☆Moritz☆ ☆6☆
"Diese Tatsache werde ich dem Vater natürlich auch vor Augen führen. Wir müssen ihm allerdings die Chance geben, sich in seiner Rolle neu zu orientieren! Es herrschen neue Lebensumstände"
Mir scheint, die Jugendamtsmitarbeiterin hat keine Lust, sich einen neuen Fall aufzubürden.
"Ach und sie meinen, dass diese neuen Lebensumstände die Situation verbessern?" Mein Kampfgeist ist geweckt.
So einfach gebe ich nicht auf.
"Herr Breuer, ich muss doch wohl bitten. Gehen Sie Ihrer Arbeit nach und ich meiner!", gibt sie schnippisch von sich.
Beiße mir auf die Zunge, um meine daraufliegenden Worte zu schlucken.
Wenn ich sie jetzt eine blöde Kuh nenne, ist das weniger professionell.
Wende meinen Blick ab, schaue zu Oskar.
Er beobachtet mich.
Interessiert, könnte man meinen und doch irgendwie ausdruckslos.
Der Psychologe hat mich stets im Blick.
Sollte sein Augenmerk auf die Frau mit Realitätsverlust lenken, nicht auf mich.
"Wissen Sie, Herr Breuer hat da gar nicht so Unrecht!", schält sich jetzt endlich auch mal Alex ein.
"So? Hat er?"
"Wenn sie die verblassten Hämatome sehen und hier die neu hinzugefügten, müssen wir davon ausgehen, dass der Vater nicht davor zurückschrecken wird Gewalt anzuwenden. Oskar redet nicht und wird ihm auch nicht sagen, dass er aufhören soll. Was unter Umständen nicht einmal etwas bringen würde." Alex legt die Fakten auf den Tisch, doch wieder scheint die Frau unbeeindruckt:
"Dann werden wir das überwachen. Wöchentliche Kontrolle!"
Ich lache ungläubig auf, kann es mir nicht verkneifen.
Frau Karrenführ scheint das nicht sonderlich zu gefallen:
"Herr Breuer. Ihr Verhalten ist nicht gerade angemessen. Bedenken Sie doch bitte, daß dieses Kind seine Mutter, eine Bezugsperson, verloren hat. Was würde passieren, wenn ich ihn der noch bleibenden Familie entreißen würde? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?"
‘BESSER WÜRDE ES IHM GEHEN!’ möchte ich ihr ins Gesicht schreien.
Beherrsche mich.
"Können wir das ganze denn eigentlich nicht ohne Oskar besprechen? Er hat Ohren, mit denen er unser Gespräch mitverfolgen kann. Sie benehmen sich aber gerade so, als könnte er es nicht begreifen", zische ich die Frau, die mir ein riesengroßer Dorn im Auge ist, an.
Das Jugendamt sollte uns helfen und uns unterstützen.
Aber nein, diese Frau arbeitet eher gegen uns.
"Da muss ich Herrn Breuer wirklich zustimmen", meldet der Psychologe sich auch mal wieder zu Wort.
"Ich denke, dass wir fertig sind. Ich rede mit dem Vater, veranlasse Kontrollbesuche und Herr Hetkamp könnte einmal wöchentlich einen körperlichen Check vornehmen. Unter Umständen überlegt sich dann der Vater, ob er nochmals etwas fester zugreifen wird."
"Dann muss Oskar erst weitere Schmerzen erleiden, bevor ihm geholfen wird?"
Frau Karrenführ steht auf, wirft einen Abschiedsgruß in die Runde und verlässt den Raum.
So kann man einer Konversation auch aus dem Weg gehen.
Ich fahre mir mit beiden Händen durchs Gesicht.
Das darf doch nicht wahr sein.
"Wissen Sie, Herr Breuer, das Jugendamt sucht immer erst nach Möglichkeiten, wie die Misshandlungen abgewendet werden können, ohne dass das Kind aus der Familie genommen werden muss. Wenn das nicht gelingt, wird das Kind in Inobhutnahme gebracht!"
"Mir sind die Vorgänge bekannt, Herr Dr. Wetzel. Aber es ist hier doch offensichtlich. Außerdem haben Sie uns doch ebenfalls geschildert, dass der Vater sein Kind nicht akzeptiert!"
"Ihr Engagement ist lobenswert. Ich biete einen Vorschlag: Ich mache Ihnen einen Bericht fertig, über die familiären Umstände, meine Eindrücke etc. Ihr Kollege hier erstellt einen ärztlichen Bericht, inklusive der Aussage des Bruders und dann gehen Sie damit zum Jugendamt und legen dort Beschwerde ein. Führen die Beweise auf. Versuchen Sie, den Jungen zu retten. Er hat es verdient!"
"Mehr ist nicht drin?"
"So leid es mir tut!"
Ich beobachte wieder den Jungen.
Er hat die Augen geschlossen und scheint sich entspannt zu haben.
Die ganze Anspannung liegt nun auf mir.
Vielleicht sollte ich mich dazulegen.
"Warum haben sie solch ein Interesse an dem Jungen?", stellt der Arzt die Frage der Fragen.
Kann es selbst nicht beantworten.
Mitleid?
Ja, aber nicht nur.
Interesse?
Sehr großes sogar.
Schlechtes Bauchgefühl?
Hundert Prozent.
"Warum nicht?", kontere ich mit einer Gegenfrage.
Alex grinst.
"Nun ja. Er ist ihnen fremd. Sie haben ihn ein paar Stunden gesehen und engagieren sich so, als würden sie ihn schon ewig kennen!"
"Unter anderem ist das die Überzeugung unseres Berufs. Menschen zu helfen!", wirft Alex ein.
Recht hat er.
Der Psychologe macht mich nervös.
Stellt Fragen, auf die ich selbst kaum Antworten habe.
Ich hasse Psychologen.
"Gewiss. Doch... bei ihrem Kollegen sehe ich noch etwas anderes...."
Was sieht er denn?
Komme mir vor, als würde er mich als Pädophilen abstempeln.
"Ich möchte ihm einfach nur helfen. Er ist schutzlos und seinem Vater ausgeliefert. Ganz anders, aber doch besonders. Einem Krankheitsbild untergeordnet und doch weicht er von der klaren Linie ab. Er möchte gesehen werden."
"Löblich, Herr Breuer. Wenn sie allerdings immer so reagieren, haben sie eine Menge zu tun!"
"Was ist schon eine Menge Arbeit im Gegenzug für ein besseres Leben für ein Kind?"
"Chapeau!"
"Stehen Sie denn hinter uns?" Alex beugt seinen Oberkörper nach vorn, stützt seine Hände auf den Oberschenkeln ab.
"Sicher. Das Wohl meiner Patienten ist auch in meinem Interesse. Wie gesagt, den Bericht werde ich Ihnen schnellstmöglich zukommen lassen. Sie nehmen dann die Sache in die Hand. Mehr können wir vorerst nicht tun!"
Bekomme Bauchschmerzen bei der Vorstellung, Oskar wieder schutzlos auszuliefern.
Schüttle meinen Kopf.
"So leid es mir tut, vorerst müssen wir abwarten!"
"Kann er denn weinen?"
"Sicherlich kann er das. Wieso fragen Sie?" Dr. Wetzel scheint verwirrt.
"Weil er keine Träne vergossen hat, für seine Mutter."
"Er tritt dem Ganzen auf einer anderen Ebene entgegen. Hat gespürt, dass es seiner Mutter schlecht ging. Er könnte es als Erlösung für sie ansehen und wenn jemand erlöst wird, vergießt man keine Tränen. Unter Umständen hat er es vielleicht auch noch nicht realisiert. Wovon ich aber weniger ausgehe, er ist ein ganz schlaues Kerlchen".
Erlösung.
Kann ein Kind die Erlösung durch den Tod akzeptieren?
Ich bin komplett durcheinander.
"Wenn sie nichts dagegen haben, würde ich mit Oskar gerne seinen jetzigen Stand überprüfen"
"Bitte! Nur zu!", gewährt Alex die Beendigung unseres Gesprächs.
Momentan bin ich selbst zu nichts fähig.
Fühle mich wie gelähmt, da ich nichts tun kann.
Fühle mich schuldig, da ich ihn nachher wieder zurück bringe.
Hatte mir mehr erhofft.
Der Arzt nimmt mit Oskar ein Stück weiter abseits auf den Stühlen seinen Platz ein.
Oskar starrt mich an.
Verstehe nicht, was er mir sagen möchte.
Nicke ihm zu.
Er wendet sich ab.
Ob er nach einer Bestätigung gesucht hat?
Absurd, Moritz.
Er kennt dich kaum.
Alex' Hand auf meinem Knie holt mich zurück aus meinen Gedanken.
"Hey. Wir hängen uns da rein. Meinen Bericht werde ich heute noch schreiben!"
Ich nicke ihm zu.
Zu nichts anderem fähig.
Wir beobachten die Konversation zwischen Oskar und dem Arzt.
Der Junge sieht dem Psychologen nie in das Gesicht.
Mir schon.
Er zeigt keine Regung gegenüber dem Älteren.
Kein nicken.
Kein Kopfschütteln.
Nichts.
Bei mir schon.
Das bildest du dir nur ein, Moritz!
Wunschdenken.
Der nackte Oberkörper des Jungen ist schmal.
Zu schmal, meiner Meinung.
Ob er genug zu essen bekommt?
"Ziemlich dünn ist er", bemerke ich gegenüber Alex.
"Könnte Veranlagung sein. Die Mutter war sehr schlank, der Vater ist auch nicht allzu breit."
"Könnte", flüstere ich.
"Oder auch nicht!", fügt Alex hinzu.
"Essen Kinder mit dem Asperger-Syndrom eigentlich normal?"
"Unterschiedlich. Viele essen sehr wenig!"
Schulterzucken.
Ich wuschel mir selbst durch die Haare.
Versuche, wieder klar zu denken.
Zu viele Fragen, zu wenig Antworten.
~○~○~○~○
"So, die Herrschaften. Oskar und ich sind soweit durch. Wie ich mir gedacht habe, hat das Vermeiden der Therapiesitzungen eine Verschlechterung herbeigeführt. Das werde ich in meinen Bericht aufnehmen. Er muss täglich gefördert werden, damit er sich selbst wohler fühlt!" Dr. Wetzel reicht Oskar seinen Pullover, damit er ihn wieder anziehen kann.
Wie ein Roboter steht er da.
Wartet auf Anweisung.
Neue Risse zieren mein Herz.
Als wir den Flur entlang laufen, schaue ich immer wieder zu ihm.
"Alles okay, Oskar?"
Ein Nicken.
"Hast du Hunger? Ich komme fast um vor Hunger. Alex bestimmt auch. Der braucht nämlich immer ganz viel Essen, damit er glücklich ist!"
Alex lacht laut.
Oskar legt den Kopf schief.
Mein Drang, den Kleinen einfach an der Hand zu nehmen und ihm so zu vermitteln, dass wir für ihn da sind, ist groß.
Für mich normal.
Für ihn schmerzhaft.
Ich unterlasse es.
"Ich würde sagen, wir nehmen die Sicherheit und den gesundheitlichen Zustand der Angestellten, der nächsten Bäckerei, unter die Lupe. Muss man sich auch mal drum kümmern!"
Oskar starrt Alex mit großen Augen an.
Versteht wohl nicht, was dieser damit meint.
Folgt uns trotz allem bedingungslos.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro