Kapitel 22
Ich wache auf. Blinzel mit den Augen. Wo bin ich? Irgendwoher kommt mir die Räumlichkeit bekannt vor. Oder doch nicht? Nein, eigentlich habe ich keinen blassen Schimmer, wo ich mich befinde, warum ich mich hier befinde. Den Gedanken, dass mir dieser Ort vertraut vorkommt, habe ich mir nur eingeredet, damit ich meine Seele, meine Gedankengänge beruhigen kann. Auf einmal hängt mir eine Hundeschnauze vorm Gesicht. Ich erkenne, es ist mein Hund. Verschlafen begrüße ich ihn. „Hallo, Pongo. Na, alles klar? Weißt du vielleicht, wo wir sind?"
In Gedanken stelle ich mir vor, wie er über meine Frage den Kopf schüttelt. Stattdessen fällt mein Blick auf meine Klamotten, die zu meinem üblen Schock überhaupt nicht existieren. Jetzt bin ich hellwach. Und nackt. Vor allem nackt. Aber wieso? Was ist vorgefallen? Wieso bin ich hier und wo ist hier?? Weshalb bin ich nackt? Eichhörnchen in Himmel, helft mir! Gott, hilf mir, bitte, bitte!!!
An Alkohol kann es nicht liegen. So ein Zeug habe ich noch nie getrunken. Ich weiß, ich bin ein unnormaler Teenager, aber das entspricht der Wahrheit. Alkohol habe ich nicht mal probiert. Mein Vater, welcher Jäger war, hat früher fast jeden Tag mindestens ein Bier getrunken. Da Pongo allmählich unruhig wird, streichel ich ihn beruhigend. Doch nicht so wie sonst hilft es kaum. „Halloooooo?"
Mein Dalmatiner kläfft. Verflucht. Ich habe nichts, um mich zu bedecken. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist leer. Vielleicht ein Flur? Ich nehme den Raum genauer in Augenschein. Vermutlich wirklich ein Flur. Der Flur eines sehr alten Hauses. Es knarrt, aber auch ohne das Knarren hätte ich uns jemanden nähern gehört. Die Person ist bereits von der anderen Seite an der Tür und ist gewollt, diese zu öffnen. „Halt! Ich bin nackt."
„Das ist mir egal."
Die Person stößt die Tür auf und steht ebenso nackt vor mir. Es ist ein Mann. Blonde Haare mit bernsteinfarbenen Augen, die mich an ein mutiges Reh auf einer Wiese erinnern. Irgendwie beruhigen mich diese Augen ungemein. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Waldkind bin, Eichhörnchen zu meinen Lieblingstieren zählen. Doch er ist immer noch genauso nackt wie ich. Was ist hier los? Wurden wir beide vergewaltigt oder sowas? Nein. Oder? Oder??? Wie passt das alles hier zusammen? Wie? Zugegeben, der Mann vor mir ist nicht hässlich. Eher das Gegenteil. Er ist muskulös, aber tiefer zu schauen traue ich mich dann doch nicht. Ich stehe auf Frauen, doch nicht auf Jungs. Richtig? Oder habe ich irgendwas verpasst? Ich habe nichts gegen Jungs, die aufeinander stehen, aber ich weiß nicht, ob ich auf Jungs stehe. Ich räuspre mich, um mich und meine Gedanken zu sortieren. Zusätzlich schlucke ich. „W-wer bist du-u?", frage ich stotternd.
„Mein Name ist Hunter. Und wer bist du?"
„Jay. Hi, Hunter. Was machen wir hier und viel wichtiger, wo sind wir hier?"
„Frag mich nicht. Ich bin eben in dem Raum nebenan aufgewacht und kann mich an - warte - genau! Nichts erinnern. Ich weiß nicht, was wir hier suchen, warum wir nackt sind oder was du dich noch fragst. Ich kann dir keine deiner Fragen beantworten. Wo kommst du her? Das wäre eine Antwort, die uns womöglich weiterhelfen könnte."
„Ich, äh... komme aus... komme aus...", versuche ich einen vernünftigen Satz rauszubringen. Diesmal liegt es jedoch nicht daran, dass ich dem Mann nicht in die Augen sehen möchte oder verunsichert bin, sondern, weil ich niemandem sagen kann, beziehungsweise darf, woher ich komme. Was ist, wenn ich mich in der Menschenwelt mit einem Menschen aus eben dieser Welt befinde? Klar, er ist ein Mensch, aber ich meine, ich komme aus einer komplett anderen Welt, in der es mich und andere Menschen gibt, aber von dieser Welt darf niemand wissen, das wurde uns stets beigebracht. Daher verstumme ich jetzt lieber.
„Du willst es mir also nicht sagen. Verstehe. Ich komme, bitte lach mich nicht aus oder halte mich für verrückt, wobei mir das nach diesem Tag eh egal wäre, aber ich komme aus dem Märchenwald."
„Was, du auch?" Scheiß drauf, jetzt ist es raus. Und wenn er auch aus meiner Heimat kommt, ist es wohl nicht ganz so schlimm. Hauptsache, ich behalte nur recht mit meinen Gedanken.
„Du glaubst mir?", hakt er verwundert nach.
„Ja klar. Ich komme ebenso aus dem Märchenwald. Bist du ein Autor oder eine Märchenfigur?"
Zweifelnd sieht er mich an. Dann atmet er laut auf. „Märchenfigur. Also wenn man das so nennen mag. Ein eigenes Märchen habe ich nicht, doch meine Eltern. Mehr oder minder. Oder nur eine Geschichte, wie man es nehmen will. Meine Mutter ist bekannt als Dorothy Anja Gayle, besser gesagt nur noch als Anja. Kennst du sie?"
„Dorothy von Oz? Die Heldin? Unter dem Namen Anja sagt sie mir nichts."
„Anja ist ihr zweiter Vorname, von dem niemand wusste. Nach Beendigung ihrer Geschichte hat sie sich so genannt. Sie wollte abtauchen, um alle zu schützen. Dann lernte sie meinen Vater kennen oder was auch immer er ist. Als Heldin würde ich sie nicht bezeichnen."
„Retterin?", biete ich an.
„Nichts. Sie ist nichts. Nur eine unbedeutende Figur, Punkt. Zufrieden?", pampt er. Hm, schwierige Familienangelegenheit würde ich tippen, darum lenke ich das Thema auf seinen Vater zurück. „Wer ist dein Vater?"
„Langsam fange ich an, es nicht mehr zu wissen. Eigentlich dachte ich, es wäre der Jäger, der Rotkäppchen vor dem Bösen Wolf beschützte."
„Und das ist nicht mehr so?"
„Ist kompliziert. Vergiss es."
„Wenn du reden willst, ich habe dich bereits nackt gesehen, von daher denke ich - und du hast mich jetzt schließlich auch nackt gesehen - kannst du dich mir anvertrauen."
Statt einem Danke oder etwas in der Art, nickt er nur. Er klatscht mit den Händen, wahrscheinlich, um sich selbst abzulenken von seinen Problemen. Mich interessiert ja wirklich brennend, was passiert ist, aber solange er nicht von sich aus drüber reden mag, gebe ich dem Typen, den ich kaum kenne, seine Freiheit. Es wäre unhöflich, ihn zu bedrängen. „Wer sind deine Eltern?"
„Imke und Florian. Mein Vater war ebenso Jäger. Nur der Jäger aus Schneewittchen, aber er ist tot. Dazu habe ich noch drei Schwestern - Edeltraud, Walda und Knuthilde. Hast du Geschwister?"
„Das mit deinen Vater tut mir leid", sagt er bloß.
„Hast du Geschwister?", wiederhole ich meine Frage erneut.
„Ja. Nein. Keine Ahnung. Vielleicht."
„Du weißt nicht, ob du Geschwister hast?"
„Nein, weiß ich nicht. Also einigen wir uns auf vielleicht und suchen uns jetzt endlich was zum anziehen."
Ich schlinge meine Arme um mich. „Ist dir auch kalt?"
„Nein", kommt es von ihm so schnell, dass es mir unglaubwürdig erscheint. Dennoch sage ich nichts dazu. Soll er doch sagen, was er will. Ich kenne ihn nicht, er kennt mich nicht. Wir kennen uns nicht, um es kurz zu fassen. Wir sind uns fremd.
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