4. Kinderaugen
„Leben ist für die Starken, ein Privileg, welches man sich erkämpfen muss." Prüfend sieht Hamza jeden einzelnen der Jugendlichen in die Augen. „Nur, weil ihr jetzt bei den Membuat seid, heißt das nicht, dass ihr leben werdet. Euer Leben müsst ihr euch verdienen, genauso wie euren Rang und euren Namen", fährt er fort.
Ich hingegen schweife ab, höre ihm nicht mehr zu. Diese Rede hatte ich vor Jahren schon gehört. Und es hatte sich nichts geändert.
Die jungen Männer vor mir sind nichts als Kinder. Verängstigte Kinder, die mit großen Augen zu uns hinaufsehen. Die anderen Mentoren stehen schweigend neben uns und Hamza genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit.
Zwei Wochen waren seit dem letzten Einsatz vergangen und für die nächste Zeit würden keine weiteren folgen. Missionen waren fortan für mich tabu. Eine Schande und Glück gleichermaßen. Doch die Arbeit als Hilfstrainer hatte ich jetzt schon satt. Und dabei hatte sie noch nicht einmal angefangen. Die Ausbildung würde beinahe ein ganzes Jahr gehen, danach waren die Schüler auf sich gestellt und mussten eigenständig dafür sorgen, dass sie nicht auf der Strecke blieben.
„Noch seid ihr nichts als Opfer. Opfer von der Gesellschaft, der Welt und dem Handeln der Percaya", erklärt Hamza weiter und ich unterdrücke ein Gähnen.
Opfer war ein passender Begriff. Diese Jugendlichen hatte man ihren Familien beraubt. Sicherlich waren manche von ihnen Straßenjungs oder Bandenmitglieder. Kleine Kriminelle. Straßengangster. Andere hingegen hatten Familie, Freunde, eine lebenswerte Zukunft, welche jetzt einfach so verschenkt wurde. Und nicht alle von ihnen lebten in den naheliegenden Ländern. Manche waren nichts weiter als Touristen am falschen Ort zur falschen Zeit. Ihre Familien würden sie nie wiedersehen.
Mein Blick gleitet durch die Reihen. Wie jedes Jahr ist jeder Charaktertyp da, ihre Augen verraten es. Selbst ein paar wenige Mädchen kann ich erspähen.
„Doch ab heute wird sich alles ändern." Hamza macht eine dramatische Pause. „Ihr werdet lernen zu kämpfen." Und zu töten, füge ich innerlich hinzu. „Ihr werdet eine stärkere Version von euch selbst werden, euer Potential entfalten und gemeinsam mit uns gegen das Übel der Welt und der Percaya kämpfen, damit das Volk sicher vor deren Propaganda ist." Tolle Versprechungen. „Aber nicht alle von euch sind zum Siegen geboren. Die meisten... werden es nicht bis ans Ende schaffen."
Einige reißen die Augen auf. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich damals erwartet habe oder was sie erwartet haben, aber was es auch ist, sie werden zerbrechen. Physisch wie psychisch.
„Zu viert abzählen!", befiehlt Hamza und sofort wird Folge geleistet. Es gibt insgesamt vier Mentoren bei den Membuat und so teilen sich die 40-50 Jugendlichen schnell in etwa gleichgroße Gruppen auf. Später werden sich vierer Teams bilden, aber bis dahin ist noch ein langer Weg. Jetzt sind sie nur ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der ahnungslos vor ihrem jeweiligen Mentor steht.
Und tief in meinem Inneren, irgendwo vergraben, habe ich Mitleid für sie.
„Ihr lauft jetzt fünf Runden durch die Arena und kommt anschließend wieder her!", scheucht Hamza sie weg und ich kann ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken. Sofort schießt sein Blick zu mir. „Thiemann, du rennst mit!" Wäre auch zu schön gewesen.
Widerwillig folge ich den Jugendlichen an den Rand der Arena und ziehe zusammen mit ihnen meine Bahnen. Etwas, was ich jeden Tag tue. Körperlich keine Herausforderung für mich. Dennoch fühle ich mich schlecht. Ich bin kein Schüler, schon lange nicht mehr. Trotzdem renne ich nun wie einer von ihnen über den Sand unter der prallen Sonne mit dem überwachenden Blick meines ehemaligen Mentors im Nacken. Die beißende Angst, die von den jungen Schülern ausgeht, versetzt mich zurück. Zurück an meine ersten Tage hier.
Sauer stoße ich die Luft aus, versuche die aufkeimenden Gefühle der beleidigten Leberwurst zu ignorieren.
„Bist du sitzengeblieben oder so?", spricht mich plötzlich jemand von der Seite an und irritiert geht mein Blick zu dem braunhaarigen Junge neben mir. Sein Shirt ist bereits durchgeschwitzt und sein abgehakter Atem bläst mir ins Gesicht. „Sehe ich etwa so aus?!", keife ich und renne schneller. Doch er folgt mir. „Du warst nicht mit in den Trucks oder den Schlafräumen. Der Typ da vorne hat dich mitgebracht und du bist mit Abstand der Älteste von uns."
Was für ne aufgekratzte Wäscheklammer war das denn?
Verärgert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Ich bin erst 23 und garantiert nicht sitzengeblieben." „Aber-" „Hör mal", unterbreche ich ihn und bleibe stehen. „Ich bin schon fertig mit dem ganzen Scheiß hier, ich bin nur als Hilfstrainer da und schneller wieder weg als du glaubst." Ächzend hält er sich die Seite. „Dann kannst du mir bestimmt ein paar Tipps geben." „Wozu? Wie man sich bei den Mentoren einkratzt?" „Wie man überlebt", entgegnet er.
Wehleidig neige ich den Kopf zur Seite. So ein naives Kind.
Die nächsten Trainingseinheiten würden die Spreu vom Weizen schon noch trennen und das gewaltig. Ich war kein Freund von den Trainingsmethoden, aber sie härteten ab. Im positivem wie negativem Sinne. Schaffte man es zu überleben, war man gut auf das Leben da draußen vorbereitet, auf die Einsätze, die Kämpfe und vielleicht auch auf das soziale Zusammenleben innerhalb der Organisation, denn das war eine Challenge für sich. Aber Freiheit würden sie nie wieder sehen, nur die Gefangenschaft spüren.
Ich konnte ihm nicht helfen. Selbst wenn ich wollte. Ich konnte ja nicht einmal mir selbst helfen. Da musste jeder alleine durch. Also rannte ich weiter.
„Jetzt warte doch mal!", ruft er mich zurück und versucht vergeblich mit meinem Tempo mitzuhalten. „Wie heißt du überhaupt? Ich bin Mylan und-" „Alter!", fauche ich und hebe die Hände, gebe dem Impuls erneut stehenzubleiben nicht nach, „Du wirst vermutlich nicht mal lange genug am Leben bleiben, um dir meinen Namen merken zu können, also wieso sollte ich-"
„Thiemann, du und dein kleiner Kumpel solltet besser die Beine heben, sonst sorge ich dafür!"
Diese Drohung nehme ich besser ernst. Meine Position kann mich vor ihm nicht beschützen. Zwar darf er mich offiziell nicht töten, aber wenn er Gründe findet...
Auch die Nervensäge hält endlich die Klappe. Zu meinem Glück. Nur sein lauter Atem stört mich und er läuft falsch. Die Schritte sind zu groß und seine Haltung ist grausam. Auf Dauer ungesund und kräftezerrend. Doch ich sage nichts, halte den Blick konzentriert nach vorn gerichtet und zähle unterbewusst die Runden, die man nicht zu schnell hinter sich bringen sollte. Denn das ist nur die Aufwärmung.
Völlig unvermittelt zerreißt ein Schuss die Luft. Die Kids um mich herum zucken zusammen und auch ich drehe mich überrascht um.
Etwa fünfzig Meter von uns entfernt liegt ein Mädchen am Boden. Das rote Blut hebt sich von dem hellen Sand deutlich ab und sorgt für einen kalten Frost in meinen Eingeweiden. Hamza steckt die Waffe wieder ein und tut, als wäre nichts passiert. Die anderen haben keine Ahnung, aber ich kann mir alles genau denken. Sie konnte nicht weiterlaufen oder war zu langsam und er wollte ein Exempel statuieren.
Mit Erfolg. Denn bei der nächsten Aufforderung rennen alle wie von der Tarantel gestochen weiter.
Alle außer ich. Mein Blick findet den von Mylan. Schock glänzt in seinen aufgerissenen Augen und lässt ihn noch jünger wirken. Das war ein klares Statement seitens der Mentoren. Der Tod kommt schneller als irgendeine Beförderung oder vielleicht sogar der nächste Tag. Und es stehen noch viele Monate an Manipulation und Psychoterror an.
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