
☆Oskar☆ ☆12☆
Der Tag ist schon längst angebrochen.
Mein Zimmer braucht kein Licht mehr, weil die Sonne scheint und sie die Dunkelheit weggeschickt hat.
Das Auto steht nicht mehr an der Straße.
Das war das erste, was ich überprüft habe, als ich aufgewacht bin.
Mein Bauch schmerzt und macht komische Geräusche.
Papa und Steven sind auch schon wach.
Ich höre Papa reden und Steven ab und zu weinen.
Sie können Mama immer noch nicht loslassen und denken, dass es ihr bei uns besser ergangen wäre.
Ich weiß, dass es ihr gut geht, dort wo sie jetzt ist.
Gerne würde ich mein Zimmer verlassen, etwas essen und in den Garten gehen, aber ich traue mich nicht.
Darum warte ich.
Warte, bis Papa es mir erlaubt.
Setze mich an meinen kleinen Tisch und schreibe Moritz' Namen auf ein Blatt Papier.
Mit blauer Farbe.
So blau wie seine Augen.
Daneben male ich einen Streifenwagen, weil Moritz Polizist ist.
Um das restliche Blatt zu füllen, schreibe ich in kleinster Schrift mit minimalem Abstand hundertfach Moritz auf das Papier, bis es komplett beschrieben ist.
Anschließend zähle ich meine Bücher in dem Regal neben dem Kleiderschrank.
Fünf.
Die Knöpfe an meiner Bettwäsche.
Sechs.
Die schwarzen Streifen, die Papas Schuhe auf dem Boden hinterlassen haben, weil er seine Schuhe nicht ausgezogen hat.
Mama hätte ihn dafür geschimpft.
Siebzehn.
Die Stuhlbeine.
Vier.
Die Luftblasen unter meiner Tapete, weil Papa keine Walze zum Glatt streichen benutzt hat, so wie Mama es gesagt hat.
Neunzehn.
Die blutroten Flecken an der Decke, die entstanden sind, weil Mama die nervenden Stechmücken getötet hat.
Neun.
Ob Mama jetzt bei den Stechmücken ist?
Hoffentlich nicht.
Sie hat keines meiner Mathehefter mitgenommen, die sie zum Totschlagen immer benutzt hat und wird bestimmt gestochen.
Ich notiere die sechs Zahlen auf einem neuen Blatt Papier und rechne auf jede erdenkliche Art mit ihnen.
Manchmal tausche ich das Additionszeichen gegen den Strich der Subtraktion aus und füge hier und da einen Multiplikator ein.
Nachdem kein weißer Fleck mehr auf der Vorder- und Rückseite zu finden ist, lege ich meinen Stift zur Seite und zähle, wie viele Aufgaben ich auf der Vorderseite aufgeschrieben habe.
Als ich mir gerade die Rückseite vornehme, höre ich, wie sich die Klinke meiner Türe bewegt.
Papa setzt sich auf mein Bett und klopft neben sich auf die Matratze.
Ich setze mich sofort brav neben ihn und hoffe, dass ich gleich etwas essen darf.
"Oskar?"
Meine Augen fixieren Papas braune Augen, die von einem roten Schleier umgeben sind.
Moritz' Augen sind blau und leuchten sehr intensiv.
Er sieht mich.
Papa will mich nicht sehen.
"Das geht so nicht weiter. Du musst reden. Wenn du nicht mit mir redest, darfst du in zwei Tagen nicht auf die Beerdigung. Das ist doch ein guter Grund, um endlich den Mund aufzumachen, oder etwa nicht?"
Zitternde Mundwinkel, kleine Augen.
Ist er böse oder freut er sich?
Moritz hatte noch nie so einen Blick.
Dann ist das bestimmt ein verärgerter Blick.
"Ich habe dich etwas gefragt, Oskar!"
Schaue auf meine Füße, die den Boden nicht erreichen.
Wackele mit den Zehen und bemerke, dass die Nägel schon viel zu lang sind.
Mama hat sie immer mit einer Schere gekürzt.
Ob Papa das jetzt macht?
Papa macht einen komischen Laut und steht auf, um mein Zimmer wieder zu verlassen.
"Iss etwas, wenn du Hunger hast! Ansonsten bleibst du in deinem Zimmer, außer du redest endlich. Wenn es dunkel wird, gehst du ins Bett."
Kurz bevor er die Türe schließt, bleibt er stehen.
"Du musst reden, Oskar. Das bist du mir schuldig. Nur wegen dir ist Mama tot!"
Nein, nicht ich bin schuld, dass Mama gehen wollte.
Es waren die Stimmen in ihrem Kopf, die ihr den Himmel schön geredet haben.
Papa versteht das nicht, weil er Mama nie richtig zugehört hat.
Wenn die Stimmen mich geholt hätten, wäre er sicherlich glücklicher.
Ich lasse mich rückwärts ins Bett fallen und strecke die Arme aus.
Der Bettbezug ist angenehm kühl.
Hunger habe ich plötzlich gar nicht mehr.
Die Türe fällt mit einem lauten Knall ins Schloss und ich bin wieder alleine.
Das bleibe ich auch den restlichen Tag, während ich immer wieder den Stimmmustern von Papa und meinem Bruder lausche.
Irgendwann schleicht sich ein guter Geruch in meine Nase, der laute Geräusche in meinem Bauch verursacht.
Das hört sich nicht schön an und verursacht leichte Schmerzen.
Bestimmt will mein Bauch endlich etwas zu essen haben.
Ob ich zu Papa und Steven gehen und mit ihnen essen darf?
Ich beobachte eine Zeit lang die Türe und hoffe, dass Papa vielleicht kommt und mir sagt, dass ich kommen darf.
Doch auch nachdem ich bis dreihundert gezählt habe, ist er nicht gekommen und ich bin mir sicher, dass er mich nicht bei sich haben will.
Die Bauchschmerzen gehen irgendwann von alleine weg, als ich im Bett liege und die Decke anstarre.
Ich überlege, ob Moritz so anders ist, weil er Polizist ist.
Ob alle Polizisten so sind wie er?
~○~○~○~
Die Sonnenstrahlen wecken mich am nächsten Morgen.
Das laute Knallen einer Türe lässt mich kurz zusammenzucken.
Im Haus ist es ganz still.
Papa muss mit Steven weggegangen sein.
Damit mein Bauch heute nicht wieder so komische Geräusche von sich gibt, stehe ich schnell auf und laufe zur Türe.
Vorsichtig und leise öffne ich diese und schaue in den Flur, ob sich dort jemand aufhält.
Niemand.
Meine nackten Füße tapsen in vorsichtigen Bewegungen über den alten Fußboden, damit ich nicht so viel Krach mache.
In der Küche angekommen, gehe ich zu dem gelben Metallkasten, der neben dem Kühlschrank steht und nehme mir ein Brötchen.
Mama hat immer gesagt, dass ich kein Messer benutzen soll, wenn ich alleine bin, weil ich mich das letzte Mal verletzt habe.
Rote Tropfen kamen aus meinem Finger, die von dem gebackenen Teig in meiner Hand aufgesogen wurden.
Bei mir wurde daraus kein roter See, so wie bei Mama.
Bei mir waren keine Stimmen, die mir gesagt haben, dass ich mit ihnen gehen soll.
Die einzige Stimme, die etwas gesagt hat, war Papas Stimme.
Er hat gesagt, dass das passiert ist, weil ich dumm und gestört bin.
Ich esse das Brötchen so schnell ich kann und laufe danach ins Badezimmer, um Mama einen Moment nahe zu sein.
Als ich den Raum betrete, fällt mein Blick sofort auf die Fugen.
Sie sind nicht mehr so rot wie an dem Tag, an dem Mama sich befreit hat.
Mein T-Shirt fällt neben mir zu Boden, bevor ich mich auf die Fliesen lege und mit meinem Finger die Umrisse des Blutmeer nachziehe.
Ob jeder Mensch so viel rote Flüssigkeit in seinem Körper hat?
Warum hat der Arzt so ein komisches Gesicht gemacht, als ich ihn bei seiner Arbeit beobachtet habe?
Hat er vielleicht auch gesehen, dass ich gestört bin?
Moritz sieht es nicht, sonst hätte er bestimmt schon etwas gesagt.
Wie aus dem Nichts, legt sich eine Hand um meinen rechten Oberarm und drückt schmerzhaft fest zu.
In einem Ruck werde ich auf die Füße gezogen und sehe Papas Gesicht, das ganz rot ist.
Nicht so rot wie das Blut von Mama.
"Tu doch nicht so scheinheilig! An deiner Mutter lag dir nie etwas. Nie hast du mit ihr gesprochen, hast sie krank gemacht! Du magst es kalt? Ich gebe dir so viel kaltes Gefühl, wie du willst!"
Papa reißt mir meine Hose vom Körper und hinterlässt mit seinen Fingernägeln rote Striemen an meinem Bauch.
Ob Mama ihm auch immer seine Nägel geschnitten hat und er es nicht selber kann?
Die roten Spuren auf meiner Haut brennen und verursachen ein komisches Gefühl in mir.
Mit beiden Händen unter meinen Armen zieht Papa mich in die Höhe, stellt mich in die Badewanne und drückt mich an meinen Schultern nach unten.
Kaum berührt mein Po den Boden, strömt kaltes Wasser über meinen Kopf.
Eiskaltes Wasser.
"Ist dir kalt genug? Ich stelle das Wasser erst aus, wenn du sagst, dass ich es tun soll!"
Mein Körper zittert.
Das ist zu viel Kälte, weil es nichts Warmes in meinem Inneren gibt, das ausgelöscht werden muss.
"Sag es!"
Die Wassertropfen stechen auf meiner Haut.
Ich umfasse meine Knie mit den Armen und lege meine Stirn darauf ab.
"SAG ES JETZT ENDLICH, OSKAR! REDE! WARUM HAT GOTT DIR EINEN MUND GEGEBEN, WENN DU NICHT REDEST?"
Es klingelt an der Haustüre.
Papa murrt komisch vor sich hin.
"Wehe du stellst das Wasser ab oder kletterst aus der Wanne!"
Nach einem weiteren Klingeln verlässt er das Badezimmer.
Ich kann das Wasser fast schon nicht mehr spüren, nur die Kälte, die sich überall in meinem Körper ausbreitet.
Alles wird taub.
Ob Mama sich so gefühlt hat, als das ganze Blut aus ihrem Körper ausgelaufen ist?
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