Siebzehn
Nur dieser eine Satz von Niall holt mich schlagartig von meiner Wolke der Sorglosigkeit, auf welcher ich einen kurzen Moment umhergeschwirrt bin, zurück auf den Boden der Tatsachen.
Harry ist wieder mehr als präsent in meinen Gedanken. Seine Wärme die ich gespürt habe, als ich mich an ihm festgehalten habe und sein markanter Duft, der mir so gut gefallen hat - alles ist wieder da. Erinnert mich daran, dass ich auf eine merkwürdige Weise auch in diesem Moment mit Harry frei und zufrieden war.
„Hast du mir zugehört?", meldet sich Niall wieder zu Wort, da ich ihm eine Antwort schuldig bleibe.
Plötzlich fühle ich mich unwohl in seiner Nähe, es fühlt sich irgendwie falsch an, ihm so nahe zu sein. Obwohl es doch nur Niall ist, der neben mir steht und seine Hand auf meinem Rücken ruhen lässt. Ich kenne ihn jahrelang aber trotzdem kribbelt es nicht, wie es der Fall war, als Harry mich durch das kleine Bistro geführt hat.
So unauffällig es mir möglich ist, winde ich mich aus der Umarmung, auch wenn mich das schlechte Gewissen plagt. Doch es wird ebenfalls nicht besser, wenn ich jetzt Dinge tue, die sich nicht richtig anfühlen.
„Ja, ich glaube da könntest du recht haben", antworte ich vage auf Nialls Aussage bezüglich der Sterne, die man hier auch laut Harrys Erzählungen wunderbar sehen kann.
„Vielleicht sollten wir uns irgendwann mal die Zeit nehmen und das überprüfen", flüstert Niall nun wieder ganz dicht neben meinem Ohr und schlingt seine Arme um meine Taille, um kleine Zärtlichkeiten an meinen Hals entlang zu verteilen.
„Mama, Mama kuck da, das Meer", ruft ein kleiner Junge hinter uns, um gleich darauf euphorisch an uns vorbei zu stürmen.
„Nicholas pass bloß auf. Du fällst noch runter", höre ich die dazugehörige Mutter besorgt ihren Kleinen ermahnen.
Ich nutze die Aufregung um uns herum und versuche wieder etwas Abstand zwischen mir und Niall zu bringen. Seinen fragenden Blick auf meine Reaktion hin ignoriere ich und frage ihn stattdessen, ob wir weitergehen wollen.
Kurz drauf setzen wir unseren Weg fort. Dieses Mal versuche ich die meiste Zeit ohne Niall auf den teilweise rutschigen Wegen zurechtzukommen. An einigen Stellen befindet sich, obwohl wir mitten im Sommer hier sind, noch immer Schnee, welcher zu einer glatten Fläche gefroren ist.
Als sich wieder einmal entgegenkommenden Passanten an uns vorbeidrücken wollen, gerate ich ins Rutschen und bevor ich mit dem Hintern auf der Erde lande, greift Niall nach meinem Arm und zieht mich hoch. Die Leute gehen an uns vorbei und sobald der Weg wieder frei, löse ich mich erneute aus Nialls Umarmung.
Einmal zu viel, wie mir sein genervtes Aufstöhnen daraufhin verrät.
„Was ist verdammt noch mal plötzlich mit dir los?", höre ich Niall hinter mir schimpfen und ich drehe mich in seine Richtung.
„Nichts", antworte ich scheinbar ahnungslos, was er denn meinen könnte und füge hinzu, dass ich gerne weiter möchte.
Doch Niall hat andere Pläne. Mitten auf einem engen Weg direkt an einem Abhang entlang hält er inne und fordert mich auf, es ihm gleich zu tun, als er meine Namen ruft.
„Jetzt hört auf, mir was vorzumachen, was ist dein Problem?", ruft er laut, weil ich ein mittlerweile ein paar Schritte vor ihm bin.
Einige Urlauber hinter meinem Freund werfen diesem fragende Blick zu, die sicherlich auf sein Verhalten zurückzuführen sind.
Während ich wieder zu ihm aufschließe, fordere ich Niall auf, hier nicht so laut zu sein, sodass alle anderen Anwesenden auch etwas davon mitbekommen. Niall allerdings ist davon wenig beeindruckt und brummt, dass es ihm scheißegal sei, was andere denken. Er wolle schließlich einfach nur wissen, was mein Problem ist.
„Können wir das nicht im Hotel besprechen?", versuche ich die immer kritisch werdender Stimmung zu entspannen.
Die Lippen meines Partners sind schmal auf einander gepresst und seine Augen fixieren mich wie schon gestern Abend durchdringend. Schon wieder wirkt er bedrohlich auf mich. Unterstützt wird dieser Eindruck durch seine schwere Atmung, die dafür sorgt, dass sein Brustkorb sich merklich hebt und senkt.
Ich lege meine Hand beruhigend auf seine Wange. Kurze Bartstoppeln kitzeln meine Handinnenfläche. Vor meiner Geste zuckt er nicht zurück, stattdessen merke ich, wie er leicht seine Wange in meine Hand drückt, bis er schließlich meinem Vorschlag zustimmt und wir uns gemeinsam auf den Rückweg zur Seilbahn machen.
Auch auf der Fahrt den Hang nach unten, sorgt Niall wieder dafür, dass ich kaum mitbekomme, wie viele Leute sich um mich herum befinden. Es wird wohl nie dieses Gefühl für mich vergehen, dass Niall immer einer der wenigen Mensch ist und auch bleibt, der einen Fels in der Brandung, welche sich mein Leben und vor allem meine Familie nennt, darstellt. Diese Augenblicke machen mehr als deutlich, warum ich an Niall als Mensch und Begleiter hänge.
Die Fahrt zurück verläuft hingegen schweigend. Niall versucht nicht wie noch auf der Hinfahrt seine Hand auf meinen Oberschenkel zu platzieren, stattdessen starrt er stur geradeaus und konzentriert sich auf die Straße, die sich in engen Kurven durch den Nationalpark und den Berg hinunter schlängelt. Ich hingegen versuche mich noch immer an der Aussicht und der Natur zu erfreuen und vor allem damit abzulenken. Allerdings will mir das nicht so recht gelingen, da ich bereits mit meinen Gedanken bei Niall und meinem Gespräch bin.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich ihm meine plötzliche Suche nach körperlichen Abstand zwischen uns erklären soll. Ich kann ihm ja schlecht sagen, dass ich mich seit gestern immer wieder frage, warum ich dieses Kribbeln zwischen Niall und mir nicht verspüre, welches Harrys Berührungen in mir ausgelöst haben. Unweigerlich frage ich mich, ob es je zwischen mir und Niall wirklich gefunkt hat.
Natürlich liebe ich ihn, doch ob es diese allumfassende Liebe ist, von der so häufig in Büchern und Filmen die Sprache ist, wenn man von dem Einen spricht, das wiederum kann ich nicht mit Gewissheit beantworten.
Aber wer kann das denn eigentlich wirklich beantworten? Ich meine, vor Niall gab es zwar einen Jungen mit dem ich etwas hatte, aber da war ich ein Teenager, was wusste ich da schon von Liebe? Doch um ehrlich zu mir selbst zu sein, was weiß ich jetzt mit fast dreißig Jahren schon von der Liebe?
Wann weiß man denn wirklich, dass es der Richtige ist? Wie wirkt diese eine Liebe auf einen selbst? Vielleicht haben Niall und ich auch diese Art der Liebe schon längst erreicht, ohne, dass es mir bewusst ist.
In einer langen Beziehung ist es doch ohnehin normal, dass keine Schmetterlinge mehr umherfliegen und man die Dinge nüchterner betrachtet, oder?
Was macht denn eine glückliche Beziehung aus? Noch nie habe ich mir diese Frage gestellt, doch jetzt möchte ich so unbedingt eine Antwort darauf finden.
Viele würden wohl sagen Vertrauen ist das A und O in einer Partnerschaft. Wenn das wirklich stimmt, dann ist Niall der perfekte Mann an meiner Seite, denn mehr als ihm vertraue ich keinem anderen Menschen. Niall ist derjenige, der bisher am ehesten wusste, was mich beschäftigt. Der dem ich die Sache, die ich sonst keinem erzähle, erzählt habe. Aber reicht das aus, um von wirkliche Liebe zu sprechen? Immer mehr beschleicht mich das Gefühl, dass es nicht ausreicht.
Denn, wenn das alles wäre, warum lässt mich dann Harry nicht kalt? Warum schwirrt er in meinen Gedanken umher und wieso beginne ich mein bisheriges Leben und vor allem eine Beziehung, in welcher ich mich bisher sicher gefühlt habe, in Frage zu stellen. Alles ausgelöst durch einen einfachen Kellner, dessen Augen und sein Charisma mir den Verstand rauben. Ein Mann, der mit nur einer Frage seinerseits, ob bewusst oder unbewusst, meine ganze Welt auf den Kopf gestellt hat. Wie kann er solch einen Einfluss auf mich haben, wenn ich doch eigentlich glücklich mit Niall sein sollte?
Glücklich sein sollte, wie sich das schon anhört. Einfach falsch. Als würde man wie so oft etwas von mir erwarten. Von außen betrachtet erwartet wohl auch jeder genau das von mir - ich habe mit Niall glücklich zu sein, da wir doch augenscheinlich perfekt füreinander sind.
Erst jetzt wird mir das so richtig bewusst. Jeder mit dem wir in engerem Kontakt stehen, sieht uns als das perfekte Paar. Da ist es doch nur verständlich, dass man von uns erwartet, dass wir endlich heiraten und Kinder in die Welt setzen. Kann ich meinen und auch seinen Eltern daraus überhaupt noch einen Vorwurf machen? Habe ich im Grunde nicht selbst dafür gesorgt, dass man diesen Eindruck von uns hat, weil ich mich immer dem beuge, was man von mir erwartet. Ich es jedem recht machen möchte, sowohl beruflich, als auch privat. Zeigt dieses ganze Dilemma, in welchem ich nun stecke nicht mehr als deutlich, dass ich meine Rolle der braven Tochter und Freundin perfektioniert habe und so gut gespielt habe, dass alle mir geglaubt haben, dass ich glücklich bin? Ich mir zum Teil sogar selbst etwas vorgemacht habe, zumindest, was meine Beziehung zu Niall angeht.
In diesem Moment, als wir auf den Parkplatz des Hotels einbiegen, möchte ich am liebsten aus dem Auto springen und davonlaufen. Soweit wie möglich von allem weg. Davonrennen vor dem Gespräch, das nun folgen wird, sowie vor der Erwartung, dass ich einsehe, wie falsch mein Handeln und mein Denken ist. Und schlussendlich in diesem Moment möchte ich auch vor Niall weglaufen.
Doch wo sollte ich schon hin? Selbst wenn ich mich nicht auf einer Insel mitten im atlantischen Ozean befinden würde, wenn ich in Berlin, meinem Zuhause wäre, wüsste ich nicht wohin mit mir. Ich habe niemanden, dem ich mein Leid klagen kann, jetzt wo Niall auch nicht in Frage kommt.
Für einen kurzen Augenblick kommt mir Mel, meine Sekretärin, in den Sinn. Doch diesen Gedanken verwerfe ich schnell, denn mal ehrlich, wie erbärmlich wäre es, wenn ich als ihre Chefin zu ihr komme, um über mein Leben zu jammern. Das könnte ich nicht. Mit ihr kann ich mal einen Cocktail nach Feierabend trinken und über Banalitäten plaudern, aber tiefer ginge nicht. Das wäre mir in meine Position ihr gegenüber nicht möglich.
Ich stehe anscheinend vollkommen alleine da und diese Tatsache macht mir Angst. Schon öfters kam der Moment in meinem Leben, in dem ich mir meinen Bruder zurückwünschte. Doch noch nie, war dieser Wunsch so stark wie jetzt. Alexander wäre der, der meine Situation wohl am besten verstehen könnte. Auch wenn ich jahrelang nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Ich nicht einmal genau weiß, ob es ihm, wo auch immer er gerade ist, gut geht. Trotzdem glaube ich zu wissen, dass er mir ganz ohne jede Umschweife sagen würde, ich solle endlich aus diesem goldenen Käfig ausbrechen.
Doch der goldene Käfig ist für mich nicht nur ein dünnes Drahtgestell, dass ich leicht durchbiegen kann, um mich in die Freiheit zu zwängen. Auf mich wirkt dieser Käfig, als bestünde er aus meterdicken Betonwänden und Eisenstangen, die vor einem kleinen Loch angebracht sind, durch das ich das echte Leben zwar sehen kann, aber nie erreichen werde. Eine Tür gibt es nicht und somit ist mein Schicksal besiegelt.
Schweigend und mit einem unguten Gefühl im Bauch folge ich Niall in unser Zimmer.
Scheinbar völlig ruhig beobachte ich meinen Freund dabei, wie er die Jacke auszieht und gleich darauf seine Schuhe von den Füßen kickt. Ich tue es ihm gleich, um anschließend auf dem Bett Platz zu nehmen und abzuwarten, was nun passiert.
Während Niall seine teure Smartwatch abnimmt, läuft er vor mir auf und ab, schließlich holt er tief Luft und fragt mich, sichtlich bemüht um eine ruhige Stimme, was mit mir los sei.
Naiv versuche ich es ein weiteres Mal auf die ahnungslose Tour, aber Niall lässt sich auf dieses Spiel nicht ein. Vollkommen ernst sagt er, dass ich endlich mit den Spielchen aufhören soll.
„Ich spiele nicht", verteidige ich mich und führe eine abwehrende Armbewegung durch, um meine Worte zu untermauern.
„Hör auf damit!", poltert Niall und ich zucke erschrocken, über die Lautstärke seinerseits zusammen. „Verdammt Vicky, ich bin doch nicht dumm. Du entziehst dich mir immer mehr. Meine Berührungen scheinen dir unangenehm zu sein. Glaubst du ich bemerke das nicht?"
Ich weiß nicht, was ich daraufhin antworten soll, also schweige ich besser. Niall sieht mich einen kurzen Moment an, bevor er fortfährt.
„Was ist vorhin passiert?", forscht er nach und seine Stimme zittert, während er weiterhin unruhig vor mir auf und ab geht.
„Nichts", antworte ich wenig überzeugend.
Meine Hände sind schwitzig und immer wieder wische ich sie an meiner dunklen Jeans ab.
„Hör verdammt nochmal auf damit", flucht Niall und seine flache Hand trifft mit einem dumpfen Knall an die Wand. Doll genug, sodass der dort angebrachte Fernseher in seiner Halterung wackelt.
Erschrocken, über diesen Wutausbruch, reiße ich meine Augen auf und der Gedanke, dass ich im Moment nicht mit Niall alleine sein möchte, beschleicht mich. Mit der Bitte, dass er sich beruhigen soll, versuche ich ihn leise flüsternd zu besänftigen. Doch Niall scheint in diesem Moment nicht dazu in der Lage, stattdessen bleibt er mit verschränkten Armen vor der Brust direkt vor mir stehen und sieht zu mir hinunter. Schlagartig fühle ich mich klein und schutzlos. So wie es in seiner Gegenwart bisher nie der Fall war und auch nie sein sollte.
„Du hast eine letzte Chance ehrlich zu mir zu sein Viktoria", erklärt er augenscheinlich völlig ruhig, aber das unheimliche Grollen aus seiner Brust belehrt mich eines Besseren.
„Warst du gestern Abend alleine unterwegs, oder nicht?"
Die Frage aller Fragen, wird Vicky weiterhin an ihrer Lüge festhalten, oder sagt sie die Wahrheit?
Und was denkt ihr im Moment über Niall?
Sonst bedanke ich mich immer wieder gerne fürs Sternchen drücken und fürs fleißige kommentieren. :)
Anni
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