Ostseesand
Es war sonnig und das Meer rauschte in seinen Ohren.
Vorsichtig kletterte er über die glatten Steine den Abhang hinunter, auf eine mit grünen Gräsern geschmückte Stelle zu, breitete seine Picknickdecke dort aus und ließ sich nieder.
Warme Sonnenstrahlen schienen ihm ins Gesicht und geblendet schloss er für einen Moment die Augen.
Er hörte, wie sanfte Wellen an der Küste schäumten und roch die salzige Meeresluft.
Ja, es hatte sich gelohnt, nach so langer Zeit wieder hierher zu kommen. An sein verstecktes Plätzchen, wo niemand sonst hin kam. Sein kleiner Zufluchtsort, von Salzwasser umrahmt, von saftig grünen Gräsern gespickt, mitten im feinen Ostseesand. Nach so langer Zeit war er endlich wieder hier und hoffte, dass das Meer ihm wohl Antworten zu den vielen Fragen in seinem Kopf gab, auch wenn er wusste, dass eigentlich nur er selbst sich diese Antworten geben konnte.
Nach einer Weile begann er, in seinem kaffeebraunen Vintage-Rucksack, der aus unerfindlichen Gründen schon wieder voller Meeressand war, zu kramen und zog schließlich eine leicht warme, noch ziemlich volle Colaflasche heraus, die er begierig öffnete und an seine Lippen setzte.
Die zuckrig warme Flüssigkeit rann ihm den Hals hinab und ließ einen eklig süßen Geschmack im Mund zurück, weshalb er die nun zu einem Viertel leere Flasche zurück in den Rucksack schmiss und wieder die Augen schloss.
Er ließ seine Sorgen und Fragen hinaus aufs Meer treiben, weit weg von sich, und dachte an nichts, außer an diesen Moment, in dem er an einem versteckten Plätzchen der Ostsee auf einer Picknickdecke saß und ihm die Sonne ins Gesicht schien.
Doch es fühlte sich an, als würde mit jeder am Strand zerschellenden Welle eine verbannte Frage und eine vergessene Sorge zurück an Land gespült werden, wo sie alle wieder in seinen Kopf stiegen. Wieder dachte er über sie nach und wieder fand er weder Lösung, noch Antwort oder Kompromiss.
So vergingen Stunden, in denen er nur an diesem Platz saß und sich selbst, das Meer und die ganze Welt fragte, was nun sein sollte.
»Alles okay?«
Die fremde Stimme hatte einen leicht melodischen, weichen Klang, der ihn dazu verleitete, leicht konfuß die Augen zu öffnen.
Ein Junge mit kastanienbraunem Haar lächelte ihn leicht verunsichert an und hockte sich vor die Picknickdecke, auf der er saß.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, da er sich nicht von den azurblauen, schönen Augen des Fremden lösen konnte.
Sie waren noch schöner als das klare Meerwasser, was sanft im Hintergrund rauschte.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte er schließlich, ohne auf die Frage des Fremden eingegangen zu sein.
Der Junge schien zuerst verdutzt, doch dann quetschte er sich neben ihn auf die Decke und begann zu erzählen.
»Naja, ich liebe diesen Ort.«
Ihre Schultern berührten sich leicht und ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.
»Ich bin hier fast täglich. Meine Oma wohnt ganz in der Nähe und als ich klein war, hab ich diese Stelle mal entdeckt.«
Ihre Knie berührten sich leicht, doch keiner von beiden zog seins weg. Plötzlich war es, als würden sie alles intensiver hören, sehen und riechen. Die satten Farben dieses Ortes, das auf auf einmal lautere Rauschen des Meeres, die frische, salzige Luft. Beide spürten eine gewisse Spannung, als sie sich in die Augen sahen.
»Ich hab dich seit ungefähr einer Stunde beobachtet«, fuhr der Junge schließlich fort.
»Weißt du, ich wollte eben mal wieder hierher, aber dann hab ich dich gesehen und naja, ich hab mich nicht getraut, näher zu kommen. Du... du warst so in Gedanken und hattest die Augen geschlossen... Es sah so malerisch und so wunderschön aus. Tut mir leid, dass ich doch einfach zu dir gekommen bin, aber du hast dich fast gar nicht gerührt und ich hab mir halt Sorgen gemacht.«
Der Fremde hatte leicht gerötete Wangen und starrte intensiv aufs Meer hinaus. Es war ihm wohl peinlich, seinen Gesprächspartner anzusehen. Er schmunzelte den Jungen an und blickte ebenfalls aufs Meer.
»Wie heißt du?«, fragte er nach ein paar Minuten und legte seine Hand auf die des Jungens. Dieser ließ es geschehen, sagte aber nichts dazu.
»Leon. Ich heiße Leon. Und du?«
Sanft umschlangen seine Finger Leons und er lächelte jenem in diese tiefblauen Augen, während er sprach.
»Niko.«
Ein langes Schweigen folgte, in dem Leon seine Augen schloss und ihm der mittlerweile starke Ostseewind das Haar zerzauste.
»Niko. Ein schöner Name. Gefällt mir.«
»Das freut mich. Also, Leon, darf ich dich was fragen?«
Überrascht schaute ihn jener an und nickte dann, während ihre Hände immer noch ineinander verschlungen waren.
»Warum bist du hier?«
Es war, als hätten die Wellen die Frage hinaus aufs Meer getragen, als hätte Leon sie sofort wieder vergessen, bis sie wieder angespült wurde und Leon sagte:
»Wie meinst du das?«
»Ich bin früher immer nur hierher gekommen, wenn es mir schlecht ging, oder wenn ich allein über etwas nachdenken musste. Und ich bin sicher, dass das bei dir auch so ist, oder irre ich mich?«
Niko strich dem Brünetten mit der freien Hand ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und streichelte sanft über Leons Haarschopf.
»Ich kann dir wohl nichts vormachen, was? Naja, meine Oma ist vor ein paar Tagen gestorben und ich vermisse sie sehr.«
»Oh. Ich verstehe.«
»Das freut mich.«
Wieder herrschte eine Weile schweigen, in der Leon sich an ihm lehnte. Irgendwie war es magisch, hier zu zweit zu sitzen, so eng bei einander, auch wenn es sich zugleich so anfühlte, als wären sie eigentlich hunderte Kilometer von einander entfernt.
»Und warum bist du jetzt hier? Sicher nicht, um irgendwelche siebzehnjährige Jungs zu trösten, dessen Oma gestorben ist, oder?«
»Nein, da hast du Recht, auch wenn ich froh bin, dir trotzdem begegnet zu sein.«
»Ich fühle mich geschmeichelt und gebe das Kompliment gern zurück. Also, was ist los?«
Niko seufzte nur und zuckte die Schultern.
»Ich hab einfach keine Ahnung, was ich mit meinem Leben machen soll. Ich bin jetzt schon neunzehn, hab mein Abi in der Tasche und keinen Plan. Was soll jetzt aus mir werden? Wie geht es weiter? Soll ich studieren? Einen Bürojob machen? Was will ich vom Leben? Ich kann kann einfach keine dieser Fragen beantworten und mir läuft die Zeit davon.«
»Tjah, ist wohl eine ziemlich schwere Entscheidung. Ich hab auch nur noch ein Jahr Zeit, um mir was zu überlegen. Viel Glück.«
»Mhm.«
Er kuschelte sich noch näher an Leon, bis dieser sich schließlich zwischen Nikos Beine setzte und sich an dessen Rücken lehnte.
»Vielleicht brauchst du auch einfach keine Antwort auf deine Fragen. Reicht es nicht, wenn es ewig so wäre, wie jetzt? Ich weiß zwar auch nicht, was genau wir hier gerade machen, aber... es fühlt sich gut an. Und so soll es irgendwie für immer bleiben.«
Leon drehte sich so, dass sie sich beide wieder in die Augen sehen konnten und nahm Nikos Hände in seine.
»Bleib bei mir«, flüsterte er und unweigerlich füllten sich seine Augen mit Tränen.
»Ich will nicht, dass mich wieder jemand verlässt, den ich... den ich liebe.«
Niko legte die Arme um den Jüngeren und drückte ihn an sich, so dass dieser sich bei ihm ausweinte. Die Berührung war schon wieder so magisch. Einfach immer, seit sie sich vorhin berührten, war da dieses Gefühl von Geborgenheit, von Sanftheit.
»Leon«, flüsterte er, als er spürte, dass der Brünette sich wieder beruhigt hatte.
»Wenn du mich Taugenichts willst, dann bleibe ich bei dir.«
»Ja! Natürlich will ich dich!«
Wieder liefen ihm Tränen über die Wangen, die er versuchte, wegzuwischen.
»Na dann. Vielleicht sind alle Antworten, die ich brauche, ja genau hier.«
Vorsichtig legte er eine Hand unter Leons Kinn, zog diesen näher zu sich und küsste ihn. Beide schmeckten sie salzige Tränen, die Meeresluft und den leicht zuckrigen Nachgeschmack der Cola, von der Niko getrunken hatte.
Und in diesem Moment wurde ihnen klar, dass es egal war, was noch passieren würde oder für was sie sich entscheiden würden. Es war ihr Moment. Ihr Leben. Ihr Kuss zwischen Meer und Ostseesand, an den sie sich ewig erinnern würden.
Leon wusste jetzt, dass egal was passierte, es würde immer jemanden geben, der ihn davor rettete, vom Meer der Verzweiflung gegen die Felsen geschleudert zu werden. Er war nicht mehr allein.
Und Niko erkannte, dass es nicht schlimm war, nicht zu wissen, was er wollte, sondern dass er alles einfach so plötzlich auf sich zukommen lassen sollte, wie eine Welle am Strand zerschäumte.
So passierte es, dass zwei Leben sich nur vom Zauber des Meeres, der Luft und des schimmernden Ostseesandes von Grund auf veränderten.
Egal, was im Leben passiert, oder was für Entscheidungen man treffen muss, so gibt es doch immer jemanden, der für einen da sein wird, auch wenn er noch so plötzlich und unvorbereitet wie vom Meer des Lebens an deinen Strand angespült wird.
Es wird immer jemand da sein.
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