Die Krankheit
Es war ein langer Tag gewesen und so genoss ich den Abend. Erst ein anstrengendes Training, dann noch der Mannschaftsabend mit den Kollegen. Ich mochte die Jungs, aber es war nicht das gleiche wie früher.
Ich lag schon im Bett, als mein Handy plötzlich laut klingelte. Ich war verwirrt und nahm es von meinem Nachtschränkchen.
"Hallo?", fragte ich und gähnte.
"Olà, Roman? Here is David, a friend of Julian", sagte der Anrufer.
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich den Namen meines ehemals besten Freund hörte. Als er noch in Dortmund gespielt hatte, hatten wir viele Nachmittage und Abende verbracht. Wir konnten ewig lange quatschen und hatten immer ein Thema. Um ehrlich zu sein, ich hatte mich sogar in ihn verliebt.
Doch als Julian Dortmund verließ, brach diese Verbindung. Ich vermisste ihn, aber ich konnte ihm das schlecht sagen.
"Olà? Roman? Are you there? We have a big problem with Julian", sagte mein Anrufer.
Panisch saß ich aufrecht im Bett. Julian sollte ein Problem haben? Aber wieso sollte ich da helfen können? Hatte er in Portugal nicht viele neue Freunde gefunden?
"Yes, yes, I'm here. How can I help you?", fragte ich nervös.
"Can you come please? Julian needs your help", sagte der Anrufer.
Julian brauchte meine Hilfe. Er brauchte meine, wirklich meine Hilfe. Ich musste zu ihm. So schnell wie möglich.
"I'm on the way. Can you send me the address?", fragte ich und packte eine kleine Tasche zusammen.
"Yes, thank you for your help."
Der Flug war unglaublich anstrengend. Ich hatte die ganze Zeit Angst. Was ist, wenn es Julian wirklich schrecklich geht? Ich hatte die Adresse bei Google Maps eingegeben, nachdem David sie mir geschickt hatte. Es war das Krankenhaus gewesen. Was ist mit Julian passiert? Auf den Bildern und bei unseren Unterhaltungen war er immer so glücklich und so gesund.
Als ich im Krankenhaus ankam, hatte ich kaum geschlafen. Es war morgens früh, ungefähr vier, halb fünf.
Ich fragte mich im Krankenhaus herum, ich musste wissen, wo Julian war. Keiner konnte mir was sagen, aber ich konnte jetzt doch nicht ins Hotel gehen. Mein bester Freund war hier irgendwo. Und ich wusste, dass Julian das Krankenhaus hasste.
Irgendwann fand ich eine Krankenschwester, die halbwegs englisch konnte. Ich konnte von ihr erfahren, auf welcher Station und welches Zimmer mein bester Freund lag.
Ich lief zu dem Zimmer und klopfte. Erstaunlicherweise hörte ich ein leises "Ja bitte?". Wie konnte Julian jetzt noch wach sein? Was ist nur mit ihm los?
Vorsichtig ging ich in das Zimmer. Auf dem Bett saß Julian und schaute mich überrascht an.
"Was machst du denn hier?", fragte er mich leise.
Genauso leise antwortete ich: "Dein Kollege hat mir geschrieben, dass es dir nicht so gut geht. Ich hab mir Sorgen gemacht."
"Mir geht es gut, ich hab keine Probleme...", murmelte Julian, "die haben mich einfach ins Krankenhaus gebracht, nur weil ich mich einmal beim Training übergeben habe."
"Du hast dich beim Training übergeben?", fragte ich leise, "du bist krank zum Training gegangen?"
"Ich bin nicht krank. Ich musste mich nur übergeben", murrte Julian.
Vorsichtig nahm ich Julians Hand. War sie immer schon knochig? Auch seine Arme waren noch dürrer als sonst.
"Hast du noch mehr abgenommen? Du warst schon immer so schlank und musstest nie abnehmen", sagte ich, "du warst doch so schön gewesen."
Julian schaute mich entgeistert an: "Ich bin nicht hübsch und ich habe auch nicht abgenommen. Ich seh genauso aus, wie vor Wochen. Ich bin sogar dicker geworden."
Mein Herz blieb für einen Moment stehen und ich verstand das Problem, dass David erwähnt hatte. Julian hatte kein physische Problem, sondern ein psychisches Problem. Irgendwas stimmte mit seiner Wahrnehmung nicht und das musste doch eine Ursache haben.
"Das stimmt doch nicht, Julchen. Du bist viel zu dünn. Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, aber du siehst schrecklich aus", flüsterte ich und Tränen liefen über meine Wange, "ich vermisse dich, wie du früher warst..."
"Roman... Ich hab kein Problem. Ich bin genauso wie früher. Und jetzt heul bitte nicht", sagte Julian und starrte die Wand an. Er schaute mich nicht mal an. Ich schluchzte leise auf und drückte meinen Kopf aufs Bett.
"Roman bitte, jetzt bitte weine nicht", murmelte Julian und ich hörte wie seine Stimme zitterte. Ich schaute zu ihm und sah, wie auch ihm Tränen über die Wange liefen.
"Julian, ich brauche dich doch, so wie du bist und nicht so, wie du dich machen willst", flüsterte ich.
Bevor Julian mir etwas sagen konnte, übermannte mich der Schlaf. Ich war so kaputt und war so voller Angst. Ich brauchte jetzt einfach den Schlaf.
Lange konnte ich nicht schlafen. Jemand versuchte meine Arme zu lösen. Ich hatte mich wohl im Schlaf um etwas geklammert. Und dieses Etwas will wohl aufstehen.
"Es ist viel zu früh... Warum muss ich aufstehen?", nuschelte ich.
"Du musst nicht aufstehen", sagte Julian, "ich will nur an die frische Luft."
"Es ist noch vor sechs Uhr", nuschelte ich und zog Julian wieder ins Bett, "du musst jetzt nicht raus."
"Doch, ich muss ein bisschen laufen", sagte Julian und entzog sich meinen Armen.
Diese Aussage machte in mir klick und ich sprang auf. Ich würde meinen besten Freund auf keinen Fall rauslassen. Er war krank und so langsam verstand ich, warum Julian eigentlich im Krankenhaus war.
"Julian, hör auf. Du bist krank und du merkst es nicht mal. Was ist mit dir los? Was bedrückt dich?", fragte ich sanft.
"Das geht dich gar nichts an!", fauchte Julian, "und jetzt lass mich in Ruhe. Geh zurück nach Dortmund."
"Werde ich nicht. Du brauchst Hilfe und ich werde bei dir bleiben", sagte ich und ging vorsichtig zu Julian.
Plötzlich merkte ich, wie Julian zusammen brach. Ich lief zu ihm und fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufkam. Er krallte sich an mich und fing an zu schluchzen. Sanft strich ich ihm über den Rücken.
"Ich bin unglücklich hier... Ich brauche dich hier, um glücklich zu sein", hauchte Julian, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte.
"Julchen, hey, es ist okay. Ich bin doch jetzt hier. Und ich muss nicht dringend zurück", flüsterte ich. Julian brauchte mich und ich musste jetzt für ihn da sein.
Ich nahm Julian hoch, um ihn wieder in sein Bett zu legen. Dabei erschrak ich, er wog kaum noch was.
"Julian? Bitte tu mir den Gefallen und iss wieder was", hauchte ich. Ich wusste wie sinnlos diese Bitte war. Es ging bei seiner Krankheit nicht um das Essen, sondern um das Psychische.
Julian schmiegte sich in meine Arme: "Ich versuch es... Aber du musst bei mir bleiben. Bitte..."
"Ich verspreche es dir", flüsterte ich und gab Julian einen Kuss auf die Stirn.
Ein halbes Jahr später hatte sich die Situation kaum verändert. Julian aß immer noch kaum was und immer wieder hörte ich ihn, sich im Bad übergeben.
Mein Herz brach jedes Mal aufs Neue, wenn ich Julian so zerbrechlich sah. Der Mann, den ich liebte, machte sich selbst fertig.
Wiedereinmal hing Julian nach einer Heißhungerattacke über der Toilette. Er hatte so sehr versucht, alles bei sich zu behalten. Dann kam er vom Training wieder und lief so schnell ins Badezimmer, dass ich kein bisschen was sagen konnte.
Ich setzte mich hinter Julian und hielt ihn fest. Er sollte wissen, dass ich für ihn da war und ihn nicht alleine lassen würde.
"Warum tust du dir das jedes Mal aufs Neue an, Julchen? Es schadet dir doch nur", hauchte ich.
"Sie haben hinter meinem Rücken geredet. Das hat mich mitgenommen und es hat diesen Schalter umgelegt", sagte Julian und wischte sich schwach über den Mund. Tränen begannen über seine Wange zu laufen.
"Julchen, bitte. Wir haben das doch geübt. Sonst musst du wieder in Therapie gehen. Und das möchte ich nicht", flüsterte ich, "ich will dich nicht verlieren, bitte, versteh das doch."
"Warum? Warum bin ich dir so wichtig?", fragte mich Julian.
"Weil...weil ich mich in dich verliebt habe. Und das schon seit Jahren", hauchte ich, "ich liebe dich Julian und mein Herz zerbricht, wenn ich dich so sehe."
"Du...du liebst mich...?", fragte Julian kaum hörbar. Ich nickte und Julian fiel mir um den Hals. Ich war so überrascht von seiner Aktion, dass ich nach hinter fiel.
"Ich will es schaffen, Roman", flüsterte Julian in meinen Armen, "für dich."
"Nein, versuch es nicht für mich, sondern für dich persönlich. Du musst gesund werden", sagte ich genauso leise und küsste Julian auf die Stirn.
Julian nickte und schmiegte sich an mich: "Für mich und dich. Für uns..."
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