19. Heimat fühlen
- Elenas POV -
Niedergeschlagen und die Augen voll trauriger Melancholie sah mich Harry hilfesuchend an. Seine Welt war mir so fremd, doch diesen Ausdruck kannte ich zu genüge.
Er wusste nicht, wohin mit sich und auch nicht, wonach er suchte, doch ihm war bewusst, dass etwas in ihm fehlte.
Es war nicht das erste Mal, dass er mir seine Lage und Gefühle so vermeintlich offen schilderte, doch zum ersten Mal hatte er es mit dem Wissen getan, dass ich ihm nicht traute.
Ich hatte gesehen, wie kurz etwas in ihm zerbrochen ist, als ich ihm unterstellt hatte, er würde eine Rolle spielen und mir gegenüber nicht ehrlich sein.
Doch kaum hatte ich diese Zweifel offen kundgetan, hatte er sie mit nur einem Blick zerschlagen.
Vielleicht lag es daran, dass er mir in diesem Moment gegenübersaß und ich mich wieder vollkommen in seinen Augen verloren hatte, doch dieses Mal war ich mir sicher - er war ehrlich zu mir.
Spätestens dann, als er mir von seinem bisherigen Weg mit Jeff an der Seite erzählt hatte.
Nach allem, was ich nun gehört hatte, konnte ich bloß ahnen, wie es sich für Harry angefühlt hatte, mich in den letzten Tagen so engagiert in Modests Reihen und auf Jeffs Fersen zu erleben.
Die ganze Zeit über wollte ich selbst Teil dieser Branche werden und die Strippen ziehen, doch Harry nun hier vor mir zu sehen, umgeben von dieser unerträglichen Niedergeschlagenheit, ließ diesen Plan in ungeahnte Ferne rücken.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Harry", behielt ich meine Ehrlichkeit bei. „Ich kann dir weder ein anderes Leben schenken, noch kann ich Jeff absägen und mit euch eine neue Karriere einschlagen. Was erwartest du denn von mir, was soll ich machen?"
„Ich weiß es nicht", schüttelte er ebenso planlos den Kopf und strich sich seine braunen Locken mit einer Handbewegung aus dem Gesicht.
„Vertrau dir einfach selbst ein bisschen mehr und hör auch dein Bauchgefühl."
Ungläubig sah ich ihn an und blinzelte dreimal.
„Ernsthaft? Du haust mir hier solche Klischeesätze um die Ohren, nach allem, was du mir gerade erzählt hast?"
Sofort hob er beschwichtigend eine Hand und beugte sich etwas nach vorne, um mir besser in die Augen sehen zu können.
„Ich meins ernst, du tust mir alleine schon gut, wenn du gar nichts tust", stellte er mir ernster, tiefer Stimme klar. „Du bist fürsorglich, aufmerksam, sensibel und trägst so vieles in dir, ohne irgendetwas zu tun. Alleine diese Eigenschaften um mich zu haben, ist so vieles mehr, als ich in letzter Zeit erfahren habe. Und du hast mit all dem, was du hast auch Einfluss auf Modest. Hör auf dich und nicht darauf, was sie und andere sagen. Alleine dadurch änderst du schon eine ganze Menge."
Harry hätte gerade sagen können, was immer er wollte. In meinem Ohr klangen immer noch die Worte „du tust mir gut".
Er hatte mich gerne in seiner Nähe, ebenso wie ich ihn, doch was das zu bedeuten hatte, war mir ein Rätsel.
Wir sprachen nicht über die Nacht, die wir miteinander verbracht hatten und rollten auch die Diskussion, wer damals wen zuerst geküsst hat, kein weiteres Mal auf.
Stattdessen forderte Harry nun eine Sache: „Lern mich kennen und lass mich dich kennenlernen."
Wohin das letztendlich führen sollte, wusste ich nicht, aber vielleicht hatte Harry recht.
Ich sollte mir einfach mal selbst vertrauen, ich sollte nicht schon wieder alles hinterfragen und definieren wollen.
Leise hörte ich Harry in sich hineinlachen, als ich gedankenverloren vor mich hinstarrte. Überrascht richtete ich meine Aufmerksamkeit auf ihn und erkannte, dass er starr an mir vorbei sah, hinaus aus der Fensterfront, die direkt hinter mir und damit ihm gegenüber lag.
Was sich dort draussen bot, war ein atemberaubender Ausblick mit einem noch schöneren Sonnenaufgang über Chile.
„Ich weiß gar nicht, wann ich das zum letzten Mal bewusst wahrgenommen habe", gab Harry lächelnd von sich, als er bemerkt hatte, dass ich seinen Blick verfolgt hatte. „Ich laufe inzwischen echt blind durch die Welt."
„Es ist aber auch wirklich ein Traum hier", stimmte ich ihm seufzend zu, ebenfalls angetan von dem Blick aus dem Fenster und hatte mich auf meinem Sessel leicht umgedreht.
Die Sonne stieg auf, ein neuer Tag brach an und es hätte gar nicht symbolischer sein können - es war ein Neustart, ein neuer Anfang. Mit Harry, mit diesem Job, mit mir selbst.
Ich hatte eine neue Sicht gewonnen - mal wieder.
„Weißt du was?", hörte ich Harrys rauhe, tiefe Stimme erneut und sofort hatte ich mich wieder ihm, anstelle des Sonnenaufgangs zugewandt. Zugegebenermaßen wusste ich auch nicht, welchen Anblick ich angenehmer fand. Das Naturschauspiel dort draußen oder doch den jungen Mann mit seinen langen, braunen Locken und diesen unheimlich schönen, weichen Lippen.
Nachdenklich hatte er sein Kinn auf seine Hand gestützt und schien die Ringe an seinen Fingern zu fixieren, bevor er dann wieder mich ansah und seine rhetorische Frage selbst beantwortete.
„Ich müsste dringend mal wieder nach Holmes Chapel."
„Wohin?"
Schmunzelnd zog er einen Mundwinkel nach oben, während er mich keine Sekunde aus den Augen ließ.
„Nach Holmes Chapel", wiederholte er sachlich, doch auch dieses Mal bekam er bloß wieder einen unwissenden Blick meinerseits.
„Oh Mann", lachte Harry leicht auf. „Googlet heutzutage denn niemand mehr die Menschen, die einen beschäftigen? So, wie sich das gehört?", fragte er ironisch und sah mich amüsiert an, bevor er mir dann doch eröffnete, dass Holmes Chapel sein Heimatort war.
„Kennst du das, wenn man an einen Ort zurückkehrt und das Gefühl hat, dass dort die Zeit stehen geblieben ist? Ich glaube Holmes Chapel wird immer der einzige Ort sein, an dem ich bloß Harry bin. Vielleicht liegts an meiner Mutter, vielleicht an der gesamten Nachbarschaft - jedenfalls lebt dort der alte Harry", erklärte er und ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er an den kleinen Ort und seine unbeschwerten Tage dort dachte.
„Ich kann es mir gut vorstellen", nickte ich und musste unwillkürlich ebenfalls lächeln, als ich Harry hier so sah.
„Allerdings war mein Elternhaus eher weniger von Herzlichkeit und Wärme erfüllt, also ist es auch gleich, ob ich nun hier in Chile, in LA oder in London bin. Meine Eltern und ihr Stolz auf mich sind da, wo mein Erfolg sein könnte."
Sofort wich Harrys Lächeln einem besorgten Gesichtsausdruck und nun war er es, der mich mitleidig musterte.
„Klingt ja fast, als wären deine Eltern bei Modest", sagte er schließlich dennoch und lachte trocken auf, was auch mich wiederum zum Grinsen brachte.
„Dafür hat es bloß bei meinem Onkel gereicht, sie sind eher auf der anderen Seite, bei den Medienkonzernen. Aber eine Hand wäscht die andere und hier bin ich."
Verstehend nickte Harry.
Wir taten also genau das, was er zuvor gefordert hatte - wir lernten einander etwas kennen. Ohne Berührungen, ohne Küsse, ohne überflüssigen Körperkontakt oder Alkohol.
Wir waren bloß zwei Menschen, die sich unterhielten.
„Oh!", rief Harry nach einer Weile plötzlich erschrocken, als er einen flüchtigen Blick auf sein Handy warf und die Uhrzeit darauf erkannte.
„Ich sollte mich vielleicht mal wieder auf mein eigenes Hotelzimmer verziehen, bevor Jeff noch irgendwo auftaucht und mich hier erwischt."
Lachend machte er wieder eine fahrige Handbewegung durch sein langes Haar und schnappte sich seine beiden Handys, als er sich aus dem Sessel erhob.
Wortlos folgte ich ihm zur Türe des Hotelzimmers, wo Harry noch einmal abrupt stehen blieb und sich mir zuwandte.
„Ich denke, ich werde mich dann mal bei Louis bedanken", stellte er sachlich fest, bevor er mir noch einmal eines seiner herzerweichend Lächeln schenkte.
Er hatte recht - wer weiß, ob es jemals zu dieser Aussprache gekommen wäre, hätte Louis nicht die Hände im Spiel gehabt und uns zu unserem Gelück gezwungen.
„Ja, du kannst ihm gerne auch meinen Dank aussprechen", konnte ich also bloß beipflichten und ehe ich mich versah, hatte Harry seine Arme ausgebreitet.
Sanft, aber doch bestimmend zog er mich zu sich und schloss mich so fest in eine Umarmung, dass ich gar nicht anders konnte, als mich vollends geborgen und beschützt zu fühlen.
Es war keine dieser flüchtigen, aber lieb gemeinten Umarmungen, viel mehr fühlte es sich an wie eine Versprechen. Als wollte er mir versichern, dass er der war, der er vorgab zu sein und auch tatsächlich hier bei mir war.
Dicht drückte er mich gegen seinen starken Körper und ich spürte, wie sich seine Brust einmal hob, als er tief seufzte.
„Wir sehen uns später, Elena", sagte er dann leise und entließ mich zaghaft wieder aus seinen Armen.
Verloren stand ich dort im Türrahmen und konnte noch nicht einmal etwas erwidern, so sehr warf mich Harrys Nähe aus der Bahn. Seine Art, seine Berührungen, sein Geruch, einfach alles an ihm war so atemberaubend und auch so anders, als ich es jemals zuvor erlebt hatte.
Ich hatte mich niemals an einem Ort Zuhause oder beschützt gefühlt, immerhin hatte meine Familie nie Wert auf Nähe oder Wärme gelegt. Doch Harrys Arme waren ein Ort, an dem ich gerne den Rest meines Lebens verbracht hätte und mich geborgener gefühlt hätte, als jemals zuvor.
Ich wusste nicht, ob es tatsächlich in meiner Macht stand, ihm aus seiner derzeitigen Situation zu helfen, doch ich wusste, dass er es wert war, zu versuchen ihm die Hand zu reichen.
Wer, wenn nicht Harry?
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