Zwölf
„Was ist nun Vicky? Kommst du vorbei und machst den Abend somit erträglicher für mich? Ich würde dir ein Taxi reservieren und du hast natürlich was gut bei mir", versucht Niall mich zu überzeugen.
Doch wirkliche Lust habe ich nicht und lasse aus diesem Grund ein angestrengtes Stöhnen über meine Lippen entweichen. Mein Gesprächspartner bemerkt das natürlich und erkundigt sich sogleich besorgt, ob es mir nicht gut gehen würde.
Diesen unerwarteten Strohhalm ergreife ich sofort, da ich im Moment die Möglichkeit sehe, einem langweiligen Abend zu entkommen.
„Um ehrlich zu sein, nein. Ich habe schon den ganzen Tag mit Schwindel und Kopfschmerzen zu tun", erkläre ich ruhig.
Ganz gelogen ist das ja nicht, auch wenn ich mich dennoch in der Lage sehen würde mit Niall zu diesem Essen zu erscheinen, aber ich habe nun mal keine Lust dazu. Ich möchte diesen Urlaub nicht mit Geschäftsessen verbringen, von denen habe ich schon mehr als genug in Berlin.
„Oh, na dann ist es wohl besser, wenn du dir etwas aufs Zimmer kommen lässt und früh schlafen gehst", überlegt Niall und ich stimme ihm ergeben zu.
„Du musst nicht auf mich warten. Ich weiß nicht wie lange diesen Essen dauert", warnt mich mein Freund, worauf ich ihm antworte, dass er sich meinetwegen keinen Stress machen muss.
„Okay, dann wünsch ich dir gute Besserung und bis später."
„Bis später und halt die Ohren steif."
Ich höre Niall noch kurz lachen bevor er auflegt und die Leitung tot ist. Mein Handy lasse ich sinken und schon in diesem Moment macht sich ein ungutes Gefühl breit, weil ich Niall erneut angelogen habe.
Wobei so richtig gelogen habe ich auch in dieses Mal nicht. Die Kopfschmerzen und der Schwindel scheinen zwar im Augenblick besser zu sein, aber dennoch haben sie mich den ganzen Tag immer wieder heimgesucht. Ich habe lediglich einmal in meinem Leben eine mir gebotene Gelegenheit ergriffen, um nicht das zu tun, was man von mir erwartet. Dafür muss ich mich doch nicht schämen, oder?
Da es doch noch recht früh am Abend ist, schleicht sich die Langeweile schnell in mein Zimmer und so überlege ich, dass ich noch einmal an den Pool und die dazugehörige Bar gehen könnte. Über den offenen Balkon höre ich die Klänge einer kanarischen Band. Ich bin schon lange nicht mehr in den Genuss von Live-Musik gekommen und da die Sonne bereits fast am Horizont verschwunden ist, sollte mir die Hitze nicht mehr so zu schaffen machen.
Als ich am Poolbereich ankomme, halte ich mich zuerst einen Moment im Hintergrund. Meinen Blick lasse ich über die anwesenden Gäste, welche der Musik lauschen und zum Teil sogar ein Tänzchen mit ihren Partnern wagen, wandern. Doch besonderes Augenmerk lege ich auf das diensthabende Servicepersonal. Zu meiner Erleichterung kann ich Harry nirgends entdecken. Sowohl nicht hinter der Bar als auch nicht zwischen den Tischen.
Ich überlege, ob Harry heute einen freien Tag hat, obwohl mir das eigentlich egal sein sollte. Doch hätte er Dienst, dann hätte ich mir etwas anderes überlegen müssen, was ich mit dem angebrochenen Abend anstelle.
Auf dem Weg zur Bar wird mir erneut ein wenig schwindlig und ich bin froh, dass ich ohne zu stürzen den hohen Holzhocker erreiche und Platz nehme. Als ich nach der Karte greife, bemerke ich wie meine Hand zittert und es mir urplötzlich vorkommt, als würde man mir einen Eimer mit Eiswürfeln über den Kopf schütten.
Bevor ich überhaupt die Gelegenheit habe auf die Warnzeichen meines Körpers zu reagieren, meldet sich eine altbekannte Stimme hinter mir.
„Hey, so schnell sieht man sich wieder."
Harrys Worte klingen, als würde ich sie durch einen dicken Vorhang hören. Ich will mich in seine Richtung drehen, doch da wird mir plötzlich schwarz vor Augen und ich gerate ins Wanken.
Zwei starke Arme halten mich auf dem Hocker, bevor ich von diesem hinunterfallen kann.
„Was ist los mit dir? Du bist ganz kaltschweißig ", höre ich die markante Stimme sagen, aber es ist mir nicht möglich zu antworten.
Stattdessen wendet sich Harry an eine andere Person und bittet diese um ein Glas Cola. Kurz darauf wir mir das Glas mit dem zuckerhaltigen Getränk unter die Nase gehalten und ich nehme einen gierigen Schluck.
„Langsam, nicht dass du dich auch noch verschluckst und ich eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen muss", lacht Harry dicht neben meinem Ohr und sein warmer Atem streift meine Haut.
Schlagartig begreife ich in welcher Situation ich mich befinde. Die Cola muss mir geholfen haben, denn schneller als Harry reagieren kann, befreie ich mich aus seinem Griff und rutsche ein gutes Stück von dem Kellner weg.
Dieser sieht mich ebenso überrascht an. Niemand von uns sagt etwas, stattdessen starren wir uns nur stumm an. Scheiße ich hoffe, dass niemand von den anwesenden Gästen etwas mitbekommen hat. Unauffällig lasse ich meinen Blick über die Menge wandern. Die Tatsache, dass mich keine neugierigen Blicke treffen und jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint, beruhigt mich etwas.
Harry macht einen vorsichtigen Schritt auf mich zu, instinktiv weiche ich mit dem Oberkörper etwas zurück.
„Geht es dir wieder besser?", erkundigt er sich fürsorglich und ich sehe wie seine grünen Augen über mein Gesicht wandern.
Wahrheitsgemäß nicke ich, bleibe aber weiterhin stumm.
„Leidest du an Diabetes?", stellt der Kellner die naheliegende Vermutung an.
Jetzt schüttle ich den Kopf, da dies nicht der Fall ist. Die langen Finger meines Gegenübers wandern in seine wilden Locken und fahren einmal hindurch, als er seine Vermutung näher erläutert.
„Ich frage nur, weil mein Grandpa das auch hatte und dem hat in solchen Momenten auch immer eine Cola geholfen."
„Ich habe einfach vergessen etwas zu essen und zu wenig getrunken", erkläre ich der Wahrheit entsprechend und hoffe, dass er mich nun wieder in Ruhe lässt.
„Dann lass mich dich zum Essen einladen. Dir soll es nicht noch einmal so ergehen", platzt Harry völlig ungeniert mit seinem Angebot raus, woraufhin mir buchstäblich die Kinnladen nach unten klappt.
Ich möchte einen Einwand erheben, doch bevor ich etwas sagen kann, unterbricht mich Harry und kontert, ohne wissen zu können was ich sagen möchte, dagegen: „Ich habe etwas gut bei dir. Schließlich habe ich dir deine Schuhe zurückgebracht", beginnt er und ich möchte wieder Luft holen, habe aber keine Gelegenheit, da der Kellner direkt fortfährt. „Und dir gerade dein Leben gerettet."
Dramatisch stellt er sich kerzengerade hin und steckt die Brust heraus, so dass ich im Licht der Barlampen durch das weiße Hemd, welches zu seiner Uniform gehört, die bekannten, dunklen Tätowierungen erahnen kann.
Noch immer bin ich nicht überzeugt und so holt er zum ultimativen Schlag aus.
„Ausserdem habe ich meinen Boss für dich angelogen und vielleicht sollte ich ihm doch die Wahrheit sagen, sonst müsste ich ja Angst um meinen Job haben", erklärt er mit einem schelmischen Grinsen.
Dieses Lächeln macht mehr als deutlich, dass er augenscheinlich keine Angst hat, seine Anstellung zu verlieren. Allerdings scheint er genauso gut zu wissen, dass ich ein Problem damit haben könnte, wenn Niall erfährt, wie das Treffen am Strand wirklich ablief.
Vielleicht liegt es schlussendlich daran, dass ich Niall mit Harrys Hilfe angelogen habe, oder aber, dass mein Mund sich wieder einmal in der Gegenwart dieses Mannes schneller bewegt, als ich denken kann, dass ich schließlich, in einem letzten Versuch alles abzusagen, anmerke: „Aber du musst doch arbeiten."
„Oh das", überlegt er laut, als wäre ihm diese Tatsache völlig entgangen.
Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck kratz er sich am Kopf, bevor er mit den Fingern schnippst und sich an seinen Kollegen hinter der Bar wendet.
„Louis ich mach Feierband, okay?"
„Ist das dein Ernst, du willst mich heute alleine lassen?", erwidert dieser und sieht Harry ungläubig an.
„Hast auch was gut bei mir, Kumpel", bietet Harry an. Doch dieser Louis lässt sich nicht so leicht überzeugen.
„Du musst das nächste Mal das Wasser schleppen", schlägt der Barkeeper vor und hält seine ausgestreckte Hand hin, um mit seinem Kollegen auf den Deal einzuschlagen.
Harrys Blick wandert kurz zu mir, als würde er überlegen, ob ein Essen mit mir dieses Opfer wert ist. Schließlich schlägt er ein und ich frage mich, was daran so schlimm ist, Wasser zu tragen. Bevor ich mir allerdings weiter Gedanken machen kann, wendet sich Harry an mich und erklärt mir, dass wir uns in zehn Minuten vor dem Hoteleingang treffen. Obwohl ich weiß, dass ich gegen alle Versprechen, die ich Niall und auch mir gegeben habe, verstoße, nicke ich und der junge Kellner verschwindet mit einem letzten charmanten Lächeln in meine Richtung, um sich umzuziehen.
„Er würde nicht für jeden das Wasserschleppen übernehmen", wendet sich der zurückgebliebene Servicemitarbeiter mit einem vielsagenden Lächeln an mich.
Fragend sehe ich den Mann, welcher dabei ist, ein Glas zu putzen, an. Noch immer trägt er ein offenes und freundliches Lächeln auf den Lippen, aber eine Antwort auf meine stumme Frage folgt nicht.
„Was ist so schlimm Wasser daran zu schleppen?", hacke ich schließlich nach und ernte statt einer befriedigenden Antwort nur ein Schmunzeln des schmalen Mannes mit den kurzen, braunen Haaren.
„Ich denke, das kann dir Harry am besten erklären", antwortet er schließlich geheimnisvoll.
Wenig zufrieden mit diese Antwort trinke ich die Cola aus und mache mich auf den Weg Richtung Hoteleingang. Auf den Weg dorthin frage ich mich selbst, was ich hier eigentlich tue und warum.
Weshalb lasse ich mich auf dieses Treffen mit einem fremden Mann ein? Was ist es, das ihn so interessant für mich macht? Sein charmantes und gleichzeitig einnehmendes Wesen wirken mehr als anziehend auf mich. Das muss ich mir selbst ehrlich eingestehen. Aber, da ist noch etwas an ihm, was mich immer wieder dazu veranlasst meine Prinzipien zu vergessen und zu handeln, bevor ich denke.
Ich kenne mich selbst so nicht. Bisher kam es mir nie in den Sinn mich mit einem anderen Mann ohne Nialls Wissen zu treffen. Es kam mir auch nie in den Sinn meinen langjährigen Vertrauten anzulügen. Ebenso kam es mir nie in den Sinn mitten in der Nacht, in einer mir unbekannten Umgebung an einem dunklen Weg zu stehen und auf einen eigentlich Fremden zu warten.
Mir sollte diese Sorglosigkeit im Grunde Angst machen. Dennoch ist es nicht das Unbehagen, welches in mir vorherrscht. Es ist die Neugier und eine gewisse Vorfreude auf das Abendessen. Es ist das neue Gefühl aus meiner Komfortzone auszubrechen. Und nicht zuletzt ist es der Wille herauszufinden, was Harry so besonders macht.
Bewusst stelle ich mich ein wenig abseits des gut ausgeleuchteten Hoteleingangs, um eventuellen neugierigen Blicken zu entgehen. Ich muss allerdings nicht lange warten, da sehe ich die schlanke Silhouette des Kellners auf mich zu kommen. Breit grinsend tritt er auf mich zu.
„Ich bin ehrlich, ich habe dich hier nicht erwartet."
Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und frage, wie ich das verstehen darf, denn er hätte mir schließlich gesagt, dass wir uns hier treffen sollen.
„Ich wollte damit nicht sagen, dass du den Weg nicht findest, sondern vielmehr, dass ich dachte du würdest dich drücken", antwortet er ehrlich und bleibt direkt vor mir stehen.
Ich muss den Kopf etwas heben, um in Harrys Augen sehen zu können. Die markanten Züge meines Gegenübers sind nun von seinen langen Haaren eingerahmt. Ein leichter Luftzug bewegt sich hindurch und ich kann ein herbes Aftershave wahrnehmen.
„Dann schätzt du mich wohl falsch ein", lasse ich ihn wissen und bin selbst verwundert über meine Courage in diesem Moment.
Die grünen Augen mustern mich einen Moment, bevor sich wieder Grübchen in seine Wangen graben und er lediglich antwortet: „Das werden wir ja noch sehen."
Ich möchte noch etwas sagen, doch bevor ich dazu komme, umfasst Harry sanft mein Handgelenk und zieht mich mit einem "Ich habe Hunger" Richtung Hotelparkplatz.
Etwas überrumpelt stolpere ich hinter ihm her und erkundige mich, warum wir uns nicht ein Taxi rufen.
„Viel zu teuer und außerdem habe ich das hier."
Mit einer lässigen Handbewegung deutet er auf ein knallrotes Moped. Ohne auf meine Reaktion zu achten, hält Harry mir einen grünen Helm hin, welchen ich ihm allerdings nicht abnehme.
Stattdessen schüttle ich den Kopf und erkläre rigoros: „Ich steige nicht mit dir auf dieses Ding."
Oh Vicky, schwing deinen Hintern auf das Ding und los geht die wilde Fahrt. ;)
Lasst es bitte Sternchen regnen, wenn es euch gefallen hat und ihr wissen wollte, wie und ob es ein Abendessen geben wird.
Einen guten Start in die Woche wünsche ich euch.
Anni
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