Kapitel 4 - Nevis
An der Kasse bezahlte ich den Eintritt für die Seehundstation. Irgendwie wusste ich, es würde Bellina gefallen. Meine Freundin mochte Tiere jeglicher Art.
Wir gingen auf das große Becken zu. Von hier aus konnte man die Tiere unter Wasser erleben. Früher hatte Blanchette und mir das immer einen Heidenspaß gemacht, deshalb musste ich ihr versprechen, Fotos von Norddeich zu schicken. Genau, wir befanden uns derzeit in Norddeich an der Nordsee. Vor unserer Abreise würde sie es erfahren, wo wir uns aufhielten.
Entzückt lief die Schönste im ganzen Land auf das Glas zum Beobachten der Tiere drauf zu. In ihren Augen sah ich, dass sie sich bereits in die Seehunde verliebt hatte. Diesen Moment wollte ich für immer in meinem Gedächtnis behalten, deswegen schoss ich ein Foto von ihren leuchtend grünen Augen mit den Seehunden als Hintergrund. Auf der einen Seite der Glasscheibe hing ein Foto von einem sehr jungen Seehund, welcher erst vor einigen Tagen gefunden wurde. Die jungen Seehunde, die man ohne Mutter fand, taufte man Heuler. Dieser Heuler suchte noch einen Namen, weswegen die Station sich an die Gäste wandte. Wir als Gäste sollten einen Namen vorschlagen. Bellinas Blick fiel ebenfalls auf das Schild. "So, so, ein Name also... Wie wäre es mit Héloise? Der Name steht für glorreicher Krieger."
Das war mit Abstand der besonderste Name, den ein Heuler in Norddeich je haben konnte. Ich reichte ihr einen Zettel sowie einen Stift. Auf den Zettel schrieb sie den Namen in ihrer eigenen Schnörkelschrift. Den Zettel steckte sie in einen Kasten mit einem kleinen Schlitz.
"Moin, haben Sie dem Seehund einen Namen gegeben?", fragte uns ein Mann Mitte fünfzig freundlich. Sein Mund umrahmten Lachfalten.
"Ja, habe ich. Héloise. Ich denke das passt zu dem kleinen Kerl. All diese Heuler sind starke Kämpfer. Es ist schrecklich, dass die Jungen ihre Mutter verlieren mussten.", sprach meine Freundin im perfekten Deutsch.
"Héloise, das klingt nach einem tollen Namen. Dafür werde ich stimmen. Oh, tut mir leid, ich sollte mich einmal vorstellen. Ich arbeite für die Station. Du hast Recht, diese kleinen Racker sind wahre Kämpfer. Vor allem dieser hier. Als wir ihn fanden, hat er eine Menge durchgemacht. Schrammen und tiefe Wunden überall. Den Kopf hat sich das kleine Kerlchen an einem großen Stein gequetscht. Aber das interessiert euch bestimmt nicht."
"Doch, das interessiert uns. Wo habt ihr den Kerl gefunden?", interessiert stellte Bellina eine Frage, forderte den Mann auf weiterzusprechen.
"Hier bei uns an der..."
Gespannt hörte meine schöne Prinzessin dem Seehundpfleger zu. "Einen Moment bitte. Verzeihung, aber ich muss Sie unterbrechen. Es ist verrückt, doch meine Freundin weiß nicht, wo wir sind und sie soll es noch nicht erfahren."
"Oh, ich verstehe. Eine Überraschung. Na dann. Wir haben Héloise hier gefunden."
Gespielt wütend funkelte sie mich an, doch ich ignorierte ihren Blick gekonnt und verabschiedete mich von dem netten Herrn. "Ihr solltet in ein paar Tagen auf unserer Seite nachlesen, welchen Namen der Kleine bekommen hat. Einen schönen Tage wünsche ich euch zweien."
"Machen wir.", sagte ich zu.
"Machen wir nicht. Für mich heißt das Kerlchen Héloise. An diesem Gedanken halte ich fest."
"Verständlich. Für mich wird er ebenso Hélos heißen, junges Fräulein. Die anderen Pfleger würden doof gucken, sofern ein anderer Name genommen wird und ich ihn Hélos nenne.", der Mann lachte über sich.
"Héloise.", verbesserte ich ihn höflich.
Im Vorbeigehen flüsterte er Bellina noch etwas zu. Verfluchter Mist, ich verstand nicht, was er ihr sagte.
Gemeinsam gingen wir an dem Becken vorbei zu einem ausgestopften Seehund. Um ein Foto machen zu können, dirigierte ich Bellina neben das Tier. Danach tauschten wir, sie schoss ein Foto von mir für meine kleine Schwester. Blanchette würde sich über die vielen Bilder freuen, obwohl sie zuletzt stinksauer war, weil ich sie nicht mitgenommen hatte. Selbstverständlich freute sich meine Schwester für mich, der Beziehung mit Bellina wegen, jedoch wäre sie nur zu gerne an unseren ehemaligen Urlaubsort mitgekommen. Leider hatte sie erstens Schule und zweitens war das ein Kurzurlaub nur für mich und meine Freundin.
Wir schlenderten Hand in Hand durch die Seehundstation vorbei an weiteren ausgestopften Tieren, Informationstafeln mit Klappen zum Spaß für die Kinder oder Gemälde. "Welches Wort findest du in der französischen Sprache am schwierigsten?"
"Definitiv Kinésithérapeute."
Meine Freundin kicherte. Kinésithérapeute war ein langweiliger, eher stinknormale Physiotherapeut.
"Welches deutsche Wort empfindest du am schwierigsten?"
An ihrer Mimik erkannte ich, wie sie nachdachte. "Eichhörnchen und Seepferdchen fand ich damals immer besonders schwer. Bei mir klang das wie Eischörnschen oder Seepferdschen oder gar schlimmer. Bis heute kriege ich das Wort Streichholzschä... Streichholzschächtelsch... Nein... Streich... Streichholzschächtelchen nicht auf die Reihe."
"Oh, das ist wirklich fies. Von wem hast du das?"
"Von Connor.", antwortete sie.
"Oh, das... Das war fies. Wirklich fies. Wie wäre es mit Rinderkennzeichnungsfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz?", lachte ich.
"Wie bitte, was? Was ist das für ein Wort? Rinderkennzeichnungsfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz? Was zur Dreizehnten Fee ist das? Mon dieu."
"Das ist das bisher längste Wort im Duden. Wollen wir eigentlich langsam zurück in die Kerzenstube? Unsere Kerzen sollten fertig getrocknet sein. Die Ausstellung ist zu Ende. Oder möchtest du dir noch etwas ansehen?", ratterte ich unsere Möglichkeiten mit passenden Erklärungen runter.
"Was habe ich gesagt? Du sollst entscheiden, aber wo du gerade fragst. Ich würde gerne nochmal Héloise in Action, nicht bloß auf einem Foto, bewundern."
Gesagt, getan, wir gingen zurück zu dem Schwimmbecken voller schwimmender Seehunde. Ihr Blick suchte die geschäftigen Tiere ab. Anscheinend war gerade Fütterung, denn die Seehunde waren für wenige Sekunden von der bläulichen Wasserunterfläche verschluckt, als sie kurz darauf mit einer fischigen Leckerei wieder eintauchten. Enttäuscht ließ Bellina den Kopf hängen. "Ich kann ihn nicht finden."
Ich warf einen Blick auf das Schild und versuchte mein Glück, den Racker zu finden. "Vielleicht ist er das.", behauptete ich.
"Ja, vielleicht."
Der Mann Mitte fünfzig kam pfeifend zu uns. "Ich habe eine Überraschung, junges Fräulein. Wenn ihr mir bitte folgen würdet."
Ratlos zog ich die Schultern hoch. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er mit uns vorhatte, trotzdem folgte ich ihm mit meiner Freundin an meiner Hand. Der Mann - er stellte sich als Herbert vor - führte uns durch eine Metalltür. Dahinter sah man die Wasserbecken von oben. Die Seehunde kamen ans Ufer zu den Pflegern, schienen richtig zutraulich und ließen sich ihre Fische zu werfen. Der Gestank war nicht gerade lecker, aber ertragbar. "Das da ist Héloise.", diesmal sprach er den Namen vollkommen richtig aus, weshalb ich mich beinahe schlecht fühlte und zeigte auf einen kleinen, scheinst schüchternen Seehund, welcher mehrere Verletzungen trug. "Ich habe das mit den anderen Pflegern abgeklärt. Die waren fast sofort einverstanden. Sein Name bleibt für alle Héloise. Bisher seid nur ihr eingeweiht. Die anderen Gäste erfahren es später auf unserer Webseite. Ihr könnt mit der Website im Blick behalten, wann der Rabauke in die Freiheit gesetzt wird."
"Das ist super. Danke, danke, Herbert. Ich bin mir sicher, Héloise wird seinem Namen gerecht, sprich er wird ein glorreicher Krieger. Der wird alsbald gesund."
"Länger darf ich euch leider nicht hier behalten, die anderen Gäste werden sonst noch eifersüchtig. Verzeiht mir bitte und ich habe für den Namen zu danken."
Herbert führte uns durch die Tür zurück in einen anliegenden Shop. Dort entließ er uns seiner Obhut. "Einen wunderbaren Urlaub euch."
"Dankeschön. Ihnen einen erholsamen, ereignisreichen Arbeitstag mit Héloise. Passen Sie gut auf ihn auf."
"Und Sie passen besser auf Ihre Freundin auf. Die hat sich bereits beinahe in ihren Héloise verliebt.", schloss der überaus freundliche Pfleger das Gespräch.
Während er sich entfernte, zog ich meine Augenbrauen in die Höhe. "Ist das wahr?"
"Nein, mein Herz gehört nur dir, aber es war keine Frage, das der Kerl zuckersüß war."
"Welcher Kerl - Herbert oder Héloise?", anzüglich wippte ich mit den Augenbrauen.
"Der Seehund Héloise, du Witzbold."
"Vielen Dank, ich weiß zu schätzen, dass du mich witzig findest.", ich deutete eine Verbeugung an.
Währenddessen inspizierte meine Freundin ein Plüschtier. Sobald sie fündig wurde, reckte sie das Kuscheltier in die Luft. "Wie wäre es mit dem hier als Mitbringsel für deine Schwester?"
Ich nahm ihr den Plüschseehund ab. Das Tier sah Héloise ähnlich. Mir kam eine Idee. An der Kasse gab es noch Schlüsselanhänger mit einem Plüschseehund dran baumeln. Ich ging mit dem größeren Seehundplüschtier zur Kasse, nahm einer Anhänger und bezahlte beide. Den Anhänger ließ ich einpacken, dann stopfte ich ihn in meinen Wanderrucksack. Das große Kuscheltier, welches Bellina ursprünglich für meine Schwester auserkoren hatte, reichte ich ihr. "Der hier ist für mich. Der andere in meinem Rucksack für Blanche. Ist dir aufgefallen, dass deiner wie Héloise aussieht? Ich finde, so solltest du den hier auch nennen."
"Du hast Recht, danke."
Den Weg zur Kerzenstube legten wir mit Leichtigkeit zurück. Wir öffneten die Tür. Sofort strömte uns der Duft nach Kerzen entgegen. Wir gaben unsere Namen bei der Kasse durch und erhielten im Austausch unsere Kerzen. Ich bezahlte die zwei und kaufte zusätzlich noch für meine Eltern und Bellinas Eltern jeweils eine Kerze, welche wie ein Leuchtturm in den Farben rot und weiß gestreift geformt war.
Danach ging es weiter. Unser Mittagessen wollte ich meiner Planung des Tages nach bei einem Kiosk einnehmen, wo es leckere Fischbrötchen gab. Dahin lockte ich nun Bellina.
Auf dem Weg dahin, nörgelte sie herum, wo wir denn nun waren. Wieder fragte ich mich, wie lange ich ihre Neugier noch hinhalten könnte.
Sobald wir den Kiosk erreichten, umfing uns der köstliche Duft nach Fisch. "Moin, was wollt ihr essen?" Ich bestellte ein Brötchen belegt mit Fisch für uns beide. Um ehrlich zu sein, war ich gespannt, wie es ihr schmecken würde. Genussvoll biss sie in das Fischbrötchen. "Und wie schmeckt's?"
"Genial.", schmatzte sie. Als sie merkte, was sie tat und dass sich das für eine Prinzessin überhaupt nicht gehörte, murmelte sie eine Entschuldigung.
Ich winkte ab und biss ebenfalls ins Brötchen. Dann schmatzte ich. "Guck, ef ift nift flimm."
Darüber lachten wir zusammen. Diese Momente, in denen wir gemeinsam lachten, gefielen mir.
Bellina steckte ein kleines Stück ihres Brötchens in den Rucksack. Darin befand sich ihr Äffchen Lucile, wobei der Affe nun keiner mehr war. Für den Austausch nach Menschenwald wurden die Tiere, die man in der Menschenwelt nicht im Hause hielt, in ein anderes Tier verwandelt. Lucile war nun ein bissiges Frettchen. Bananen waren out, Menschenblut in. Ich sprach aus Erfahrung, denn sie kaute ständig auf mir oder meinen Körperteilen herum. Bisher hatte ich andauernd Pflaster, besonders an meinen Arm, wodurch Bellina mich verarzten musste, wobei ich natürlich kein Problem damit hatte, dass meine hübsche Freundin mich liebevoll verarztete. Nachdem sie ihr gefräßiges Tierchen also gefüttert hatte - inständig hoffte ich darauf, dass ihr eigentlicher Affe kein Hunger mehr auf mich hatte - , biss sie erneut ab. Dabei spritzte die Soße auf ihr Gesicht.
Ich wischte zärtlich einen Fleck von ihrer Lippe. Es war Soße, die ich von meinem Finger leckte. Himbeerrosane Wangen zierten ihr niedliches Gesicht. Sanft küsste ich ihren Mundwinkel.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro