Kapitel 2 - Nevis
Bellina stolperte mir direkt in die Arme mit dem Kopf voraus. Mir erging es nicht anders. Ich war unsanft auf dem Boden aufgekommen. "Da bist du ja. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Alles gut bei dir?", besorgt musterte ich meine Freundin.
"Ja, alles gut", log sie.
"Was ist passiert? Hast du die Augen aufgemacht?"
Die Wahrheit, was geschehen war, schien ihr unbehaglich. Bellina knetete ihre Finger, etwas, was sie häufig tat, wenn ihr was unangenehm war. Um ihre Aufmerksamkeit zurück auf mich zu ziehen, nahm ich ihre Finger zwischen meine Hände. "Magst du darüber reden?"
Meine schöne Prinzessin schüttelte den Kopf, trotzdem begann sie zu reden: "Ich habe meine Augen geöffnet und ab da habe ich alles vergessen. Dich. Meine Familie. Alles."
"Sht, ist gut. Alles ist gut." Vor ein paar Monaten war sie es gewesen, die mich zu beruhigen versuchte. Heute war ich an der Reihe.
"Bist du mir böse?"
"Nein, wieso sollte ich? Ich bin mir sicher, es gab einen guten Grund dafür, dass du auf mich gehört hast. Ich meine, nicht auf mich gehört hast."
"Ich weiß es nicht. Ich... Ich dachte, ich könnte dich sehen. Ich glaube, ich hatte auf deinen ermutigenden Blick gehofft oder so."
Ich zwinkerte ihr zu. "Guck, das nenne ich begründet."
Ihr Blick glitt an mir vorbei über die Landschaft. "Wo sind wir? In Paris?"
Mit der Zeit fand ich heraus, dass sie gerne das Thema wechselte, sobald ihr etwas unangenehm war oder ihr jemand Komplimente machte. Momentan arbeitete ich daran, ihr das wenigstens in meiner Gegenwart abzugewöhnen. Die Komplimente, die ich machte, waren ernst gemeint. Das müsste sie nur zu verstehen lernen, damit sie sie verstand, verinnerlichte.
"Das ist nicht Paris. Unser Austausch beginnt erst am Sonntag. Am Sonntag reisen jedenfalls die anderen in Paris ein."
"Aber...", verwirrt griff sie nach ihrem Handy.
"Ich weiß. In deiner Mail steht der heutige Tag. Das liegt daran, dass ich diese Überraschung mit ein wenig Hilfe geplant habe. Fast alle, abgesehen von dir natürlich, sind eingeweiht."
"Was für eine Überraschung?", hakte sie nach. In ihrem Gesicht stand ein einzelnes großes Fragezeichen geschrieben. "Nevis, wo sind wir hier?"
"Das wirst du bald erfahren. Bald, doch nicht jetzt. Glaub mir, Kind, Prinz Nevis weiß mehr.", sang ich ein paar Zeilen des Liedes von Gothel in schrecklicher Variante. Ich verschränkte unsere Hände miteinander. "Kommst du mit?"
"War Romeo und Julias Liebe verboten?"
Das hieß ja, oder? Ich glaubte es jedenfalls, weshalb ich sie hinter mir her zog. Mit ihrer freien Hand versuchte die Prinzessin etwas in ihr Handy zu tippen. Nach geraumer Zeit fluchte sie. "Was ist denn?"
"Hast du Mobile Daten?", fragte Bellina.
"Ja. Warum?"
"Ich nicht", nörgelte die Prinzessin beinahe.
"Soll ich etwas für dich recherchieren?", bot ich daher an.
"Du weißt doch genau, was ich vorhatte. Ich wollte über Märchle Maps schauen, wo wir uns befinden. Darf ich dein Handy?"
Diesmal schüttelte ich den Kopf. "Nein, noch bleibt es eine Überraschung. Kann es sein, dass du Überraschungen nicht leiden kannst?"
"Es ist durchaus möglich, dass ich Überraschungen nicht ausstehen kann, weil ich viel zu neugierig sein kann. Verrate mir deswegen biiiiiiitttteee, wo wir sind. Bitte, bitte, bitte", bettelte meine Freundin.
"Nein", gab ich ihr mit Nachdruck zu verstehen.
"Menno."
Wir hielten vor einer Bäckerei. Ich zog für sie einen Stuhl zurecht, wo sie sich dankend drauf fallen ließ. Gegenüber von ihr nahm ich Platz ein. Während wir auf die Bäckerin warteten, hielten wir unter dem Tisch Händchen. Mich hatte wahnsinniges Glück getroffen über solch eine wunderbare Freundin. Dass sie keine Komplimente annahm, nervte mich, klar, aber ich liebte sie inständig. Bellina hatte eine atemberaubende Stimme, nichts im Vergleich zu ihrer makellosen Schönheit - Spieglein und ich wussten genau, wer die Schönste aus Villeneuve und ebenso die Schönste im ganzen Land war. Manchmal konnte ich gar nicht aufhören, von ihr zu schwärmen. Obwohl meine Kumpels sich riesig für mich freuten, waren sie manches Mal ziemlich genervt von meiner Verliebtheit oder die waren neidisch, ebenfalls gut möglich. Blanchette mochte Bellina total gerne. Die beiden waren bereits zusammen auf Shoppingtour und unterhielten sich pausenlos über romantische Sachen. Beinahe musste ich mir Sorgen machen, meine Freundin zu verlieren. Doch ich wusste, meine kleine Schwester trauerte Céde hinterher und gönnte mir die Liebe zu Bellina. Gemeinsam mit meiner Schwester hatte ich sogar diese romantische - jedenfalls hoffte ich, dass es romantisch genug war - Überraschung geplant. Blanchette hatte mich beraten, selbst in Hinsicht auf eine mögliche Verlobung. Hierbei wollte ich jedoch keine Tipps annehmen. So verrückt es klang, aber ich hatte meine eigenen Pläne geschmiedet. Kurz vor Ende unseres Austausches wollte ich Bellina bitten, mich zu heiraten. Unter dem Eiffelturm im besten Fall mit Schnee. Ich weiß, das würde alles viel zu schnell gehen und es klang übertrieben überstürzt, aber ich hatte mich in diese unglaubliche Frau verliebt. Mit der Schönsten im ganzen Land wollte ich den Rest meines Lebens verbringen. Vorerst sollte sie ihren Austausch genießen, bevor ich sie quasi vor eine Art Ultimatum - konnte man das so sagen? - stellte.
"Moin. Was kann ich euch zweien bringen?", sprach uns die Frau, die gerade eben aus der Bäckerei kam, freundlich an.
Herrlich, dass die Anrede nicht die eines Prinzen würdig war.
"Wir hätten gerne leckeres Frühstück. Was können Sie uns empfehlen?"
Die Bäckerin wickelte kokett eine Haarsträhne um ihren Finger. Oh Hilfe, bedeutete dies, die Frau flirtete mir? War der Moment gekommen, indem ich ihr weis machen musste, dass ich vergeben war? Zugegeben, ich hatte Unterricht von den Jungs, sprich meinen Kumpels, in Sachen Liebe, Beziehungen und sogar, nun ja, Sex bekommen.
Die Bäckerin reichte uns beiden jeweils eine Karte. Würde sich Bellina angegriffen fühlen, wenn ich für uns beide das Frühstück auswählte? Vielleicht ließ ich sie sicherheitshalber selbst wählen. Hauptsache Bellina aß genügend, nicht, dass sie wegen mir auf die Essensbremse trat.
"Wollen wir das Frühstück für zwei bestellen?"
"Können wir", ich wand mich an die Kellnern. "Wir hätten gerne das Frühstück für zwei."
Die Frau nickte und notierte sich etwas in ihrem Büchlein. "Sonst noch was? Da Sie wissen wollten, was ich empfehlen kann: Ich würde euch einen Seestern vorschlagen. Der ist süß und selbstverständlich nicht echt. Es sieht nur wie einer aus."
Fragend hob ich die Augenbrauen. "Möchtest du? Ich würde es einmal probieren. Können uns ja einen Teil."
"Einverstanden."
"Also einen Seestern oder zwei?"
"Erstmal einen", antwortete ich. "Statt Kaffee bitte Kakao."
Ich wusste, dass meine Freundin keinen Kaffee trank. Ich mochte das Gesöff ebenso nicht sonderlich gerne.
"Kommt sofort."
"Wir sind gerade in Deutschland, würde ich behaupten", sagte Bellina, als die Bäckerin in den duftenden Räumlichkeiten verschwand.
"Wie kommst du bloß darauf?" Ich lehnte mich grinsend in meinem Stuhl zurück, ohne ihre Hand loszulassen.
"Hm, lass mich überlegen. Die Frau eben sprach Deutsch."
"Man spricht in mehreren Ländern Deutsch, weißt du."
"Ja, ja, Angeber", augenverdrehend grinste sie zurück.
"Das mache ich nicht... oder vielleicht doch."
"Was? Wie bitte? Ich kapiere nichts. Nicht Mal Bahnhof."
"Ja, ja, heißt Leck mich am Arsch. Soll ich das machen? Los, streck mir deinen knackigen Arsch entgegen, damit ich es machen kann. Ich tue alles für dich", feixte ich.
"Was?", krächzte sie. "Das... oh... Äh... Ah..."
Die Bäckerin unterbrach unser Gespräch, indem sie ein Tablett zwischen uns stellte.
Ich pustete und nahm einen vorsichtigen Schluck von dem brühend heißen Kakao. Ich hätte kalten Kakao bestellen sollen bei der hitzigen Jahreszeit, wobei hier in Norddeich überraschend angenehmes Wetter herrschte. "Das können Sie gerne bei mir tun."
"Was?", ich prustete und verschluckte mich glatt an dem warmen Getränk. Hatte ich gerade richtig verstanden? Die Kellnerin wollte, dass ich ihr... Igitt. Nein, danke. Die Frau war nicht hässlich oder so, aber ich liebte nur eine und keiner anderen wollte ich den Arsch lecken. Außerdem war das nur Spaß. Holla die Waldfee! Was ging denn hier jetzt ab?
"Nein, tut mir leid. Nevis ist an mich vergeben", übernahm Bellina das Sprechen.
"Ist ja schon gut. Das war ein Scherz. Ich wollte nur hören, wie das schüchterne Mädchen aus ihrer Haut fährt. Dachte ich es mir doch, dass du eine Stimme hast. Trotzdem hätte ich nichts gegen das Angebot einzuwenden. Vor allem nicht in deiner Haut. Schau ihn dir an, er ist heiß."
"Ich weiß, aber er gehört mir, wie gesagt."
Die Kellnerin hob abwehrend die Hände und ließ uns alleine.
"Ich gehöre also dir?"
"Tust du nicht? Also, ich meine... Du bist doch mein Freund."
Und vielleicht bald, in einem elendig langen halben Jahr, dein Verlobter, sofern du Ja sagst.
"Auf das Angebot würde ich gerne nochmal zurückkommen." Als hätte Bellina das nie gesagt, schmierte sie sich unbeirrt den fruchtigen Brotaufstrich auf ihr Brötchen, während ich mich fast erneut an dem heißen Kakao verbrannte. Verfluchte Scheiße, war der heiß. War mir heiß. Au Backe, hätte ich lieber die Klappe gehalten. Es war nicht so, dass ich kein Sex mit Bellina wollte, aber ich war immer noch Jungmann - die männliche Jungfrau - und ich wusste nicht, was ich machen müsste. Lennox würde ich dafür gewiss nicht fragen. Ich wollte meine eigenen Erfahrungen sammeln. Zusammen mit meiner hinreißenden Freundin.
"Nevis, bist du okay?"
Ich nickte nur und biss in die Hälfte von diesem süßen Seestern. "Verrätst du mir nun, wo wir hier sind?"
"Wurde meine Mutter von einer Birne in das Land der Träume geschickt?" Ich wollte es ihr gleich machen. Ihr eine Frage stellen, die auf die gleiche Antwort hinauslief. Nein, ich verriet es ihr nicht. Noch nicht.
"Nein."
"Tja, die Frage auf deine Antwort lautet genauso."
"Du bist fies", meine Prinzessin verschränkte grimmig die Arme vor der Brust.
"Gedulde dich."
"Gib mir einen Tipp. Wenigstens einen", verlangte sie. Ihr Geduldsfaden riss immer weiter. Wie lange würde ich sie wohl noch auf die Folter spannen können?
"Nö, den kriegst du noch früh genug."
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