Kapitel 32
Ihre Stimme habe ich in den letzen Monaten nicht im Geringsten vermisst. Tante Gabby. Sie ist Moms Schwester und beinahe genau so anstrengend. Aber wenn die beiden zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind, dann ist die Lage schlimmer als schlimm. Sie ist einige Jahre jünger als Mom, Mitte Zwanzig, höchstens Anfang Dreißig. Ich spüre wie Logan zusammenzuckt und beinahe panisch überall hinguckt, nur bloß nicht in die Richtung von meiner Tante. Dabei kennt er sie noch nichtmal.
"Tante Gabby, was machst du hier in Washington?" Eigentlich lebt sie mit ihrem Ehemann und meiner verzogenen Cousine in New York, weshalb ich sie normalerweise nur ein bis zwei Mal im Jahr ertragen muss. Meine Familie ist echt verkorkst.
"Willst du mich denn nicht erstmal begrüßen?", fragt Gabby und zieht ihre Augenbraue entsetzt in die Höhe. Logan beobachtet die ganze Szene. Er wirkt etwas fehl am Platz, als wäre er gerade lieber wo anders. Kann ich ihm nicht verübeln.
Wie Gabby es möchte, stehe ich auf und küsse sie dreimal auf die Wange. Nicht Zwei mal, nein, immer drei Mal. "Schön dich zu sehen." Die Lüge kommt erstaunlich flüssig über meine Lippen.
"Deine Grandma und ich waren in der Stadt und wollten heute bei euch zu besuch vorbeischauen."
"Grandma ist hier? In Washington?", frage ich voller Vorfreude, sobald sie ihren Satz beendet hat. Neben Ivy und Spencer ist Grandma meine Lieblingsperson. Es ist mir seit 18 Jahren ein Rätsel, wie eine so liebevolle Frau, solche dickköpfigen Töchter bekommen konnte. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann hätte ich niemals gedacht, dass diese drei Frauen überhaupt verwandt sind. Ich versuche meine Freude nicht offensichtlich zu zeigen, was mir leider nicht gelingt.
"Ja, sie ist bei euch zu Hause, ich musste noch etwas berufliches erledigen und dann habe ich dich hier sitzen sehen." Zum ersten Mal scheint sie auch meine Begleitung wahrzunehmen. Sie mustert Logan genau so, wie Mom es vorhin gemacht hat. Mit dieser hochgezogenen Augenbraue, dem abschätzigen Lächeln und diesem rümpfen mit der Nase. Jedoch erscheint noch ein weiterer Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich nicht deuten kann.
Bevor die Situation noch unangenehmer wird, durchbreche ich die aufgekommene Stille. "Tante Gabby, das ist Logan." Ich drehe mich zu Logan. "Logan, das ist meine Tante Gabby, sie kommt aus New York und wie du wahrscheinlich schon mitbekommen hast, ist sie überraschender Weise zu Besuch."
Anstatt ihre Hand zu greifen oder ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken, hebt er für Zwei Sekunden seine Hand und lässt sie anschließend wieder fallen. Zur Bestrafung ramme ich ihm meinen Ellenbogen in die Hüfte. Das wird Gabby nicht gefallen.
"Willst du mich nicht begrüßen, Campbell?" Gabbys Stimme ist scharf wie ein Messer und ihre Augen durchlöchern sein Gesicht. Sie trägt wie jeden Tag einen dieser spießigen Hosenanzüge, von dessen Einkaufswert ich bestimmt für die nächsten Wochen leben könnte. Ein mulmiges Gefühl steigt in mir auf. Woher kennt Tante Gabby seinen Nachnamen. Doch bevor ich nachharken kann, meldet sich Logan zu Wort.
"Habe ich doch, oder sind Sie blind?" Zur Demonstration macht er dieselbe Geste nochmal.
"Logan!", zische ich ihn vorwurfsvoll an, doch der ignoriert mich. Nicht einen einzigen Blick wirft er mir zu.
Gabbys Aufmerksamkeit gilt mittlerweile wieder mir. "Einen netten Freund hast du da, wirklich", sagt sie ironisch.
Im selben Moment steht Logan ruckartig auf. Sein ganzer Körper wirkt angespannt und ich kann ihm seine Wut vom Gesicht ablesen. Seinen halb vollen Eisbecher schmeißt er in den Mülleimer. Entsetzt starre ich ihn an.
"Ich sollte gehen, war schön. Bis Morg... Montag." Mit diesen Worten macht er kehrt und geht davon. Was verdammt nochmal war das denn? Vor wenigen Minuten war noch alles gut und dann ist er von einem Augenblick auf den Anderen total abweisend.
"Woher kennst du seinen Nachnamen?"
Gabby lacht hysterisch auf. "Ich kenne seinen Nachnamen nicht, Schätzchen."
"Natürlich, du hast ihn gerade Campbell genannt."
"Sei nicht so frech und wasche dir deine Ohren, du musst dich verhört haben." Sie dreht sich um und geht zu ihrem roten Lamborghini. "Kommst du?" Da Logan mich hier hat sitzen lassen, bleibt mir nichts anderes übrig. Eines ist sicher. Ich habe mich definitiv nicht verhört und ich werde Logan darauf ansprechen. Die beiden verschweigen mir etwas, aber ich habe nicht den geringsten Schimmern was das sein könnte.
Schweigend fahren wir zum Anwesend. Die meiste Zeit der Fahrt, erzählt mir meine Tante von irgendwelchen Geschäften mit irgendwelchen reichen Leuten. Sie ist Anwältin mit Schwerpunkt auf Steuerrecht und ein hohes Tier in der Kanzlei. Ich höre aber nicht hin. Ich versuche mir ununterbrochen Logans verhalten zu erklären. Letztendlich gebe ich auf. Meine Grandma, die liebevollste Person auf der Welt, wartet zuhause auf mich. Der einzige Lichtblick und die letzte Chance, den Tag heil zu überstehen.
Sobald der Wagen zum Stehen kommt, steige ich aus und renne ohne ein Wort zu sagen zur Eingangstür. Im Flur steht Grandmas kleiner Reisekoffer, der übersäht von Blumen ist. Leise Stimmen dringen aus dem Wohnzimmer zu mir durch.
"Grandma?", frage ich zwischen Tür und Angel.
"Süße, da bist du ja!" Ich laufe mit offenen Armen auf Granny zu und ignoriere Moms Gesichtsausdruck. Sie nimmt mir mein Verschwinden mit Logan anscheinend immer noch übel. Tja, ich mittlerweile auch.
Grandma ist Mitte Achtzig aber relativ fit für ihr Alter. Sie ist eher klein und rundlich, sie sieht aber trotzdem für ihr Alter umwerfend hübsch aus, wie ein älteres Abbild von Mom.
"Was machst du hier?"
"Euch besuchen, was sonst?" Sie löst sich von mir und lächelt mich liebevoll an. "Wie geht es dir meine Hübsche, du wirst von Tag zu Tag immer schöner und du bist so groß geworden! Ich sollte echt öfter vorbeikommen."
"Solltest du wirklich, ich habe dich vermisst." Ich höre wie sich Mom zusammen mit Gabby von uns entfernt, wahrscheinlich um wie Teenager über mich zu lästern. "Mit gehts bestens, jetzt wo du da bist. Und dir?"
"Süße, mir geht es immer gut. Das Leben ist zu kurz um traurig zu sein." So war sie schon immer. Sie sieht in Allem das positive. "Aber jetzt erzähle mir endlich etwas über dein Date."
"Woher weißt du davon? Außerdem war es kein Date."
"Deine Mom war sehr wütend als ich angekommen bin. Sie hat eine halbe Stunde lang ihre Wut an mir ausgelassen."
Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. So wie ich meine Mutter kenne, hat sie nicht eine Sekunde Luft geholt und mit lauter Stimme gemeckert. Ein Anblick, den ich jedem ersparen möchte. "Das tut mir leid."
"Muss es nicht, Hauptsache es hat sich gelohnt."
Um Grandma nicht zu enttäusche, greife ich mal wieder zur Lüge. Naja, es ist nur zum kleinen Teil eine Lüge. Bis auf die letzten Minuten, war der Tag überraschend schön. "Es hat spaß gemacht und wir haben uns bestens verstanden."
Ein warmes Lächeln erscheint auf ihrem faltigen Gesicht. "Freut mich."
"Oma!" Spencer kommt in den Raum gestürmt und schmeißt sich regelrecht in Grandmas Arme. Hinter ihr erscheint Dad in der Tür. Um den beiden etwas Zeit zu geben, gehe ich zu meinem Vater.
"Ich dacht du bist unterwegs." Er trägt wie jeden Tag einen Anzug und seine zurückgegelte Frisur. Es macht mich traurig, dass wir so wenig Zeit füreinander haben. Er zieht mich in eine Umarmung und drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
"Hallo Schatz. Das war ich auch aber ich bin früher nach Hause gekommen. Wie war dein Tag?" Ich bin ihm dankbar, dass er mich nicht auch noch anmeckert, sondern das Thema unter den Tisch kehrt.
"Es war echt schön. Wie war deine Reise."
"Anstrengend, aber umso mehr freue ich mich, endlich wieder bei euch zu sein. Ich habe gute Neuigkeiten." Ein - für Dads Verhältnisse - Lächeln huscht über sein Gesicht.
"Echt? Was ist es?", frage ich neugierig.
"Nachher beim Essen." War klar, ich hasse warten.
Die nächste Halbe Stunde sitzen wir alle beisammen im Wohnzimmer, das gab es sehr lange nicht mehr. Auch wenn meine Familie anstrengend und nervtötend ist, liebe ich sie auf eine verkorkste Weise. Mir ist bewusst, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollen, aber das können sie eben nicht richtig einschätzen. Ich alleine muss entscheiden, was richtig für mich ist und was nicht.
Sobald wir am frühen Abend am Esstisch sitzen, kann ich meine Neugier nicht länger zurück halten. "Jetzt sag schon Dad, was sind die guten Neuigkeiten."
Dad steht auf und räuspert sich. "Wie ihr wisst, war ich vor einigen Wochen in Boston." Oh Nein, bitte lass es nicht das sein, was ich erahne. Dad blickt mich stolz an. "Scarlett hat einen Platz in Harvard."
Meine versammelten Familienmitglieder klatschen erfreut in die Hände und umarmen einander. Alle freuen sich. Alle außer ich.
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