Die trügerische Verlockung des Alkohols
-Triggerwahnung-
Es tat ihm weh. Unendlich weh.
An ihn zu denken, schon der kleinste Gedanke, schmerzte ihn.
Über ihn zu reden war unendlich schwer.
Man sah es ihm an, die Schmerzen.
Und es schmerzte mich, zu sehen wie er litt.
Um sein Leiden zu mindern fällte ich eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die jeder halbwegs rational denkende und verantwortungsbewusste Erwachsene ebenfalls gefällt hätte.
Ich gab ihm Alkohol.
Es stellte sich heraus, dass purer Rum ungenießbares Teufelszeug war. Ebenfalls erstaunlich war die Erkenntnis, dass ich nicht in der Lage war einen annähernd genießbaren Cocktail zu mischen. Gut, dass ich Jan angestellt hatte. Vielleicht sollte ich ihm eine Gehaltserhöhung anbieten, damit er nicht irgendwann auf die Idee kam mich hier im Stich zu lassen. Wobei... ein herzliches Schulterklopfen würde sicherlich auch ausreichen.
Die dritte lehrreiche Erkenntnis an diesem Abend war, dass es bei starkem Alkohol spätestens nach der Hälfte der Flasche egal war, wie er schmeckte.
„Und weißt du, was das schlimmste ist?" fragte er, mit diesem leeren Blick. Seine Stimme war bereits ein wenig belegt vom Alkohol. In seiner rechten Hand hielt er ein Glas, halb voll mit einer klaren Flüssigkeit, ein Außenstehender hätte es für Wasser halten können.
„Meine Eltern tun so, als hätte er niemals existiert. Sie verschweigen ihn, weil sie sich zu sehr schämen."
„Sie schämen sich dafür, dass ihr Sohn gestorben ist?" Ich sah ihn abwartend an, während er noch einen tiefen Schluck auf seinem Glas nahm.
„Sie schämen sich nicht das, sondern wie er gestorben ist." Seine Augen wurden glasig. Ich wollte gerade das wie hinterfragen, als er leise hinzufügte: „Drogen. Überdosis Heroin." Er blinzelte mehrmals hintereinander, dann blickte er mich wieder direkt an.
„Er hat alles versucht, um den Anforderungen unserer Eltern standzuhalten. Angefangen hat es wohl mit irgendwelchen Aufputschmitteln, damit er länger wach bleiben, sich besser konzentrieren und mehr lernen konnte. Doch irgendwann hat das nicht mehr genügt. Er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen und ist immer weiter abgerutscht, bis die Drogen der einzige Ausweg schienen." Er schluckte hart, schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: „Ich werde niemals erfahren, ob die Überdosis ein Unfall oder Absicht war." Einen Augenblick Stille.
„Macht das einen Unterschied? In Bezug auf deine Schuldgefühle?" Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas, die klare Flüssigkeit brannte sich meinen Rachen hinunter.
„Nicht wirklich."
„Dann ist es nicht wichtig." Ich wollte ihn in den Arm nehmen, ihn festhalten und ihm solange sagen, dass es nicht seine Schuld war, bis dieser gequälte Ausdruck aus seinen Augen verschwand. Doch ich wusste nur zu gut, dass meine Worte nichts ändern würden. Deshalb schwieg ich.
Eine bedrückende Stille stand zwischen uns, einige Augenblicke wusste niemand, was er sagen sollte.
„Willst du mir den nicht sagen, dass das alles nicht meine Schuld gewesen ist?"
„Würde es den etwas an deinen Gefühlen ändern?"
„Nein." Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet.
„Du weiß genauso gut wie ich, dass der Tod deines Bruders nicht deine Schuld ist. Doch weder meine Worte noch deine eigene Gewissheit darüber wird etwas an deinen Schuldgefühlen ändern, oder etwa doch?"
Er sah mich an mit diesem undefinierbaren Blick an, dann schüttelte er den Kopf und fügte hinzu: „Du sprichst so, als würdest du wissen wie sehr es schmerzt. Als würdest du verstehen, wie schwer diese Schuldgefühle auf mir lasten." Seine Augen musterten mein Gesicht, auf der Suche nach irgendeiner Emotion. Ich hatte bisher nicht viel von mir preisgegeben, ich war noch nie ein Mensch gewesen, der oft und gerne über sich redete und vor allem meine Kindheit war ein Thema, das ich gerne vermeidet, wenn es ging. Mein Pech, dass Alkohol mich gesprächig werden ließ. Gesprächiger, als gut für mich war.
„Du wirst es kaum glauben, aber du bist nicht der Einzige mit einer tragischen Lebensgeschichte. Ich würde sogar sagen, dass viele Menschen und die meisten meiner Freunde etwas Schreckliches und Schmerzhaftes in ihrer Vergangenheit erlebt haben. Diese Erlebnisse haben uns verändert, doch sie definieren uns nicht. Allein die Tatsache, ob und wie wir wieder aufstehen, sagt etwas über uns aus."
Er dachte lange über meine Worte nach, das merkte ich während sie Stille sich dahinzog. Der letzte Schluck aus meinem Glas brannte kaum noch, als ich ihn runter schluckte. Und ich merkte, dass ich für heute wohl genug hatte. Immerhin hatte ich nicht die Absicht mir heute die Kante zu geben. Löckchen schien das anders zu sehen, er griff beherzt nach der Falsche, die zwischen uns auf dem sonst leeren Tisch stand und schenkte uns nach. Während ich ihn dabei beobachte, merkte ich wie sich die Alkohol injizierte Wärme, von meinem Magen aus in meinem ganzen Körper verteilte und wie meine Zunge sich lockerte, ohne dass ich es verhindern konnte.
„Weißt du, du kannst dich trotz allem glücklich schätzen, mit deinen Geschwistern aufgewachsen zu sein. Ich habe mir immer Geschwister gewünscht. Doch meine Mam hat nur gesagt: ‚Manche Fehler begeht man nur einmal, mein Schatz. '" Ich schnaubte, wusste selber nicht, ob es belustigt oder verachtend klang. „Sie war nie eine gute Mutter. Scheiße, sie war nicht einmal eine ausrechende Mutter, denn dafür hätte sie wenigstens meinen zehnten Geburtstag miterleben müssen. Aber sie musste ja lieber abhauen, sich selber verwirklichen mit ihrem Yoga Lehrer. Ich weiß nicht, was beschämender ist, dass meine Mutter eine selbstsüchtige Ehebrecherin ist, oder dass sie einfach nur ein billiges Klischee wiederspiegelt."
Ich lachte trocken und humorlos auf. Er musterte mich kurz, schien meinen plötzlichen Redeschwall erst einmal verarbeiten zu müssen. Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem, nun wieder vollen, Glas, denn ich wusste, dass ich für das, was jetzt kommen würde, jede erdenkliche Unterstützung brauchte. Und sei es nur die lausige Illusion von Stärke, die einem der Alkohol versprach. Noch bevor er sich eine passende Erwiderung hätte einfallen lassen können, setzte ich meinen Monolog fort.
„Ich habe dir doch erzähl, dass mein Vater tot ist. Er ist aber nicht einfach gestorben, er wurde umgebracht, von seinen Depressionen. Naja, die Polizei hat es Selbstmord genannt." Es war mir nicht so schwer gefallen, wie ich gedacht hätte, ihm davon zu erzählen.
„Und du gibst dir die Schuld dafür." Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Seine braunen Augen waren fest auf mich fixiert. Sein Glas hatte er weggestellt. Ich nahm noch einen Schluck.
„Ich habe ihm jeden Morgen seine Tabletten gegeben. Ich habe Frühstück gemacht und zugesehen, wie er die Tabletten geschluckt hat. Das war wichtig, denn er wollte sie nicht nehmen. Er hat gesagt, dass sie seinen Verstand benebeln, dass die ihm seine Freude rauben. Er hat nicht verstanden, dass er sie nehmen musste, weil er eine Krankheit hatte. Deshalb habe ich jeden Morgen darauf geachtete, dass er die Tabletten nimmt. Aber als ich sechzehn war und schon mitten in der Pubertät steckte, gab es da diesen Jungen in der Schule. Ich war total in ihn verschossen, weshalb ich meisten total in Gedanken versunken war. Ich hab nicht richtig aufgepasst und er hat seine Tabletten nicht genommen. Etwa eine Woche lang. Die Depressionen haben ihn gefangen und er... er hat es nicht mehr ausgehalten."
Die Stille, die darauf folgte, so kurz sie auch war, lastete schwerer auf mir, als jede Anschuldigung es jemals könnte. Auch wenn ich ihm dankbar war, dass er mich nicht unterbrach und alles hinterfragte.
Ich blickte starr geradeaus, wusste selber nicht genau was ich dort sah, während in meinem Kopf all die Bilder von damals spielten, die Erinnerungen an meinen Vater, wie glücklich er gewesen war, in manchen Momenten.
„Ich weiß, dass das alles nicht meine Schuld ist. Ich konnte nichts für seine Krankheit. Und ich weiß, dass die Betreuung eines Manisch-depressiven keine Aufgabe für einen Teenager ist. Und verdammt nochmal, ich weiß auch, dass es vermutlich unausweichlich war, dass er den Entschluss nicht mehr leben zu wollen schon lange zuvor gefällt hatte. Das ich nichts hätte tun können, um ihn aufzuhalten.
Aber weißt du was? Das Wissen darüber, ändert rein gar nichts. Ich gebe mir die Schuld. Ich gebe mir die Schuld, obwohl ich ihn nicht für einen dahergelaufenen Typen, mit unserem gemeinsamen Sohn habe sitzen lassen. Ich gebe mir die Schuld, obwohl ich nicht tatenlos zugesehen habe, wie sich ein überforderter Teenager um seinen schwer depressiven Vater kümmert, weil es mich ja nichts angeht, was sich auf der anderen Seite des Fluren, hinter den Türen abspielt.
Ich war es nicht, der sich die Waffe an die Schläfe hielt und abdrückte in dem Wissen, das ich meinen minderjährigen Sohn alleine zurücklassen würde."
Ich biss die Zähne zusammen, versuchte den Schmerz in meiner Brust zu unterdrücken, den Klos im Hals herunterzuschlucken. Warum tat es noch immer so weh darüber zu reden?
„Warum? Warum gibst du dir dann die Schuld dafür?"
„Aus demselben Grund, aus dem du sie dir gibst." Ich sah ihn an, sein schönes Gesicht, blickte in die Tiefe seiner Augen. „Es ist einfacher so."
Er zog eine Augenbraue verwirrt nach oben. Und ich merkte, dass sein Hirn noch nicht verstand, was sein Herz schon lägst akzeptiert hatte.
„Ich kann meinem Vater nicht die Schuld für seinen Tod geben, weil er krank war. Die Depressionen haben ihn zu einem anderen Menschen gemacht. Er konnte sich alleine nicht mehr dort herausholen.
Und wenn ich ehrlich bin kann ich auch meiner Mutter nicht die Schuld geben. Vielleicht hätte sie es ahnen können, immerhin wusste sie von seiner Krankheit, aber auch sie hätte es nicht verhindern können. Fuck, ich kann noch nicht Mal der schrecklichen Nachbarin von gegenüber die Schuld für ihr Nichtstun geben.
Und wenn ich niemanden die Schuld dafür geben kann, dass ich alles Verloren habe, dann weiß ich einfach nicht wohin mit meiner Wut. Irgendjemand muss doch Schuld sein! Oder etwa nicht?
Und dann schleicht sich wieder dieser Gedanke in meinen Kopf, das ich es nicht anders verdient habe, dass ich es verhindern hätte können, es aber nicht getan habe. Dass der Verlust von dem letzten Stück Familie, das ich hatte, meine Strafe für mein Versagen ist.
Und ab da ist es egal was mein Verstand sagt."
Er begann zu verstehen. Das sah ich in seinen Augen. Und aus irgendeinem Grund erleichterte es mich, dass es jemanden gab der ähnlich fühlte.
„Du kennst dieses Gefühl, nicht wahr?"
Er nickte, schien noch immer in seinen Gedanke fest zu stecken.
„Wenn du einmal wirklich ehrlich zu dir bist, dann weißt du, dass dich keine Schuld am Tod deines Bruders trifft. Und vielleicht tragen deine Eltern tatsächlich eine gewisse Mitschuld an seinem Tod, doch niemand hat ihn gezwungen, er hätte sich anders helfen können, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Du hast dir immerhin auch anders geholfen.
Aber du willst ihm nicht die Schuld geben und das ist auch okay so. Nur das du dich stattdessen dafür verantwortlich fühlst, das ist nicht richtig und es wird dich kaputt machen."
Eine kleine Träne rann seine Wange hinunter. Ich erschrak, als ich sie sah, ich hatte ihn nicht zum Weinen bringen wollen. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal gedacht, dass ich dies könnte. Er schien immer so stark, so beherrscht. Aber er hatte auch diese verspielte Seite an sich, wenn er sich benahm wie vorhin in der Küche und mich damit einfach in den Wahnsinn trieb. Doch gerade eben, hatte ich noch eine Seite von ihm kennen gelernt, die zerbrochene. Er hatte mir gezeigt, dass auch er verletzlich war und es gehörte verdammt viel Mut dazu anderen seinen Schwachpunkt zu zeigen. In meiner verdrehten Logik, war dies einer der größten Vertrauensbeweise, die es gab.
„Weißt du, all die Jahre bin ich mit diesen Gefühlen in mir rumgelaufen. Und ich kannte niemanden der verstehen konnte, wie ich mich gefühlt habe, ich habe mich ja teilweise selber nicht verstanden. Aber dann tauchst du auf und ich habe keine Ahnung wie du das machst, aber du sprichst mir so sehr aus der Seele, dass es mir fast Angst macht."
Ich griff über den Tisch, legte meine Hand sanfte auf seine. Dieser kleine Körperkontakt reichte aus, um meine aufgewühlten Gedanken ein wenig zu beruhigen.
Es war das erste Mal, das ich jemanden von all dem Mist erzählt hatte. Von all den Gedanken die mich täglich begleiteten. Von alle den Sachen, über die ich sonst mit niemanden hatte reden können. Und es fühlte sich so gut an, jemanden zu haben der einen verstand. Jemand der wirklich wusste, wie man sich fühlte und nicht nur so tat, als würde er es. Wer hätte gedacht, dass dieser jemand Löckchen sein würde. Doch ich vertraute ihm. Und es fühlte sich so gut an, dass nun nichts mehr zwischen uns zu stehen schien. Ich spürte eine Art Verbundenheit mit ihm, die ich noch nie zuvor gespürt hatte.
_____________
Ich habe das Gefühl, das meine melodramatische Ader ein wenig übertrieben hat.
Also bitte sagt mir, wie ihr es findet.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro