
☆Oskar☆ ☆3☆
“Aufstehen, Oskar!"
Als ich meine Augen öffne, steht Papa vor mir.
Er sieht anders aus als sonst.
Älter.
"Wir müssen einiges erledigen. Du musst mitkommen. Ich kann dich nicht alleine lassen!"
Er verlässt den Raum.
Ich stehe auf und laufe auf direktem Weg in das Badezimmer.
Mein Blick wandert zu der Stelle, an der Mama heute morgen noch lag.
Die weißen Fugen des Fliesenboden sind rot.
Rot von dem Blut, das aus ihren Handgelenken gelaufen ist.
Auch ihre Oberschenkel waren voller Blut.
Lasse mich auf die Knie fallen, mein Finger gleitet über die Fugen.
Frei.
Mama ist frei.
Lege mich auf den Boden, über die roten Fugen, fühle mich ihr verbunden.
Sage ihr in Gedanken, dass es in Ordnung ist, dass sie gegangen ist und nie wieder kommen wird.
Ob ich ihr folgen dürfte?
Würde ich sie in ihrer Ruhe stören?
"Oskar?" Papa betritt das Badezimmer.
Bleibt neben mir stehen und mustert mich.
"Was machst du da?" Seine Stimme ist ganz leise, kaum zu hören.
Ich öffne die Augen, schaue ihn an.
"Bist du traurig? Weißt du überhaupt, was das ist? Verstehst du überhaupt, was passiert ist?" Die Worte hören sich zunehmend brüchiger an.
Er setzt sich auf den Rand der Badewanne, Flüssigkeit tritt aus seinen Augen hervor.
"Was mache ich denn jetzt nur? Warum bist du nur so anders wie dein Bruder? Warum weinst du nicht? Warum zeigst du nicht, wie du dich fühlst? WARUM REDEST DU NICHT MEHR?"
Wütend.
Er ist wütend auf mich, weil ich gestört bin, wie er immer sagt.
So gestört wie er denkt, bin ich gar nicht.
Ich kann viel besser und schneller lesen als mein Bruder.
Nicht laut, nein, aber in meinem Kopf.
Ich kann viel besser und schneller rechnen.
Schöner schreiben.
Schöner malen.
Artiger sein.
Aber er sieht nur das, was ich nicht kann, nicht ertrage.
Ich erkenne nicht alle Gefühle und kann mir nicht merken, welcher Gesichtsausdruck zu welchem Gefühl passt.
Weiß manchmal nicht, wie sich Gefühle anfühlen.
Habe keinerlei Empathie, hat der Arzt gesagt.
Aber ganz stimmt das auch nicht, doch das wissen sie nicht.
Sie haben nie zugehört, als ich ihnen das erklären wollte.
Haben nie gefragt, was in mir vorgeht.
Darum habe ich aufgehört es zu versuchen.
Habe aufgehört zu reden und bin stumm geworden.
Ob ich noch reden kann, weiß ich nicht.
Bisher hat es ganz ohne Worte geklappt und ich habe es nicht mehr versucht.
"Immer das gleiche mit dir! Nur Arbeit und Sorgen bescherst du uns. Wegen dir ist Mama krank geworden.... und jetzt? Jetzt ist sie weg und kommt nie wieder. NIE WIEDER! HAST DU DAS VERSTANDEN?"
Er lässt sich auf die Knie fallen, umfasst mit beiden Händen mein Gesicht.
Schmerz.
Papa drückt fest zu, zittert.
"OB DU DAS VERSTANDEN HAST? OSKAR!!!! SAG DOCH ETWAS. SAG MIR, OB DU DAS VERSTEHST!"
Natürlich verstehe ich es, Papa.
Jedes einzelne Wort.
Verstehe, dass du traurig sein musst, obwohl es Mama jetzt besser geht.
Ich murre auf.
Seine Handflächen brennen sich in meine Haut ein, er weiß es, lässt aber nicht los.
"SAG MIR DAS ES DIR WEH TUT! ÖFFNE DEINEN MUND UND SAG ES!"
Ich kann es nicht.
Versuche, seine Hände von mir wegzudrücken.
Schaffe es nicht, da er zu stark ist.
Er lässt von mir ab, aber nur, um mich Sekunden später unter den Armen zu packen und mich fest an seinen Körper zu ziehen.
Seine Arme schlingen sich um meinen Körper, drücken so fest zu, bis mir fast die Luft zum Atmen fehlt.
"SAG MIR, DASS ES DIR WEH TUT UND ICH LASS DICH LOS!"
Versuche mich panisch von seinem Griff zu befreien.
Strample, schlage mit meinen Fäusten auf ihn ein.
Schaffe es nicht.
Seine Hand legt sich um meinen Kiefer, drückt fest zu und bewegt ihn, damit er sich öffnet und schließt.
"SO BEWEGT MAN DEN MUND UM SPRECHEN ZU KÖNNEN, FALLS DU DAS VERGESSEN HAST. SAG ES JETZT! SAG, DAS ICH DIR SCHMERZEN ZUFÜGE UND DANN HÖRE ICH AUF!!" Sein Schreien hallt durch das ganze Haus.
Mein Kiefer schmerzt.
Schmerzt unendlich.
Meine Haut brennt überall dort, wo er mich berührt.
"Papa? Was machst du mit Oskar? Lass ihn los! Er kann nicht reden!" Steven betritt das Badezimmer.
Schüttelt Papa an der Schulter, damit er wieder zu Sinnen kommt.
Er schafft es.
Papa lässt locker, lässt seinen Kopf in den Nacken fallen.
"Es tut mir leid, Oskar... Aber du machst mich immer so wütend. Richtig wütend!"
Es klingelt an der Haustüre.
"Ich gehe schon." Steven verschwindet wieder aus dem Zimmer und ruft kurze Zeit später nach Papa.
Er legt mich auf den Boden zurück und verschwindet.
Mein Körper schmerzt.
Das kann ich fühlen.
Schmerz.
Ich ziehe mein Oberteil aus und lege mich flach auf den Boden, um die Kälte zu spüren.
Meine Augen schließen sich ganz automatisch.
Stimmen sind zu hören.
Papa ist sehr laut.
Da sind nochmal zwei Männerstimmen und auch eine von einer Frau.
Lange Zeit passiert nichts.
Irgendwann betritt eine Person den Raum.
Setzt sich neben mich.
Papa kann es nicht sein, der hätte schon längst etwas gesagt.
Ich öffne ein Auge, um zu sehen, wer das ist.
Ein Mann in Uniform.
Polizeiuniform.
Der Blonde, von heute Morgen.
"Hey. Weißt du noch wer ich bin? Ich bin Moritz. War heute Nacht schon da!"
Ich nicke leicht und schließe wieder mein Auge, um seiner Stimme zu lauschen.
"Vielleicht fragst du dich, warum wir hier sind... Alex ist auch da. Der Arzt. Weißt du noch? Und eine Frau. Die möchte sich gerne überzeugen, dass es dir gut geht. Du brauchst keine Angst zu haben, wir wollen dir nichts Böses!"
Ich nicke leicht, denke, er hat es verdient.
Er achtet auf meine Körpersprache.
"Warum bist du so rot am Rücken?"
Ich öffne meine Augen, schaue ihn an.
Habe das Gefühl, er kann das Geschehene dort ablesen.
"ALEX?"
Während wir auf den Arzt warten, schauen wir uns nonstop in die Augen.
Er lächelt.
Es gefällt mir, das verändert sein Gesicht.
"Was denn, Moritz?" Der Arzt kommt hereingelaufen, setzt sich neben den Polizist.
"Schau dir bitte seinen Rücken an!"
"Ich weiß was los ist... Steven hat es mir gerade erzählt", seufzt der Arzt.
"Wie? Was hat er dir erzählt?" Moritz schaut fragend zu seinem Nebenmann.
"Astrid hat gerade mit Oskars Vater gesprochen und Steven hat mich zur Seite gezogen. Er hat erzählt, das Oskar heute wieder Schmerzen zugefügt wurden. Nicht das erste mal!" Sein Blick brennt auf mir.
"Wenn das stimmt, wird sein Kiefer bald ebenfalls in sattem Blau erstrahlen!"
Schweigen.
"Wie stehen die Karten?", will Moritz wissen.
"Zumindest werden wir Oskar mitnehmen können, um ihn durchzuchecken. Kommst du mit?" Alex fixiert den Polizist mit seinen Blicken.
Moritz schaut wieder zu mir, legt seinen Kopf schief:
"Möchtest du denn, dass ich mit dir mitkomme?"
Ja, das möchte ich.
Er gibt sich Mühe, möchte mich verstehen.
Mein schwaches Nicken verschafft beiden Männern ein kleines Lächeln.
Was auf mich zukommt, weiß ich nicht, aber Angst habe ich keine.
Warum?
Weil ich nicht weiß, was Angst bedeutet.
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