Kapitel 2
„Scar, wo hast du so lange gesteckt?", ruft Ivy, die mit ihrem rotlackierten Luxuswagen auf die Auffahrt fährt. Ich weiß immer noch nicht, was ich von diesem Ding halten soll. Man muss wissen, dass Ivy jeden Tag denselben Lippenstift trägt. Es ist exakt derselbe Farbton, den das Auto hat. Ihr Dad hat 10 Tausend Dollar dafür ausgegeben. Trotz allem ist Ivy bodenständig und die beste Freundin, die man sich vorstellen könnte.
Mein Blick wandert zur Garage, wo ich nach dem Auto meines Vaters Ausschau halte, bis mir wieder einfällt, dass Dad gerade auf Geschäftsreise in Europa ist und erst in Zwei Tagen zurück kommt.
„Tut mir echt leid, Spencer kam einfach nicht aus dem Bett."
„Hey!" Meine kleine Schwester boxt mir gegen den Arm. Für eine so zierliche Person hat sie einen echt harten Schlag. „Das stimmt garnicht! Scarlett hat so lange gebraucht, nicht ich."
Ivy begrüßt mich mit einer Umarmung, die ich gerade echt gebrauchen kann. „Das wissen wir doch. Scar war schon immer eine Schlafmütze."
„Schuldig im Sinne der Anklage." Ich hebe spielerisch meine Hände und gebe Ivy einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Kommst du heute Abend vorbei?", fragt Ivy. Normalerweise sehen wir uns jeden zweiten Tag. Sie wohnt nicht weit weg und ihre Familie ist wie meine Zweite. Es gab schon viele Momente, in denen ich mit Ivys Mutter über meine Probleme geredet habe, die sich eigentlich meine leibliche Mom anhören sollte. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert. Wenn meine Mutter nicht gerade mit ihrem Kopf in Unterlagen steckt und ihre Nächte im Büro verbringt, dann telefoniert sie in der Weltgeschichte herum oder macht Sport. Im Ernst: Ich bin unsportlicher als meine eigene Mutter.
„Tut mir leid, ich muss heute Abend meine Collegebewerbung schreiben. Aber ich habe morgen Zeit."
„Super."
Eigentlich ist „Collegebewerbung" ein Codewort für meine Arbeitsschichten im Hilten. Wir können schlecht in aller Öffentlichkeit über meinen Job reden, wenn niemand außer Ivy davon weiß. Ein Freund von ihr hat mir die freie Stelle angeboten, als ich erwähnt habe, dass ich unbedingt einen gutbezahlten Job brauche. Anfangs habe ich zwar eher an Babysitten, Kassieren oder Kellnern gedacht, und nicht an eine Stelle hinterm Tresen im dreckigsten Stadtteil von Washington, wo sich breitgebaute Kerle Schlägereien liefern. Jeden Freitag Abend finden dort sogar Boxkämpfe statt wo ich gelegentlich mein Geld auf gute Kämpfer setze. Diese Welt dort, ist das genaue Gegenteil von der Welt, in der ich sonst lebe: Reichtum, Klamotten und Cheerleading. Der reinste Stereotyp.
„Hast du die Aufgaben in Mathe gemacht?" Ich bin so sehr in meinen Gedanken vertieft, dass ich Ivy's Frage beinahe überhöre. „Wenn ja, kann ich die abschreiben?"
„Natürlich. Ich schicke dir ein Foto." Sie weiß genau, dass ich meine Aufgaben immer mache.
„Perfekt, danke." Die restliche Fahrt quatschen wir über Spencers ersten Schultag und die steigenden Party am Wochenende.
Nach 20 Minuten stehen ich vor meinem Spind im Schulflur. Im inneren habe ich Fotos von meinen Freunden und meiner Schwester geklebt.
„Scarlett, wie gehts dir?" Die Stimme zu meiner Rechten klingt zu nahe und zu bekannt. Ich drehe mich zu Rowan um, der mich von oben bis untern betrachtet. Rowan ist der Sohn von engen Freunden meiner Eltern und geht ebenfalls in einige meiner Kurse. Laut meinen Elter ist er perfekt für mich - eigentlich ist seine Familie einfach nur reich und unsere Beziehung würde meiner Mom neue Kunden beschaffen. Ich zwinge mir ein künstliches Lächeln auf die Lippen.
„Hi, gut und dir?" Der Flur ist überfüllt mit Schülern und Lehrkräften, die von einem Raum zum anderen hechten.
„Auch ganz gut. Hast du am Wochenende schon was vor? Mein Vater veranstaltet am Samstag eine Benefizveranstaltung und ich darf meine Begleitung selber aussuchen."
Wer's glaubt wird selig. Nie im Leben ist es alleine die Entscheidung von Rowan. Aber eine Sache konnte ich noch nie gut: Nein sagen. Ich bin nach außen hin eher schüchtern und bringe es nicht über mich, andere zu enttäuschen.
„Ich würde mich freuen. Dad kommt bald aus Europa zurück. Ich frage ihn dann."
„Perfekt. Ich muss jetzt zu Physik. Wir sehen uns", sagt Rowan, und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel.
„Ja, das werden wir." Er läuft an mir vorbei und verschwindet in der Menschenmasse. Im selben Moment sehe ich Ivy's blonden Hinterkopf. Ich beeile mich, damit ich sie noch rechtzeitig einholen kann.
„Ivy, warte." Sie dreht sich um und lächelt mich an.
„Da bist du ja. Ich habe in der Eingangshalle auf dich gewartet."
„Tut mir Leid, Rowan hat mich aufgehalten."
Wir gehen in die Richtung der Matheräume und meine Beste Freundin schenkt mir einen mitleidigen Blick.
„Was wollte Rowan schon wieder von dir?"
Ivy kann ihn nicht leiden. Hauptsächlich weil er eine Klette ist und sein Freundesgruppe aus den größten Deppen besteht. Trotzdem muss man gestehen, dass er nicht schlecht aussieht.
„Er hat mich am Samstag auf eine Benefizveranstaltung eingeladen."
Ivy schnaubt genervt. „Du hast hoffentlich abgesagt. Du weißt schon, dass seine Familie ihn dazu angestiftet hat."
„Schon, aber ich habe trotzdem zugesagt. Mom bringt mich um wenn sie erfährt, dass ich seine Einladung abgelehnt habe. Und sie erfährt alles, glaub mir."
„Das ist echt scheiße!", schimpft Ivy, was mich total überrascht weil sie so gut wie nie Schimpfwörter benutzt.
„Das kannst du laut sagen." Wir gehen in den Klassenraum und setzen uns in die mittlere Reihe auf unsere Stammplätze. Innerhalb weniger Sekunden hat sich ein Großteil meiner Klassenkameraden um uns herum versammelt.
Wir unterhalten uns bis unser Lehrer den Klassenraum betritt.
Am Abend liege ich mit einem Buch auf dem riesigen Bett meines Zimmers und warte darauf, dass Harper ihren gewöhnlichen Rundgang macht. Sobald sie sicher gegangen ist, dass ich auf meinem Zimmer bin, schleiche ich mich aus dem Anwesen und fahre mit der Bahn in den dreckigen Teil von Washington. Meine Schicht beginnt um 11 Uhr und endet kurz vor 5 am Morgen. Kein Wunder, dass ich am darauffolgenden Tag immer total müde und fertig bin.
Es klopft an der Doppeltür und der lockige Kopf von Harper schiebt sich durch den kleinen Spalt. „Super, du bist schon auf deinem Zimmer. Bleibe nicht zu lange wach, sonst muss ich dich Morgen wieder aus dem Bett zerren."
„Ich gehe gleich schlafen. Dir auch eine gute Nacht Harper." Mit einem liebevollen Lächeln schließt sie die Tür hinter sich. Ich springe aus dem Bett und sprinte zum begehbaren Kleiderschrank. Aus der untersten Schublade ziehe ich Blues rote Perücke heraus und schlüpfe in eine kurze Hose und Top mit tiefem Ausschnitt. Vor meinem Spiegelbild erschrecke ich mich jedes Mal aufs Neue.
Das bin ich nicht. Aber für heute Nacht muss ich zu dieser Person werden.
Dad ist noch nicht zu Hause und Mom ist schon seit einer Stunde im Bett. Also sind die einzigen Personen, vor denen ich mich verstecken muss die Angestellten.
Auf Zehenspitzen schleiche ich mich die Marmortreppe herunter und schlüpfe durch einen der Hinterausgänge.
Es ist bereits dunkel. Der Mond erhellt das Grundstück, das vom weiten wie ein reinster Irrgarten aussieht. Im Schein der Straßenlaternen laufe ich die Straßen entlang. Ich habe Angst im dunkeln und bin eine Niete wenn es um Selbstverteidigung geht. Die besten Voraussetzungen um in die Welt von Blue einzutauchen- nicht.
Ich bekomme mein eigenes Auto erst in wenigen Monaten, und da mich Ivy um diese unmoralischen Uhrzeiten nicht umher kutschieren kann, bin ich auf die U-Bahn angewiesen.
Zu Fuß dauert der Weg zum Bahnhof eine viertel Stunde. Fünfzehn Minuten, in denen mein Herz so laut wie ein Presslufthammer schlägt. Die dunklen Gassen sind angsteinflößend und unheimlich.
Sobald ich den dreckigen Bahnhof betrete steigt mir der Geruch nach Fäkalien und stickiger U-Bahnluft in die Nase. Es sind nur noch wenige Leute unterwegs, doch es ist trotzdem betäubend Laut hier unten.
Ich kann nichts gegen das Grinsen in meinem Gesicht tun. Wenn Mom mich hier sehen könnte, dann hätte sie bereits nach wenigen Sekunden einen Herzinfarkt. Sie würde mich anschreien und mit meinem Erbe drohen. Was sie nicht weiß: Das beschissene Geld ist mir total egal.
In der Bahn setze ich mich in ans Fenster und starre gegen die dreckige Betonwand. Gleichzeitig setzt sich ein Typ mir gegenüber. Er sieht aus, als lebe er auf der Straße. Ich empfinde Mitgefühl, welches sofort verschwindet, als er auf den Boden spuckt, mit der Hand durch sein verknotetes und schulterlanges Haar fährt, und mich anzüglich betrachtet. Die braunen Zähne, von denen nur noch wenige vorhanden sind, jagen einen Schauer über meine Arme.
Über die komplette Fahrt verliere ich den Kerl nicht aus den Augen. Und er mich auch nicht. Als die Bahn endlich an meinem Ziel anhält, atme ich erleichtert aus, und tauchen in den dunklen Gassen unter.
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