6. Die Höhle des Löwen
Es scheint, als habe mein Herz erst jetzt wieder verstanden, wie es schlagen soll. Mit einem unangenehmen, ruppigen Takt setzt es sein reges Treiben fort als Vinzent in der Dunkelheit eines der Tore der Arena verschwindet. Es ist Mittagszeit in der Negev Wüste und dennoch ist mir eisig kalt bei dem Gedanken daran, was hier gerade passiert ist. Ich wurde befördert. Einfach so.
Und noch immer starren mich alle an.
Die Stille auf dem sandigen Platz ist so laut, dass ich mich räuspere, um sie zu unterbrechen. Beinahe sofort kommt wieder Leben in die Schüler und Mentoren und zögerlich wenden sie sich von mir ab, die Aufmerksamkeit wieder beim Training. Erleichtert atme ich auf und lasse meine angespannten Schultern sacken.
„Danke, ich bin ja so froh, dass-" „Schnauze!", fauche ich Mylan sauer an und verlasse mit schnellen Schritten die Arena. Doch der Junge folgt mir, hält sich wie ein Koala an meinem Arm fest. „Warte, bitte, ich werde dich als Schüler nicht enttäuschen oder blamieren, versprochen! Ich-" „Was an Schnauze hast du nicht verstanden?!" Glücklicherweise verstummt er augenblicklich. „Ich bin nicht dein Mentor, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, verlass dich drauf!" Eingeschüchtert zieht er den Kopf ein.
Nur kann ich auf ihn keine Rücksicht nehmen. Mit meinem Ziel klar vor Augen folge ich Vinzent durch das dunkle Tor.
Der kühle Schatten verschluckt mich sofort, die Sonne lasse ich hinter mir und meine Sicht klärt sich schon nach wenigen Sekunden, gewöhnt sich an das öde Steingrau der unteren Räume. Allerdings ist der Anführer der Membuat nicht mehr zu sehen. Frustriert stoße ich zischend die Luft aus.
„Ezra!"
Ich ignoriere Valerias Rufen. Stattdessen bahne ich mir meinen Weg durch die vielen Werkbänke hindurch und öffne die Tür zu den Organisationsräumen. Vielleicht ist Vinzent zurück in sein Reich gekehrt.
„Scheiße, jetzt warte doch mal!", schreit meine Kameradin nun und zieht mich grob am Arm zurück. Und der Ausdruck in ihren Augen lässt mich innehalten. Es ist Sorge. „Was war das eben?", will sie mit ungeahnter Sanftheit wissen. „Ezra...", mit gerunzelter Stirn legt sie ihre Hände jeweils seitlich an mein Gesicht, zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen, „Was ist los mit dir?" Verwirrt verziehe ich das Gesicht. „Gar nichts, was ist los mit dir?"
Jetzt ist sie es, die nicht versteht. Sie lässt ihre Hände fallen und sieht mich fassungslos an. „Du hast Hamza angegriffen!" „Wäre nicht das erste Mal." Damit drehe ich mich wieder um, will gehen, mit Vinzent sprechen, aber Valeria hält die Tür zu, klemmt mir dabei fast die Hand ein.
„Lass mich durch." Entschlossen schüttelt Valeria den Kopf. „Nein, garantiert nicht, wenn du so zu Vinzent gehst, ist das dein Todesurteil!" „Und wenn schon!", fauche ich zurück. Sie scheuert mir eine. Kurz sehe ich kleine Sternchen, dann wieder die dunklen Augen von Valeria. „Ich weiß, ich weiß", sagt sie langsam und verstehend, „Du machst momentan eine schwere Phase durch, aber Dario und ich sind immer an deiner Seite-"
„Wovon bitte redest du?", unterbreche ich sie.
Fast schon mitleidig neigt sie den Kopf zur Seite. „Du bist in letzter Zeit so anders, so... sensibel. Vielleicht brauchst du Hilfe." Freudlos lache ich kurz auf. „Willst du damit sagen ich wäre gestört?" Sie sagt nichts. Ihr Zögern ist mir aber Antwort genug.
Genervt seufze ich. „Ich will nicht wissen, was die beschissene Manipulation von Hamza bei euch schon alles angerichtet hat, aber glaub mir, ich bin wie immer. Mir geht es gut. Ich bin mental noch soweit auf der Höhe, dass ich weiß, dass man ein Kind nicht einfach über den Haufen schießt, weil sein Körper physische Grenzen hat." Sie will etwas entgegen, doch ich lasse sie nicht. „Und du kannst mir nicht verklickern, dass wenn du tief in dich hineingehst, ein gutes Gefühl dabei hast, wenn er das tut."
Der ausdruckslose Blick, der daraufhin in Valerias Augen auftritt, nimmt mir jede Hoffnung. Die Gehirnwäsche der Membuat schien Früchte zu tragen.
Seufzend schüttle ich den Kopf und wende mich ab. Valeria konnte man scheinbar nicht mehr helfen. Und wenn, dann sicher nicht mit einem kurzen Gespräch in den steinernen Räumen hier. Deren Kälte war nahezu erdrückend und die unzähligen Waffen an den Wänden erinnerten mich zu sehr an das Training und die gladiatorenartigen Herausforderungen. Eine Unterhaltung mit Vinzent würde mir mehr bringen.
Zumindest hoffe ich das.
Die einzelnen Member, die mir in den kühlen Gängen entgegenkommen, grüßen mich verhalten und emotionslos nicke ich ihnen zu. Valeria folgt mir zum Glück nicht. Somit bin ich allein. Allein mit meinem möglichst selbstbewusstem Gang, während ich in die Höhle des Löwen gehe, und meinem Schatten.
Doch einsam bin ich nicht. War ich nie. Und werde ich auch nie sein. Vielleicht... ja, vielleicht war es genau diese Gewissheit, die mich nicht verrückt werden ließ. Aber in den Augen aller anderen war ich genau das. Verrückt.
Vinzent mochte zwar der Anführer der Membuat sein, jedoch bekam ihn kaum einer zu Gesicht. Ob er wusste, dass viele in seinen eigenen Reihen ihn hassten und er deshalb Sicherheitsabstand wahrte? Ich wusste es nicht. Jedenfalls verließ er nie das Terrain, welches sich die Membuat vor vielen Jahren mittels Gewalt einfach genommen hatten. Die Grenzen wurden ebenso wie die Städte und Dörfer regelmäßig mit einer Patrouille abgegangen, Sicherheit vor anderen Gruppen war also gegeben, dennoch wollte er nichts von der Außenwelt wissen. Er beobachte nur von der Ferne aus. Genau genommen von mehreren Bildschirmen aus, die wichtigsten Infos bekam er von seinen engsten Vertrauten.
Und dennoch war gerade er der wohl mächtigste Mann der Welt. Lachhaft und traurig im selben Moment.
Meine Lunge füllte ich schnell mit frischem Sauerstoff und versuchte meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, der unterbewusst hochgegangen war, bei dem Gedanken an den skrupellosen Anführer. Vinzent mochte sich kaum zeigen, aber Angst flößte er trotzdem jeden ein. Zumindest den meisten. Allen, bis auf den Mitgliedern der Percaya. Aber die waren ohnehin eine Gruppe für sich.
Laut klopfe ich gegen die Tür, die ins Verderben führt. Zahlreiche Gerüchte existierten in den Gängen der Betriebsgebäude über die Zahl der Toten bezüglich Vinzent's Zimmer. So manch einer hatte es nicht lebend herausgeschafft.
Hatte man die falschen Worte gewählt? Die falsche Entscheidung getroffen? Einfach nur Pech gehabt? Vielleicht hatte Vinzent auch einfach einen schlechten Tag gehabt oder Lust zum morden. Kam immerhin schon vor...
„Komm rein, Ezra", erklingt es von drinnen und gepresst atme ich aus. Der Druck auf meinen Brustkorb unendlich schwer.
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