39. Kapitel
Ich konnte nicht einmal für meine Schwester da sein, weil ich vor lauter Eile und Panik meine Medikamente in New York liegenlassen hatte. Ich musste meine Schwester im Stich lassen, weil ich ein vergesslicher Vollidiot war. Und Noè opferte ihr Studium, um das nun mit Gio zu klären, obwohl ich derjenige sein müsste, der dabei sein sollte. Ich. Der Bruder. Gios Familie.
Aber nein. Ich hatte es verkackt. Standard bei mir, was? Schließlich konnte ich ja nichts, außer vielleicht ein bisschen singen. Mehr hatte ich aber nicht auf Lager. Zwischenmenschlich war ich nichts wert. Und Noè hatte inzwischen zu Gesicht bekommen, dass ich noch genauso ein Opfer war, wie vor unserer Trennung. Ich hatte mich kein bisschen verbessert, weder noch Stabilität gefunden. Ich hatte bloß gelernt, es besser zu vertuschen.
Aus dem Flugzeugfenster blickend, sah ich, wie der Jet langsam einfuhr. Ich durfte mich wieder abschnallen und zog mir meine Stoffmaske an. Lex hatte mir versichert, er würde mich mit Kelly hier holen kommen, doch ich wollte gar nicht mehr aussteigen. Mir die Augen reibend, packte ich mein Handgepäck zusammen und hievte mich schwer seufzend aus dem Sitz.
Gerade bei so einem intimen und emotionalem Thema wie einer Abtreibung brauchte man doch Unterstützung. Gio brauchte mich und ich musste sie wegen paar Tabletten zurücklassen, weil ich ohne die nicht leben konnte. Kapuze hoch und durch, dachte ich mir, als ich den Jet verließ und vom Personal in eine abweichende Abzweigung geführt wurde, damit ich nicht von Fremden und Paparazzi erkannt werden konnte.
Beim privaten Gepäckabholpunkt stand schon Lex. Das glaubte ich, zumindest. Ich sah alles verschwommen und wollte meinen Kopf nicht weiter anheben. Die Umgebung rauschte und ich hatte Mühe, mich zu orientieren, doch Lex kam auf mich zu. Seine Stimme kam dumpf zu mir hindurch. Ich sah vorsichtig auf. «Hey, wie war der Flug?» Ich zuckte mit den Schultern.
Mein Betreuer und mittlerweile großer Bruder musterte mich einige Sekunden, bis er mich bloß fest in die Arme zog. «Das wird wieder, ja?» Darauf hatte ich keine Antwort. Und als mich Lex losließ, stand Kelly auf einmal neben uns. Sie hatte meine Reisetasche bereits geholt. «Und Capo? Alles geregelt in Chicago?» Wieder nur ein Schulterzucken.
«Dein Vater wartet im Auto. Er hat Roxy dabei. Kopf runter, ja? Wir müssen schauen, dass du unbemerkt bleibst.» Ich nickte und griff mich am Strang meines Rucksacks fest. Ich blieb gebückt und folgte Lex, der mich etwas abschirmte. Kellys Hand auf meiner Schulter spürte ich kaum und draußen beim Auto würde ich direkt auf die Rückbank geschoben.
Roxys Winseln kam vom Kofferraum aus und sie wollte sich über die Rücksitze nach vorne quetschen, als sie mich riechen konnte. «Dario?» Ich sah auf. Santiago saß hinter dem Steuer. Was machte er hier in New York? Seine Augen lauerten auf mir und während Lex sich neben mich setzte, schwang Kelly sich vorne in den Beifahrersitz.
Die Welt zog an mir vorbei und ich schaffte es nicht, wahrzunehmen, was genau abging. Ich hatte das Gefühl festzusitzen. Meine Füße waren schwer. Meine Hände und Fingerspitzen taten weh. «Wir sollten direkt zum Arzt mit ihm.» «Denkst du, Tiago?» Ich hörte nur verschwommene Stimmen. «Ja, er sieht nicht gut aus. Ich kenn' den Blick. Und er hat die Medikamente bald 5 Tage nicht genommen.»
«Ich hatte aber bereits mit einem Arzt Kontakt und der meinte, wir sollten einfach normal weiter machen. Er soll morgen einfach wieder anfangen, die Tabletten zu nehmen. Er darf einfach ja keine doppelten oder dreifachen Mengen einnehmen, um das wieder wettzumachen, was er nicht genommen hat.» Ich rutschte an eine große Schulter und schaute dabei runter in den Fußraum. Ich konnte Lex seufzen spüren. «Vertrau' mir, Kelly. Arzt.»
«Abe-» «Ja, normal weitermachen stimmt, aber nur, wenn man keinen allzu großen Unterschied bemerkt. Sorry, aber Dario sieht zum Schreien schrecklich aus.» Dad und Kelly redeten angeregt über irgendwas, doch ich konnte kein Wort verstehen. Noch immer nicht.
Wen ich aber einigermaßen hören konnte, war Lex. «Rede mit mir, Dario.» Aber reden war doch viel zu anstrengend. «Bin müde», meinte ich nur leise, um mich von dem Ganzen zu drücken. «Dein Vater will, dass dich ein Arzt kurz anschaut. Wäre das okay?» Meinetwegen... Ich zuckte nur wieder mit den Schultern und zog die Kapuze tiefer in mein Gesicht. Mir war das doch scheißegal, wer mich anschauen wollte.
«Dario, puoi dirmi come ti senti?» Dad... Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen. «Ja, definitiv! Kelly, wir fahren zum Arzt! Keine Widerrede!» Jetzt langte jemand nach meiner Hand. Kelly hatte sich nach hinten zu mir und Lex gelehnt. «Hey», kam es ganz sanft von ihr und sie war die Einzige, die sehen konnte, wie glasig meine Augen wurden. Ich würde am liebsten auf der Stelle zu weinen anfangen.
Das war das Einzige, was ich von früher vermisste; mein damaliges Talent dafür, meine Tränen und allgemein Gefühle unterdrücken zu können. Früher hätte ich doch niemals meine glasigen Augen offenbart oder überhaupt welche bekommen. Es war einfacher gewesen, als ich das noch unterdrücken konnte und nicht hatte fühlen müssen.
Mittlerweile konnte ich das nicht mehr so gut. Ich konnte nicht verstecken, wie es mir ging. Oder vielleicht war es nun auch einfach so, dass die Leute um mich herum mich besser kannten und auch durch meine tauben und gefühllosen Masken hindurchsehen konnten. So wie Noè es schon von Anfang an hatte können.
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und versuchte, meinen bebenden Oberkörper und dessen stockende Atmung zu kontrollieren. Ich war nicht nur ein scheiß Bruder oder ein scheiß Freund, nein. Ich war auch ein verdammt schlechter Schauspieler geworden. Und leider Gottes war ich auch ein verdammt schlechtes Vorbild für die Welt da draußen.
Klar, hatte ich es nicht einfach, aber die Leute um mich herum konnten das mehr oder weniger verstehen und mir mit Verständnis entgegenkommen. Wenn ich aber irgendwann mit der ganzen Sache an die Öffentlichkeit musste, würde das dann nicht mehr so sein. Schließlich hatte ich auch junge Fans. Und ich wusste, dass ich an die Öffentlichkeit musste. Ich war mir bewusst darüber, dass ich so eine Krankheit und meine täglichen Probleme nicht ewig verstecken konnte.
Die Paparazzi waren mir dicht auf den Fersen, Fans hatten die Bedeutungen meiner Tattoos schon lange entziffert und verdammt, ich hatte auch schon welche vor mir stehen gehabt, die mich umarmt, ihre Hand über meine Armbänder gelegt und mir gesagt hatten, dass sie wussten, wie es mir ging und dass ich stark war und bleiben musste.
Es gab verständnisvolle Leute, aber dann gab es auch diese, die in mir lediglich einen jungen Star sahen, der abgehoben schien oder etwas mit dem Fame überfordert war. TMZ liebte es, mich durch den Dreck zu ziehen. Man redete auf Podcasts über mich, man kritisierte mein Schweigen, mochte es dann aber auch nicht, wenn ich mein Schweigen mit meinen Songtexten brach. Man war wütend auf mich, wenn ich Noè bei mir hatte. Man war aber auch genervt von mir, wenn ich sie versteckte oder nicht über sie reden wollte. Ich meine, man konnte es niemandem recht machen und ich wusste einfach, dass das etwas an meiner Karriere war, was mich in den Ruin treiben würde.
Ich lehnte mich mehr gegen Lex' Schulter und seufzte, «Lex?» Er sagte ganz leise ja. Kelly und Santiago redeten vorne miteinander. «Hmm?» Er lehnte sich näher in mich heran. «Es geht mir nicht gut.» «Deswegen gehen wir jetzt direkt zu einem Arzt, der dir hilft.» «Ein Arzt kann mir da doch nicht helfen. Konnte er noch nie. Das Einzige, was der mir gibt, ist etwas zum Schlafen, damit ich ruhig bin.» «Ja, das ist leider auch die einzig mögliche Hilfe im Moment.»
«Ich brauch' aber nichts zum Schlafen. Ich brauche etwas, dass es stoppt. I-Ich könnte gerade... Ich würde mir am liebsten den Kopf irgendwo einschlagen. Er gibt einfach keine Ruhe. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich-, Ich-, Es hört einfach nicht mehr auf.» Kellys Hand tauchte vor mir auf. Sie langte nach meiner Hand, aber ertönen tat die Stimme meines Vaters. «Es geht dir gerade schlechter als sonst, weil du deine Medikamente nicht nehmen konntest. Das hat dich aus dem Rhythmus und Gleichgewicht gebracht. Du musst dich da jetzt durchbeißen, ja? Ich weiß, es ist nicht schön und du würdest dich am liebsten umbringen, aber ich weiß auch, dass du da locker durchkommst, bis wir dir wieder helfen konnten.»
Ich schloss meine Augen. «Ich verdiene diese scheiß Tabletten nicht mal. Ich sollte sie nicht nehmen dürfen.» «Doch, tust du. Dario, du verdienst Unterstützung.» Ich wollte nicht mehr reden und wandte mich ans Fenster, um nach draußen zu schauen. Vielleicht verdiente ich Hilfe, aber es fühlte sich nicht so an. Ich wartete im Auto, als Kelly hineinging und versuchte, mich anzumelden.
Lex rief Barbara an und Santiago saß genauso schweigend im Auto, wie ich es tat. Ich wagte es nicht, nach vorne zu ihm zu schauen. «Deine Schwester ist schwanger?» Hatte Lex es ihm gesagt? Ich hatte doch explizit gesagt, dass das niemand erfahren durfte. «Nein.» «Dario, per favore... Du kannst ehrlich sein. Ich sage es niemandem.»
«Weiß Kelly es?» «Nein, Marco hat es mir gesagt, als er mir an den Kopf geworfen hat, dass du Noè mit nach Chicago geschleppt hast.» Ich verdrehte die Augen. «Ich hasse dieses verdammte Arschloch.» «Marco?» Dad drehte sich nun zu mir um. «Wer denn sonst?» «Warum?» Das ging meinen Vater einen verfickten Scheißdreck an.
Und ich wusste nicht, ob ich es über mich bringen und stark genug bleiben würde, mit ihm darüber zu reden. «Weil er ein Problem mit mir hat. Was denkst du, warum Noè mit mir schlussgemacht hat? Seinetwegen. Dass sie jetzt wieder bei mir ist, geht gegen ihn und seinen Zukunftsplan für sein Töchterchen. Alles, was sie macht und ihm nicht passt, ist meine Schuld.»
Santiago seufzte und schaute wieder nach vorne aus der Frontscheibe. «Amilias Vater war genauso... Und er hatte schlussendlich recht.» «Das hat Marco auch. Noè verdient die Welt.» «Nein, Dario. Bei mir hatte er recht, aber Marco bei dir-, Nein.»
«Ach, halt deine depressive Borderliner-Fresse. Wenn Marco bei mir nicht recht hat, hatte es Amilias Vater bei dir auch nicht.» Santiago sah mich schockiert an. Er brauchte einige Sekunden, bis er mental aufgeholt hatte. «Depressive Borderliner-Fresse?», fragte er perplex nach. «Ja? Denkst du, ich kenn' das heulende Gelaber nicht? Bin selbst Meister darin; anderen gut zureden und mich selbst durch den Dreck ziehen. Mein größtes Talent. Den Scheiß brauchst du bei mir nicht zu bringen.»
Seine Augen fanden meine. «Ich sage es so, Dario. Marco ist wedernoch dein Feind oder Freund. Aber ist der Vater von Noè und gesunder Respekt gegenüber einander wird wichtig sein, wenn du mit Noè zusammenbleiben möchtest.» Ich seufzte und rieb mir meine müden Augen.
Lex machte die Tür auf und meinte, «Barbara weiß Bescheid und wünscht dir ganz viel Kraft.» Kelly stand beim Hintereingang und deutete mir, dass ich kommen konnte. Kapuze hoch, Maske über und- und zögern. Man, ich wollte das nicht. Es war wieder wie früher. Ab ins Krankenhaus, wenn's mir scheiße ging. Ich hasste diesen Rhythmus, diese Routine.
Doch Santiago schob mich von hinten an und schützte mich, zusammen mit Lex, vor wachsamen und neugierigen Augen. Ich tendierte dazu, in solchen Situation einfach abzuschalten. Nicht auf positive Art und Weise. Ich wollte es einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Fragen beantworten, Leute anlügen, ihnen schlimme Symptome verheimlichen und dann Beruhigungsmittel einnehmen. Auch, wenn ich es in diesem Fall gar nicht brauchen würde. Ich war ruhig, aber hungrig. Hungrig nach einem High, welches mir dieses verschriebene Beruhigungsmittel geben konnte.
Mit dem warmen und erfüllten Gefühl im Bauch, rief ich Noè an. Ich war gerade allein in einem Krankenzimmer, da Kelly und Lex beim anwesenden Psychologen waren und Santiago Roxy zum Hotel fuhr. Okay, ich war nicht ganz allein. Da saß eine Krankenschwester, welche mich zu betreuen hatte. Ich kannte es. Dieses Prozedere. So stellte man in einer psychischen Krise sicher, dass der Betroffene sich zwischen den Gesprächen und Hilfen nichts antun würde.
«Lio, hi.» Noè klang aufgestellt, was mich denken ließ, dass es gut gehen musste mit meiner Schwester. «Hi...» Ich klang etwas neben den Schuhen, was ihr natürlich direkt auffiel. «Wo bist du? Bist du gut angekommen?» Ich rieb mir meine Nasenbrücke und versuchte, die richtigen englischen Worte richtig anzureihen. «Krankenhaus. Mit Kelly, Lex und Dad.» «Dad? Deiner oder meiner?» «Meiner...»
«Wie geht es dir?» «Bestens. Bin nur so zum Spaß im Krankenhaus. Hab' auch nur für Shits and Giggels Beruhigungsmittel gekriegt.» Noè hörte die Ironie raus und lachte leise, aber mit einer gewissen Unsicherheit, auf. «Schau, dass du wieder fit wirst. Gio geht's gut und wir kriegen das schon hin, ja?»
«Mhm. Hab' halt einfach schlechtes Gewissen.» «Weil du zurückmusstest?» «Ja. Wär' ich nicht so blöd gewesen und hätte das Zeug hier in New York vergessen, würde ich jetzt nicht wie ein Krüppel hier im Krankenhaus sitzen, sondern meiner Schwester helfen und beistehen können.»
Ich konnte Gios Stimme im Hintergrund hören und Sekunden später war sie nicht mehr nur im Hintergrund. Sie hatte Noè das Handy weggenommen. «Es ist okay, Rio. Mach' dir ja keine Sorgen. Noè ist bei mir und du schaust jetzt, dass du wieder ins Gleichgewicht kommst, okay?» Ich versuchte es. «Wenn dein Spast von Ex aber nochmals auftaucht, gibst du mir Bescheid, ja? Dann nehm' ich den nächsten Flieger zu euch.» «Ich komme schon allein mit Vincent klar. Pass auf dich auf, Fratellino.»
Ich legte auf und sah zur Schwester. Sie tippte am Handy rum. Ich war high, aber nicht blöd. «Und? Finden es deine Freunde cool, dass du mich betreuen musst?» Sie schrak auf. «Was?» «Ja, denkst du, ich raff' nicht, was du machst?» Sie ließ ihr Handy zurück in ihre Stoffhose gleiten und sah mich entschuldigend an.
«Es tut mir leid, aber-, Sorry, aber ja...» So viele Worte hintereinander angereiht, aber keine sinnvolle Entschuldigung kam dabei heraus. Ich hielt ihr bloß auffordernd meine Hand hin. Sie blieb verwirrt, bis sie kapierte, was ich wollte. Sie gab' mir das entsperrte Handy.
Ich ging die letzten Fotos ihrer Galerie durch und löschte die, die sie eben von mir gemacht hatte. Ich ging die Chats durch, in denen sie erwähnt hatte, dass ich im Krankenhaus war und tippte hinterher, dass sie mich mit jemandem verwechselt hatte. Und auf Instagram und Snapchat löschte ich die Story, welche sie gepostet hatte.
«Tut mir wirklich leid.» «Alles gut...», seufzte ich und gab ihr das Handy zurück. «Kannst sicherlich verstehen, wieso das hier niemand wissen soll.» «Ja... Ganz ehrlich, deine Fans wissen bereits, dass es dir nicht gut geht.» «Ist bei meiner Fratze und meinen Launen auch nicht schwer zu übersehen.»
«Ich-, Ich finde einfach, also-,» Was? Sie begann zu zögern, als sie auf meine Augen traf. Ihr Kehlkopf sprang an. «Warum versteckst du es? Du könntest vielen auch helfen, weißt du? Das Ziel ist, dieses Tabu-Thema den Leuten näherzubringen und ich finde, als eine Person in der Öffentlichkeit-,» Sie sprach dasselbe an, wie Barbara auch schon.
«Man sollte offener über die Psyche sprechen, ja, aber ich sehe keinen Sinn dahinter, meine persönlichen Probleme mit der Öffentlichkeit zu teilen.» «Wieso?» «Weil man für sowas bereit sein muss. Man übernimmt eine Verantwortung, die ich nicht übernehmen kann und will.» Sie dachte nach. «Was für eine Verantwortung?» «Wenn man einmal Transparenz zeigt, wird sie immer wieder verlangt. Die Verantwortung, ehrlich zu sein und bleiben und den eigenen Worten treu zu bleiben.»
«Worüber müsstest du denn ehrlich bleiben? Was verheimlichst du denn?» Jetzt musste ich schmunzeln. Sie verpackte es besser, als mancher Journalist es tun würde. «Das geht dich nichts an.» «Fair enough. Aber-,»
«Und ich nehme an, deinen Boss geht es auch nichts an, was du gerade eben versucht hast, ja? Ist es nicht verboten, im Dienst vertrauliche Daten aufzunehmen und öffentlich weiterzugeben?» Dreist, ich weiß, aber irgendwie musste ich sicherstellen, dass das hier nicht an die Öffentlichkeit gelangen würde. Deshalb gab ich auch Lex Bescheid, als man mich wieder freigab, damit er das regeln konnte.
Ich durfte gegen 23 Uhr zurück ins Hotel und fragte mich dann vor der Tür, wie lange Santiago, denn noch bei mir bleiben wollte. Er folgte mir sogar ins Zimmer. «Wer hat dich überhaupt eingeladen und hergebeten? Ich meine-,» «Ich mich selbst.» Ach? «Dann mach' dich mal daran, dich auch wieder selbst auszuladen und rauszuwerfen. Du bist hier nicht erwünscht.»
«Dario, ich bin hier, weil ich dir etwas geben wollte, nur weiß ich jetzt nicht mehr, ob der richtige Zeitpunkt dafür ist.» Er hielt plötzlich einen Brief in der Hand. Ich stockte und erkannte eine französische Frankierung. «Kelly meinte, dir würde das im Moment nicht guttun, aber ich finde, geben kann ich ihn dir trotzdem. Das ist ein Brief. Von Amilia.» Dad schluckte verkrampft runter. «Der ist nicht für dich?» «Nein, er ist an dich gerichtet. Ich habe ein Telefon gekriegt.»
Ich nahm ihn zögerlich entgegen. «Du hast ihn gelesen?» «Nein und ich werde mich jetzt auch wieder vom Acker machen. Aber-, ja, Amilia-, keine Ahnung. Ich lasse dich selbst beurteilen, was du hiervon hältst.» Und als Dad weg war, zögerte ich nicht lange, denn was konnte mir dieser Brief auch antun? Amilia war nur ein ganz kleiner Teil in meiner Kindheit gewesen. Sie hatte Dad und mich verlassen. Was in aller Welt würde sie nun also zu sagen haben?
Ich konnte mich kaum mehr an sie erinnern. Alles, was ich noch wusste, war, dass Dads Frust und Wut infolge ihrem Gehen auf mich niedergeprasselt hatten. Mehr nicht. Das Erste, was ich in der Hand hielt, war ein Foto. Fuck... Ich war zu high für das.
Ich erkannte den Raum wider. Rosie im Hintergrund. Die Kinderstation im Marblehead-Krankenhaus. Fiona stand neben Dad und lächelte zu ihm auf und er... Er hielt einen Jungen in seinen Armen, der sich fest an ihn krallte. Roter Schimmer in den schwarzen Locken, ein Pflaster auf der Stirn.
Ich nahm das nächste hervor. Ein Schaumbad, in dem ein Schwan trieb. Mittendrin nasse Locken und Dad, der vor der Wanne kniete und dem Jungen den Schaum aus den Augen strich. Das nächste; der kleine Junge im Hochstuhl in Santiagos Küche. Seine Finger nach seinem Vater ausgestreckt, ein Grinsen auf seinen Lippen.
Mein Herz raste und ich musste mich aufs Bett setzen. Noch ein Foto. Das nun etwas ältere Kind auf der alten Station im Garten hinten auf der Schaukel u- und daneben der Vater mit einer rothaarigen Frau. Auf dem Foto... Die beiden schienen nicht sehr zufrieden miteinander zu sein.
Ich hatte nicht gewusst, dass es ein Foto gab, wo wir alle drei drauf waren. Hatte Amilia diese Fotos alle heimlich gemacht? Und warum konnte ich mich an keins erinnern? Wann zum Teufel hatten Mom und Dad-, mir wurde übel, als ich realisierte, mit welch großen und glitzernden Augen der Junge – ich – seine Eltern anstrahlte.
Ich legte die Bilder neben mich und faltete den Brief auf. Viel stand nicht. Bloß ein, «Hi, Rio^^. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst, aber dein Vater wird es tun. Wir haben viel zusammen geschafft, sind aber auch oft gescheitert. Wenn ich mich nicht irre, müsstest du mittlerweile auf die 18 zugehen. Die Zeit vergeht, doch Erinnerungen bleiben. Und ich möchte meine Erinnerungen an euch mit dir teilen. Du hast viel gesehen, viel erlebt, doch inmitten Chaos gibt es Knospen, die es doch wagen, zu blühen. An diesen muss man sich festhalten. Und ich möchte die aufgegangenen Knospen an dich weitergeben. Dein Vater war nie jemand, der Fotos machte und mochte, also habe ich mir erlaubt, eure Momente für euch aufzunehmen. Ich hoffe und wünsche mir, dass du deinen Weg machst und deine eigenen, kleinen, wunderschönen und bedeutungsvollen Momente aufnehmen und schätzen wirst. Mili :)»
Verdammte Scheiße, man. Ich nahm wieder die Fotos zur Hand und versuchte, tief durchzuatmen. Es war schön zu sehen, dass ich Momente während meiner Zeit im System gehabt hatte, wo ich mich sicher und geborgen gefühlt hatte. Doch es brach mir das Herz, diesem kleinen Jungen sagen zu müssen, dass es nicht besser, sondern nur noch schmerzhafter wurde.
Ich könnte ihm nicht in die Augen schauen und ihm erklären, warum er auf einmal so viele Narben hatte und Pizza und Eis nicht mehr mochte. Er würde doch gar noch nicht verstehen, was Harmony ihm angetan hatte und er würde doch niemals glauben, dass Dad ihn schlagen könnte.
Und wie brachte ich ihm bei, dass er sich irgendwann genauso böse verhalten konnte, wie es Moms Mitbewohner getan hatten? Und wie zum Teufel erklärte man einem kleinen Jungen, dass er irgendwann dieselben Probleme haben würde, wie seine Mama?
Er wusste damals noch nicht, was ihm alles blühen würde, und irgendwie mochte ich diesen Gesichtsausdruck an mir. Ich hatte den schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr getragen. Ein Ausdruck voller Freude und Spaß. Neugier und Vertrauen. Das war ein Ausdruck, den ich verloren hatte und ziemlich sicher nie mehr finde würde.
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