwer und brach die Tablette, wie versprochen in zwei. Nur eine halbe, Dario. Ich machte die Dose wieder zu und bedankte mich leise bei Ivy, welche aber eingeschlafen war. Sie und Roxy sahen eigentlich ganz süß aus.
Eigentlich-, Also-, Ich würde morgen sicher auch wieder eine halbe brauchen. Und übermorgen definitiv auch. Ich brauchte den Schlaf. Ivy wäre mir sicher nicht böse, wenn ich mir einen kleinen Vorrat für die nächsten Tage nehmen würde, oder? Nein, natürlich nicht. Sie hatte mir ja eine halbe pro Nacht angeboten.
Ich schluckte die eine Hälfte rasch und bekam sie kaum runter, aber es ging. Die andere Hälfte verbarg ich in meiner Hosentasche. Ich erlaubte mir, noch eine weitere Tablette mitzunehmen und tätschelte dann noch Roxys Kopf, bevor ich die Zimmertür hinter mir schloss und zurück in mein Zimmer ging.
Ich packte die Tabletten zu meinen Medikamenten und zog mir meinen Pullover über den Kopf. Für das, dass wir nur scheiß Wetter hatten, war es nachts doch komisch warm. Xanax brauchte meistens knappe 30 Minuten, wenn man sie wie vorgeschrieben nahm.
Ich warf mich ins Bett und zückte mein Handy. Von Noè hatte ich nach diesem GIF nichts mehr gehört. Doch ihr Instagram leuchtete auf, weshalb ich nachschaute und ihre Storys durch schaute. Ich denke, die große da war Wesley. Neben ihr und Noè lachten Zwillinge in die Kamera. Einer von ihnen rauchte, aber das war mein Mädchen sicherlich schon gewohnt.
Sie lachte im Foto. Nein, sie strahlte und ich realisierte, dass sie vor einem vollen Restaurant standen. Wenigstens hatte sie eine gute Zeit. Ich hätte zwar gern mehr als ein GIF bekommen, aber ja. Sie hatte Wesley und die anderen verlinkt, weshalb ich auf deren Profile ging.
Die Zwillinge kamen aus Chicago. Einer von ihnen hatte ein Video in der Story, auf dem sie im Restaurant mit den Tischkarten ein Haus zu bauen versuchten. Noè schimpfte mit Wesley, weil diese dazwischen funken wollte. Schon krass. Den Unterschied, meine ich. Noè konnte endlich leben und ich musste mir eine halbe Xanax reinhauen, um zu pennen.
Meine Lieder wurden aber tatsächlich schwerer. Sie half und ich legte mein Handy weg. Ich war müde. Doch mein Weg zum Schlaf war noch weit, denn jetzt nahmen mich die Gedanken ein. Diese dummen Sorgen. Die Angst, dass einer dieser Zwillinge nicht akzeptieren konnte, dass Noè vergeben war. Oder vielleicht würde ihr das nach gewisser Zeit auch egal werden.
Ich gab immer vor, dass ich Noè endlos vertraute, doch ich tat es nicht. Ich wollte es. Ich wollte ihr vertrauen, doch ich konnte nicht. Ich versuchte es echt, aber ich fiel immer zurück ins Misstrauen. So war ich hier oben im Kopf halt verkabelt. Sie könnte meine Ehefrau und schon 30 Jahre an meiner Seite sein, doch dies würde mich niemals beruhigen oder mir versichern, dass sie bleiben würde.
Ich rieb mir meine Augen und schluckte schwer. Obwohl die Xan unten war, fühlte es sich so an, als würde sie in meinem Hals feststecken. Er machte zu und drängte mir Tränen in die schweren Augen. Nicht schon wieder. Ich konnte förmlich spüren, wie mich meine Gefühle in die Tiefe zogen. Ich verspürte alles. Es riss mich in die Knie und ich hockte mich nachdenklich auf.
Das Atmen wurde schwer, aber was war daran neu? Nichts. Es war immer das Gleiche. Nur lag zum ersten Mal seit Monaten ein Ausweg auf meinem Schreibtisch bei meinen beschrifteten Dosen. Ich rümpfte mir meine Nase und starrte Löcher in die Tabletten, die ich eben von Ivy geholt hatte. Nein, Dario. Einfach nur, nein.
Ich schüttelte meinen Kopf und drehte mich um. Weg von Tabletten. Ich zog die Decke über mich drüber und rieb mir die Tränen aus den Augen. Einfach nur schlafen, Dario. Denk' nicht daran. Aber sowas wie nicht denken, gab es bei mir nicht. Ich griff nach meinem Handy und wählte Noès Nummer. Sie schlief aber schon und ich versuchte es bei meiner Schwester, die auch nicht ranging.
Ich tat also etwas, was ich eigentlich nicht tun wollte, doch ich wählte Moms Nummer. Und sie, genau sie, ging ganz verschlafen, aber dennoch besorgt ans Handy. «Dario?» Sie hatte eine ganz müde Stimme und ich hörte ihre Bettdecke rascheln. «Was machst du, wenn du richtig Bock auf Drogen hast?», fragte ich einfach.
«Hilfe holen», gähnte sie. «Wieso? Wo bist du, Dario?» «In meinem Zimmer. Was sonst noch?» «Nimm eine Dusche, kaltes Wasser hilft.» Wieso erinnerten mich diese Vorschläge so an Noè? Ich bat um eine Alternative, doch es kam keine Antwort mehr. Wieso gab sie mir keine Antwort mehr? Hatte sie aufgelegt? Wieso klebten meine Wangen und zitterten meine Finger und meine Unterlippe? Warum gab sie mir keine anderen Lösungen?
Erst dann realisierte ich, dass ich die Nummer niemals gewählt hatte. In meinem Kopf, ja, aber nicht in echt. Mein Handy lag besitzerlos und mit dem Kontaktbuch offen, neben meinem Kopfkissen und ich stand vor meinen Medikamenten. Die Xanax waren weg.
Ich suchte nach ihnen, fragte mich, was passiert war und wieso ich sie nicht mehr finden konnte, bis sich wieder dieses Gefühl in meinem Hals bemerkbar machte. So als würden sie in meinem Hals feststecken und dann sank mir ein, dass ich sie genommen hatte. Ich berührte meine Lippen und schluckte verkrampft runter.
Nein, nein, nein. Ich wollte doch um Hilfe bitten. Wieso hatte ich nach ihnen gegriffen? Wieso hatte ich sie genommen? Nein... Ich hockte mich überfordert zurück aufs Bett und hielt meine Knie an der Brust. Mein Blick lag auf dem Boden vor mir. Und wie würde ich das Lex und Kelly beibringen? Musste ich zurück in die Klinik? Wieso konnte ich diesem unterbewussten Drang kaum widerstehen?
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich komplett verweint war. Ich hatte eine Episode gehabt. Ich rieb mir die Augen trocken und schaute rüber zu meinem Handy. Ich hatte gezögert und war gescheitert. Ich hatte Mom nicht um Hilfe gebeten. Noè hatte ich auch nicht angerufen. Giorgia auch nicht. Ich hatte nichts von dem versucht, sondern es nur in meinem Kopf getan.
Ich rieb mir meine Stirn, denn es bildeten sich Schweißperlen auf ihr. Mir wurde noch wärmer und schlechter. Meine Arme und Beine wurden schwer und die Müdigkeit umgoss mich nicht mehr nur, nein, sie packte mich und zog mich tief in die Nacht.
Ich hustete trocken und langte nach meiner Decke und meinem Kissen. Schlafen. Ja, ich wollte schlafen. Endlich konnte ich wieder einmal schlafen. Der Rest war egal. Alles, was zählte war, dass ich wieder Atmen und Schlafen konnte. Mehr galt nicht. Die Leere füllte sich langsam mit einem warmen Kribbeln auf und ich atmete tief und entspannt durch. Das... Ich hatte es vermisst. Nichts kam an dieses Gefühl heran. Rein gar nichts.
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