Kapitel 35
Gegen halb eins tuen mir meine Füße so sehr weh, dass ich beinahe auf den Boden sinke. Zum Glück habe ich Feierabend und meine Schicht ist für heute beendet. Ich versuche mich so schnell wie möglich aus der Arbeitskleidung zu schälen, damit ich sofort nach Hause fahren kann. Als ich Logan vor einigen Stunden den Haustürschlüssel gegeben habe, war is so überfordert, dass ich überhaupt nicht an all die Angestellten und meine Schwester gedacht habe. Was, wenn sie ihn erwischen und er Probleme mit meinen Eltern bekommt? Shit.
Manchmal schleicht sich Spencer nachts in mein Zimmer. Entweder weil sie nicht schlafen kann oder auch einfach um in meiner Nähe zu sein. Ich muss diese Zeiten ausnutzen, schließlich wird auch sie von Tag zu Tag immer älter und kommt langsam ins Alter, wo einem die große Schwester eher peinlich ist.
Heute Abend war ein guter Tag - geschäftlich gesehen. Ich habe um die 500 Dollar Trinkgeld gemacht. Wie gesagt, man bekommt hier eine relativ gute Bezahlung. 90% des Geldes kommt von besoffenen Typen, die einem das Geld zustecken, in der Hoffnung, dass ich mich in Form eines One Night Stands revanchiere. Das Geld nehme ich natürlich an, aber mehr auch nicht. Frauen werden im Hilten objektisiert und sexualisiert. Alles was Brüste hat, bekommt gutes Trinkgeld, Trevor hingegen, kann sich glücklich schätzen, wenn er ein Drittel meines Geldes bekommt. Und das nur weil er Eier und keine Brüste hat. Die Welt ist echt verkorkst.
Sobald ich in mein Kleid geschlüpft bin, laufe ich aus der Umkleide und steuere Tonys Büro an. Es ist still hinter der Tür, aber ich weiß, dass er anwesend ist. Tony hat mir vorhin erzählt, dass er einige geschäftliche Formulare ausfüllen muss und noch bis heute früh hier bleibt.
Ich klopfe an, und Tonys raue Stimme dringt zu mir durch. "Herein."
Ich stecke meinen Kopf durch den Spalt und betrachte das Chaos. Auf dem Schreibtisch häufen sich Aktenordner, das Regal überquillt beinahe und der Boden wurde lange nicht mehr gewischt. "Hi, ich will garnicht stören, ich wollte mich nur abmelden."
Tony fährt sich mit seiner Hand durch den Bart. Er sieht total erschöpft aus. "Schon gut, Blue. Geh nach Hause."
Ich will mich gerade abwenden, als er sich räuspert. "Wie lange hast du noch vor hier zu arbeiten?"
Mein Körper spannt sich automatisch an. Wieso will er das wissen? Ich habe Trevor vor einigen Wochen erzählt, dass ich zum Ende des Sommers hier kündigen werde, um mich anderweitig zu orientieren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit zu Tony gegangen ist. Trevor ist ein vertrauenswürdiger Mensch. Ich kenne ihn zwar nur oberflächlich, aber das ist eine Eigenschaft, die ich in den letzten Monaten an ihm Festellen konnte.
"Wieso?", frage ich mit zittriger Stimme.
Tony lacht mich erschöpft an. "Blue, keine Frau arbeitet hier, weil sie den Job liebt. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass jede Arbeitskraft nur aus einem Grund hier ist, und zwar Geld."
Wie recht er mit seiner Vermutung hat. Ertappt kaue ich auf meiner Unterlippe. Das mache ich immer, wenn mir eine Situation unangenehm ist.
"Naja, ich werde noch Zwei Monate bleiben. Ich wollte mit dir eh noch über meine Kündigung sprechen, aber eigentlich noch nicht jetzt, schließlich bin ich noch hier."
"Du sammelst Geld fürs Studium, stimmt's Scarlett?"
Fuck! Woher weiß er meine Namen? Also muss er auch wissen, dass ich noch nicht 21 Jahre bin.
"Ähm", ist das Einige, was aus meinem Mund kommt. Mein Herz hingegen läuft auf Hochtouren. Was wird er jetzt mit mir machen? "Bitte, ich tue alles, aber kündige mich nicht." Mittlerweile zittern meine Hände so sehr, dass ich mich nicht mal mehr am Türrahmen festhalten kann.
"Schon gut, du musst nichts sagen. Ich war mal in einer ähnlichen Situation wie du, und weiß genau, was du durchmachst." Mein Puls beruhigt sich etwas. Es sieht nicht so aus, als würde Tony mich bestrafen wollen. "Du kannst noch die Zwei Monate hier arbeiten, aber danach will ich, dass du verschwindest. Nicht, weil ich dich nicht mag, du bist echt in Ordnung, sondern weil das alles nicht deine Welt ist. Du bist ein zu guter Mensch, um deine Zeit hier totzuschlagen. Verstanden?"
Sein Verständnis überrumpelt mich, weshalb ich einige Augenblicke zu spät antworte. "Natürlich, danke."
„Perfekt, dann sehe zu, dass du nach Hause kommst."
Eine Frage stelle ich mir immer wieder. "Woher weißt du meinen echten Namen?"
Tony grinst mich schief an. "Dein Gesicht ist nicht gerade unbekannt, Liebes. Vor einigen Wochen habe ich ein Foto von Scarlett Evans, die Tochter von Claudia Evans, im Internet gesehen. Eure Ähnlichkeit ist mir sofort aufgefallen. Ich habe ein wenig recherchiert, und siehe da: Scarlett schließt dieses Jahr die Schule ab."
Mist, er hat mich durchschaut. "Es tut m..."
"Du musst dich nicht entschuldigen, wie gesagt, ich kann dich verstehen. Aber jetzt geh. Soweit ich weiß, wartet jemand auf dich."
Woher zum Teufel weiß er auf einmal von Logan? Als könnte er meine Gedanken lesen, beantwortet Tony meine stumme Frage.
"Ich habe gesehen, wie du einem Typen deinen Schlüssel gegeben hast. Und jetzt los."
"Danke. Für alles." Ich drehe mich um und schließe die Tür hinter mir. Tief durchatmend lehne ich mich dagegen. Einatmen. Ausatmen. Alles ist gut. Es ist nicht selbstverständlich, dass Tony mich nicht verpfeift. Die Tatsache, dass er mich sogar weiterarbeiten lässt, überrascht mich noch mehr.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es bereits ein Uhr nachts ist. So schnell wie möglich laufe ich zum Auto.
Eine Viertel Stund später stehe ich in unserer Eingangshalle. Es ist totenstill im Haus, kein Geräusch durchbricht das Schweigen und keine Fußschritte sind zu hören. In diesem Zustand hat mir das Haus früher immer angst eingejagt. Dann habe ich Grandma angerufen, die zum Zeitpunkt noch in Washington gewohnt hat, die dann zu mir gekommen ist, oder ich bin zu Spencer gegangen. Mom und Dad waren meistens Arbeiten und Nannys haben auf uns aufgepasst.
Ich gehe die Treppe hinauf und steuere direkt mein Zimmer an. Durch den Türschlitz dringt ein schwaches Licht und... ich höre ein weibliches Kichern. Das kann doch nicht...
Ich reiße die Tür auf und will gerade laut schimpfen, als ich Spencer und Logan auf meinem Bett sitzen sehe, die laut lachend Pantomime spielen.
Mit offenem Mund bleibe ich zwischen Tür und Angel stehen. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus und Schmetterlinge erwachen zum leben. Ihn so losgelöst mit meiner kleinen Schwester zu sehen, berührt mich auf eine Gewisse Weise. Spencer ist ein wichtiger Teil in meinem Leben und sie scheint Logan zu mögen. Das bedeutet mir viel.
"Spencer, es ist halb Zwei! Warum liegst du nicht im Bett?", frage ich mit bitterem Unterton. Egal wie sehr mich die Szene erfreut, sollte sie längst schlafen.
Logan dreht sich zu mir um. "Das ist meine schuld. Ich habe sie ausversehen aufgeweckt, als ich vor eine halben Stunde die Toilette gesucht habe. Sie konnte nicht schlafen."
Er lächelt mich beinahe schüchtern an, worauf mein Ärger in Luft verpufft. "Okay, aber dann gehst du jetzt zurück in dein Zimmer, Spence."
Wie es kleine Kinder eben tun, zieht sie einen Schmollmund. "Na gut, aber kannst du mich ins Bett bringen?"
Auch wenn meine Füße gleich nachgeben, kann ich nicht nein sagen. Also strecke ich ihr meine Hand entgegen, und verschwinde mit meiner kleinen Schwester durch die Tür. Logan werfe ich einen entschuldigenden Blick zu, den er mit einem lächeln und nicken quittiert.
Sobald Spencer im Bett liegt, drücke ich einen Kuss auf ihre Stirn. "Gute Nacht, und jetzt schlaf. Sofort. Wenn Mom davon mitbekommt, dann dreht sie durch."
"Mache ich." Stille erfüllt den Raum. "Scar?"
"Ja?"
"Ist... Seid ihr ein Paar?"
Mein Herz rutscht mir in die Hose. „Wie kommst du auf diese Idee?" Total absurd.
Ihr Lächeln erkenne ich sogar in der Dunkelheit. "Naja er hat die ganze Zeit von dir geredet und dabei so bescheuert gelächelt. Grandma hat denselben Gesichtsausdruck, wenn sie von Grandpa erzählt." Grandpa ist vor einigen Jahren verstorben, was ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hat.
"Das ist was anderes. Wir sind nur Freude."
Daraufhin fängt Spencer an zu lachen. "Hey, was ist so witzig?", frage ich beleidigt.
"Nichts."
"Jetzt sag schon."
"Tut mir leid, ich muss jetzt schlafen, da kommst du irgendwann noch selber drauf. Gute Nacht." Mit diesen Worten wendet sich Spencer zur Wand ab, und stellt sich schlafend. Dieses kleine Mädchen ist verdammt klug.
Lächelt mache ich mich auf den Weg zurück zu meinem Zimmer. Ich muss mich zusammenreißen, Logan und ich müssen eine Plan aushecken. Nachts um halb drei!
„Ich mag ihn." Spencer's Stimme höre ich nur noch aus der Ferne.
Tja, ich irgendwie auch.
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