
☆Moritz☆ ☆14☆
Aufgrund der gestrigen Geschehnisse haben Alex und ich beschlossen, auf die Beerdigung von Oskars Mutter zu gehen.
Wir wollen sehen, wie es dem Kleinen geht und wie sich der Vater in der Öffentlichkeit gegenüber Oskar verhält.
Leider hat Frau Karrenführ der Aussage des Herrn Bold Glauben geschenkt und den Vorfall als keine mutwillige böse Absicht des Vaters eingestuft.
Mein Kopf kann nicht verstehen, wie sie zu solchem Entschluss kommt.
Mein Herz noch weniger.
Am liebsten wäre ich dort geblieben.
Hätte den ganzen Tag über Oskar gewacht, damit er schlafen kann und nach dem Aufwachen mit einem Lächeln begrüßt wird.
Leider musste ich meinem Dienst nachkommen.
Weiteren Ärger mit Klaus wollte ich mir nicht einhandeln.
Punkt dreizehn Uhr klingelt es an meiner Haustüre.
Alex steht in voller Trauermontur davor und atmet schwer auf, als er mein falsch geknöpftes Hemd sieht.
"Nicht ganz bei der Sache, was?"
"Nein. Ich bekomme Oskar nicht mehr aus dem Kopf!"
Alex klopft mir auf die Schulter und schiebt mich in meine Wohnung.
Mit wenigen Handgriffen bringt er mein Chaos ins Reine und sieht mir anschließend eine Zeit lang in die Augen.
"Ich denke, das Jugendamt reagiert falsch und du richtig. Wir sollten unsere Chefs ins Boot holen und um Unterstützung bitten. Bevor es zu spät ist!"
Obwohl mir der letzte Satz einen Gänsehautschauer beschert, lächle ich Alex entgegen.
"Danke!"
"Jetzt lass uns zu der Beerdigung fahren und die Lage checken. Später reden wir mit Michael und Klaus. In Ordnung?"
Ich könnte vor Glück heulen, dass Alex meiner Meinung ist und ziehe ihn deshalb in eine feste Umarmung.
"Das kann unter Umständen sehr schmutzig und nervenaufreibend werden!"
Die Tatsache ist mir mehr als bewusst und ich bin bereit, für den Kleinen zu kämpfen:
"Oskar hat es verdient!"
"Natürlich hat er das!"
Als wir auf dem Friedhof einmarschieren, sehen wir eine Gruppe schwarz gekleideter Menschen auf einem der Wege, die sich durch die vielen Reihen der Gräber ziehen, stehen.
Meine Augen finden sofort Steven, der sich unaufhörlich mit dem Ärmel seiner schwarzen Jacke über sein Gesicht reibt.
Der Vater steht neben ihm.
Hält seine Hand.
"Oskar ist nicht da!"
Alex spricht das aus, was ich befürchtet habe.
Am liebsten würde ich auf Herrn Bold zu rennen und ihn kräftig durchschütteln oder ihn zumindest lauthals anschreien.
"Ich gehe ihn holen!"
Alex sieht mich unsicher an:
"Das kannst du nicht machen, Moritz. Er ist der Vater und..."
"Das Kind hat das Recht, bei der Beerdigung seiner Mutter dabei zu sein. Mir egal, ob das Konsequenzen hat. Ich gehe ihn holen!"
Als hätte Oskars Vater es gehört, wendet er mir seinen Blick zu.
Seine Augen funkeln mich böse an.
"Dann beeile dich. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie anfangen. Los!"
Alex scheucht mich in Richtung Auto und vermittelt mir somit, dass er auf meiner Seite steht.
An meinem Auto angekommen, werfe ich mich auf meinen Sitz und fahre mit erhöhter Geschwindigkeit zu Oskar nach Hause.
Dort angekommen, springe ich aus dem Auto und renne so schnell ich kann zur Haustüre.
"Oskar! Mach die Türe auf. Ich bin es, Moritz!"
Zusätzlich zu meinem Gebrüll, klopfe ich mit aller Kraft gegen die Haustüre.
Fast glaube ich nicht mehr daran, dass der Kleine mir die Tür öffnen wird und lasse schon meinen Kopf hängen.
Kurz bevor ich mich abwende, bewegt sich das hölzerne Türblatt doch noch und nur ein paar Sekunden später kann ich die kleine dünne Statur des Jungen sehen.
Ich lasse mich auf die Knie nieder und lächle Oskar an.
"Alles gut bei dir?"
Der nur in Unterhose gekleidete Junge nickt mir leicht zu.
"Möchtest du dich von deiner Mama verabschieden? Heute ist die Beerdigung."
Wieder nickt er vor sich hin, dieses Mal aber etwas kräftiger.
"Gut, dann schauen wir schnell, was wir dir anziehen können. In Ordnung?"
Schnellen Schrittes wendet sich Oskar von mir ab und läuft in sein Zimmer.
Als ich bei ihm ankomme, steht er vor seinem Kleiderschrank und wirft mir einen verunsicherten Blick zu.
Natürlich kann er nicht wissen, was man auf einer Beerdigung anziehen muss.
Sollte er auch nicht.
Innerhalb von zehn Minuten hat der Junge eine schwarze Jeanshose und ein ebenfalls schwarzes T-Shirt an.
Meiner Meinung nach ist das vollkommen ausreichend, denn schließlich ist er noch ein Kind.
Unbedacht greife ich nach der kleinen Hand und will gerade loslaufen, als mir bewusst wird, dass das die völlig falsche Handlung ist.
"Tut mir leid. Ich vergesse es ab und zu noch!"
Nachdem ich meine Hand gelockert habe, drückt Oskar einmal fest zu und lässt dann auch meine Hand los.
Ob das eine Art Danke sein soll, weiß ich nicht, aber mein Herz macht einen kleinen Sprung.
Ich bin mir absolut sicher, dass ich das Richtige tue.
Draußen angekommen, schlägt Oskar sofort den Weg zur Garage ein.
Er ist sich bewusst, dass wir zuerst den Kindersitz aus dem Auto seiner Mutter holen müssen, bevor wir uns auf den Weg zum Friedhof machen.
Nachdem ich das Tor geöffnet habe, läuft Oskar auf die Fahrerseite zu und lehnt seine Stirn gegen die Scheibe.
Seine Augen fixieren einen Punkt, so dass man meinen könnte, seine Mutter sitzt dort.
Mein Herz bekommt eine gewisse Schwere, da ich mir gar nicht vorstellen möchte, welches Chaos in diesem kleinen Jungen herrschen muss.
Falls er das ganze Ausmaß überhaupt begreifen kann.
Meiner Meinung nach versteht Oskar aber mehr, als wir ihm alle zutrauen.
Er hat vielleicht nur eine andere Auffassung von den Dingen, die auf der Welt passieren, als wir.
Mit Sitz in der Hand steuere ich auf mein Auto zu, öffne die Beifahrertüre und werde auch sofort mit der Anwesenheit meiner Begleitung beglückt, der sofort auf dem Kindersitz Platz nimmt und sich von mir anschnallen lässt.
Während der Fahrt möchte ich den Kleinen etwas auf das bevorstehende Ereignis vorbereiten, damit er nicht erschrickt.
"Oskar? Wenn wir auf dem Friedhof ankommen, werden dort alle Anwesenden traurig sein. Manche werden weinen und andere werden einfach nur einen traurigen Gesichtsausdruck haben. Deine Mama wird in einem Sarg liegen. Das ist wie so eine Art Holzbett. Dieser wird in ein Loch im Boden abgelassen und anschließend mit Erde bedeckt. So kann man immer wieder das Grab besuchen und mit ihr reden oder was auch immer du tun möchtest. Hast du das verstanden?"
Oskar nickt, hält seinen Blick konstant auf mich gerichtet.
"Möchtest du noch irgendetwas wissen?"
Ein Kopfschütteln schlägt dieses Angebot aus.
Der Kleine zeigt keine äußerlichen Anzeichen von Trauer.
Er sitzt total entspannt neben mir und sieht mich die ganze Zeit an.
Was sein Blick zu bedeuten hat, weiß ich nicht.
Unwohl fühle ich mich allerdings überhaupt nicht.
Was mich etwas nervös werden lässt, ist die Vorahnung, dass seinem Vater meine Aktion ordentlich gegen den Strich gehen wird.
Als wir auf das Grüppchen Menschen zulaufen, die an dem Grab versammelt sind, kommt Alex uns ein Stück entgegen und begibt sich vor uns in die Hocke:
"Hi, Oskar. Bist du bereit, dich von deiner Mama zu verabschieden?"
Ein kräftiges Nicken wird ihm entgegengebracht.
"Gut. Dann mal los!"
Um ihm ein klein wenig Schutz zu bieten, nehmen wir den Jungen zwischen uns.
Am liebsten würde ich nach seiner Hand greifen und ihn bis zum Ende festhalten, aber ich muss mein Bedürfnis zurückstecken und auf Oskars Wohl achten.
Er sollte sich nicht unnötiger als nötig schlecht fühlen.
Herr Bold hat uns innerhalb von Sekunden im Visier, als wir uns zu den Trauernden einreihen.
Während Steven seinem Bruder wackelig zulächelt, platzt der Vater fast vor Zorn.
Ich bin froh, dass er seinen Ärger im Zaum hält und nicht ungehalten losbrüllt.
Wenigstens besitzt er doch noch etwas Anstand.
~○~○~○~
Als der Pfarrer seiner Pflicht nachkommt und ein paar Worte aus der Bibel verliest, beobachte ich das Kerlchen in unserer Mitte.
Oskar sieht glücklich aus.
Während alle weinen, scheint er mit dieser Situation total im Reinen zu sein und vergießt keine Tränen.
Was wohl in seinem Kopf vor sich geht?
Her Bold hält krampfhaft die Hand seines älteren Sohnes, der unaufhörlich weint.
Ab und zu verlassen seinen Mund ein paar Worte, denn Steven nickt immer mal wieder vor sich hin.
Als der Vater einen Blick zu Oskar wirft, der seit geraumer Zeit in den Himmel starrt, kann ich sehen, wie erneut die Wut in ihm aufsteigt.
Große Wut.
Warum kann er Oskar nicht so akzeptieren, wie er ist?
Er verarbeitet anders als die meisten anwesenden Menschen.
Er weiß, dass seine Mutter nicht mehr da ist, doch fühlt sich ihr immer noch verbunden.
Man könnte meinen, dass er den Tod seiner Mutter für sie als eine Art Befreiung sieht und darum auch kaum traurig ist.
Doch das sind nur Vermutungen.
Was der Kleine wirklich denkt, weiß nur er selbst.
Nach der Prozedur dauert es nicht lange, bis wir mit der Anwesenheit von Oskars Vater beehrt werden:
"Was fällt Ihnen eigentlich ein? Das ist MEIN Sohn und wenn ich ihn nicht auf der Beerdigung dabei haben will, dann haben sie kein Recht, ihn hierher zu bringen!"
"Papa!" Steven zieht an der Hand seines Vaters und möchte ihn anscheinend von der Schimpftirade abhalten.
"Halt den Mund, Steven!"
Alex schüttelt seinen Kopf und tritt einen Schritt näher zu Herrn Bold.
"Ihr Sohn hat das Recht, sich von seiner Mutter zu verabschieden!"
"Als wenn ihn das kümmern würde. Steven, bring Oskar zum Auto. Er soll dort warten!"
Der ältere Sohn löst seinen Griff von seines Vaters Hand und läuft langsam in die Richtung unserer Autos.
Bevor Oskar ihm folgt, sieht er mich kurz an, als wenn er etwas sagen möchte.
Seinen Mund verlässt jedoch kein Wort.
"Lassen Sie Ihrem Sohn eigentlich gar keine Liebe zukommen?" Ich weiß, dass jetzt die Wut aus mir spricht, aber vielleicht muss man dem Vater einmal klar machen, wie beschissen sein Verhalten ist.
"Warum? Er weiß nicht, was Liebe ist!"
"Trotzdem braucht er sie, die Liebe. Vielleicht lernt er es noch! Sie sind doch Schuld daran, dass er dieses Gefühl nicht kennt!"
Alex stößt mich leicht mit seiner Schulter an.
Das Zeichen dafür, dass ich einen Gang runterschalten muss.
"Es ist hoffnungslos. Gefühlstot, GESTÖRT ist er!", schreit unser Gegenüber schon fast, so dass ein paar Leute in unsere Richtung schauen.
"Er kann am wenigsten dafür!", knurrt der Notarzt und scheint jetzt doch auch leicht wütend zu werden.
"Wegen ihm ist meine Frau tot!"
Diese Aussage schockt sowohl Alex als auch mich.
Ich kann nicht verstehen, wie er seinen Sohn dafür verantwortlich machen kann, dass seine Frau einen Suizid begangen hat.
"Können wir uns denn nicht einigen, dass sie ihren Sohn etwas unterstützen und ihm die nötige Förderung zukommen lassen?"
Ich versuche einen versöhnlicheren Weg einzuschlagen, doch Oskars Vater schält auf Stur:
"Machen Sie das doch, wenn es Ihnen so wichtig ist. Ich werde meine Zeit nicht für etwas investieren, das sowieso keinen Sinn macht. Sie entschuldigen mich, ich werde mich jetzt zurückziehen, schließlich wurde soeben meine Frau beerdigt!"
Herr Bold wendet sich ab und geht seines Weges.
Als ich meinen Mund öffne, legt Alex mir eine Hand auf die Schulter.
"Lass es für heute gut sein. Das bringt nichts!"
Ich sehe ein, dass er Recht hat und mache mich mit ihm zusammen ebenfalls auf den Weg zu meinem Auto.
Dort angekommen, startet Herr Bold sein Auto.
Oskar legt eine seiner Handflächen gegen die Fensterscheibe und schenkt mir einen traurigen Blick.
Ob es Einbildung ist oder Realität, weiß ich nicht, aber ich könnte schwören, dass ihm ein paar Tränen über die Wangen rinnen.
Mir zerreißt es augenblicklich mein Herz und ich schaffe es nur mit Mühe und Not ein Lächeln für ihn aufzulegen und ihm hinterher zu winken.
Seiner toten Mutter schenkt er keine Tränen.
Mir schon.
Einem eigentlich Fremden.
"Moritz?" Alex stellt sich in mein Blickfeld, damit ich mich endlich wieder aus meiner Starre befreien kann, denn das Auto der Bolds ist längst nicht mehr zu sehen.
Ich reibe mir mit beiden Händen durch mein Gesicht.
"Sorry. Ich weiß nicht, was mit mir los ist."
"Schon gut. Geh nach Hause und ruhe dich aus. Ich werde jetzt meinem Chef einen Besuch abstatten und ihn bitten, uns zu unterstützen. Er soll sich mit Klaus in Verbindung setzen und dem Jugendamt ordentlich in den Arsch treten. Ich melde mich bei dir!"
Mehr als ein Nicken bekomme ich nicht zustande.
Noch nie habe ich mich derart miserabel gefühlt, wenn es um einen Fall ging.
Warum ist das nur so?
Als ich mich in meinen Autositz fallen lasse, sticht mir sofort Oskars Kindersitz ins Auge.
Ich seufze schwer auf und überlege, ob ich ihn sofort zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen soll.
Mein Verstand sagt mir allerdings, dass ich bei Herrn Bold heute nicht alleine auftauchen sollte.
Außerdem wird er den Sitz nicht brauchen, denn er unternimmt eh nichts mit Oskar.
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