2. Die blauhaarige beste Freundin
Lächelnd verabschiedete sie die Kinder und verließ das Schulgelende. Sie war nicht gerne dort, die anderen Babysitter und Mütter beäugten sie bei jedem Treffen misstrauisch. Sie war eine der wenigen Ausländer in Kamakura, die keine Touristin war und ihr Mitgestalten im alltäglichen Leben war einigen ein Dorn im Auge. Dazu kam, dass sie aufgrund ihrer Haarfarbe immer angestarrt wurde.
Diese Art der Ausgrenzung war anstrengend und Melodie vermied es länger als unbedingt notwendig in der Schule zu sein. Leider musste sie als primäre Bezugsperson häufiger bei Schulveranstaltungen mithelfen und dabei war ihr aufgefallen, dass viele der Mütter eine recht starke Meinung ihr gegenüber hatten.
Sie waren sich einig, dass Melodies westliche Werte nichts mit denen der japanischen gemein hatten und Reiji sich besser eine neue Ehefrau suchen sollte. Dies war der Grund weshalb Reiji nur ungern am akademischen Leben seiner Kinder teilnahm.
Ständig wurden ihm von den anderen Müttern Blind Dates aufgezwungen und da er höflich war und diese aufgeblasenen Schnepfen kein >Nein< akzeptierten, nahm er die Angebote schließlich immer an. Melodie hasste es ihn schick angezogen auf eines dieser Dates gehen zu sehen.
Sie fürchtete sich davor die Kinder und dieses Haus vorzeitig verlassen zu müssen. Zumindest war das der Grund, den sie sich selbst vorgaukelte. Sie wusste, dass sie keine andere Frau an Reijis Seite sehen wollte.
Ihr einziger Lichtblick im chaos der eigenen Gefühle war sein elender Gesichtsausdruck sowohl davor als auch danach. Ein Gesichtsausdruck, der ihr irgendwie immer ein Lächeln entlockte. Mit einem Blick auf ihr Handy bemerkte sie eine Nachricht ihrer besten Freundin. Immer noch dachte Melodie mit einem Lächeln an ihre erste Begegnung zurück.
Wer hätte damals ahnen können, dass sich aus dem merkwürdigsten Gespräch, dass Melodie je geführt hatte, eine so tiefe Freundschaft entwickeln würde. Sie waren sich vor Monaten beim Einkauf in Tokyo begegnet. Es war einer der wenigen Wochenenden gewesen, die Melodie frei bekommen hatte.
Ihr erstes Ziel waren die Einkaufsstraßen Tokyos gewesen. Dort war sie Su-mi Choi zum ersten Mal aufgefallen. Melodies natürliches rotes Haar war dann doch zu interessant um von der extrovertierten jungen Frau ignoriert zu werden. Nach einem langen Gespräch über Haare und Färbemittel dem Melodie mit ihren damals noch begrenzten japanischen Sprachkenntnissen nur halb folgen konnte, war Su-mi ihr nicht mehr von der Seite gewichen.
Su-mi hatte beschlossen, dass sie von diesem Tage an die besten Freunde sein würden. Melodie hatte ihr damals nicht geglaubt, doch nun acht Monate danach, war sie vollkommen überzeugt. Und dankbar. Kamakura wäre doch ziemlich einsam ohne die gebürtige Koreanerin.
Su-mi stellte sie ihren Freunden vor, half ihr mit ihrem Japanisch und sorgte nebenbei dafür das Melodie wegen ihrer seltsamen Gefühle Reiji gegenüber nicht den Verstand verlor. Sie war ein Wildfang. Ein Partymädchen mit Herz sozusagen.
Melodie liebte sie wie eine Schwester. Zudem war Su-mi Studentin und rühmte sich damit im Unterricht kaum anwesend zu sein und dennoch gute Noten zu schreiben. Und da Melodie am Vormittag wenn die Kinder in der Schule waren viel Zeit hatte, war dies die bevorzugte Zeitspanne ihrer Abenteuer. Heute würden sie ein neues kleines Cafe ausprobieren. Die Stadt war voll davon.
Es gab hier kaum große Cafe-Ketten und die wenigen, die es gab, liefen nicht besonders. Jedes Cafe hatte seinen eigenen Charme und sein eigenes Feature. Selbst nach fast einem Jahr in Kamakura und Umgebung hatte Melodie immer noch nicht alle gesehen und das obwohl Su-mi sie regelmäßig in ein neues Cafe entführte.
Sie war immer auf der Suche nach Instagram würdigen Bildern für ihre vielen Follower. Mit dem Auto fuhr Melodie die Hauptstraße zum Treffpunkt und parkte sich ein. Kein leichtes Unterfangen in Japan. Als sie austieg wurde sie von einem Schwall warmer Luft empfangen.
Die Sonne schien gleißend auf sie herunter und obwohl es September war, würde der Herbst noch lange auf sich warten lassen. Schnell packte sie ihre Sonnenbrille aus und zückte ihr Handy. GoogleMaps würde sie sicher ans Ziel bringen, denn auf die Wegbeschreibungen der Einheimischen konnte man sich nicht verlassen.
Im Gegenteil, manchmal erzählten die einen irgendetwas nur um eine Auskunft geben zu können. Und da das Straßensystem Japans sehr verwirrend war, konnte Melodie ihnen nicht einmal böse sein. Sie steckte die Autoschlüssel ein und folgte den Wegweisungen ihres Handys.
Es dauerte nicht lange bis sie vor einem kleinen ganz in Schwarz gehaltenen Cafe anhielt. Offenbar würden sie heute auf der eher gruselige Schiene fahren. Interessant. Ihre Freundin wartete bereits an der Tür. Ihre blau gefärbten Haare flossen bis zu ihrer Schulter.
Das Outfit war eine Mischung aus Märchenprinzessin und Rockerin. Melodie erkannte in ihr eine Modedesignerin, doch Su-mis Eltern wollten dass sie Anwältin wurde. Also studierte Su-mi Jura und als Nebenfach Mode. Melodie bewunderte sie für diese Leidenschaft. Sie selbst machte sich nicht viel aus Kleidung. Auch heute trug sie einen einfachen braunen Rock und ein weißes Oberteil.
"Süße!!!", schrie Su-mi auf Englisch und umarmte sie wild. Eines ihrer Faibles war es englische Worte in japanische Sätze einzubauen. Melodie musste sich manchmal sehr anstrengen den Sinn hinter ihren Aussagen zu verstehen.
"Was sagst du zu diesem schickem Laden? Ich habe ihn auf Instagram gefunden und musste ihn einfach ausprobieren. Auf ihrer Seite heißt es, dass sie nur schwarze Gerichte haben. Kannst du dir das vorstellen?", stolz zeigte sie auf das Cafe und grinste breit.
"Nur schwarzes Essen?", skeptisch zog Melodie die Augenbrauen zusammen. Das konnte ja interessant werden. Gemeinsam betraten sie das Cafe und wurden von einem ausschließlich schwarzem Dekor empfangen. Eine schwarz gekleidete Kellnerin brachte sie lächelnd an einen schwarzen Tisch und reichte ihnen die Speisekarte.
Zum Glück gab es auf jeder Speisekarte auch viele Bilder. Melodie hätte sonst nicht gewusst, was sie sich unter den einzelnen Gerichten vorstellen sollte. Unsicher bestellte sie einen Tee und einen schwarzen Muffin. Su-mi wollte experimentieren und versuchte sich an einer schwarzen Torte.
"Ich hoffe nur das färbt unsere Zähne nicht.", merkte Melodie an und brach den Muffin auseinander.
"Ach, ist doch egal. Das hier ist aufregend.", entgegnete Su-mi und schoss ein paar Fotos.
"Lächeln!", befahl sie und schnell streckte Melodie ihr die Zunge heraus. Sie mochte es auf Bildern doof auszusehen, obwohl es Su-mi durchaus schaffte sie in einigen unbedachten Momenten sehr schön einzufangen. Das waren jedoch ausnahmen und ihre Freundin wusste, das auch.
"Das stelle ich auf Instagram! Egal wie doof du aussiehst. Der Hintergrund ist einfach zu geil." Irritiert drehte Melodie sich um und sah ein mit leuchtstiften an die Wand gemaltes Monster hinter sich. Beeindruckt wandte sie sich wieder Su-mi zu.
"Wo du nur immer diese Cafe findest?", murmelte Melodie und biss in ihren Muffin. "Ich muss dir etwas erzählen!", sprudelte es aus dieser, "ich habe den perfekten Mann kennengelernt. Er hat meine Welt erschüttert und mein Herz gestohlen. Sein Name ist Hoseok. Er ist temperamentvoll, stark und so unglaublich gutaussehend. Ich denke er ist die Liebe meines Lebens." Skeptisch verzog Melodie den Mund. Solche Aussagen kamen öfter aus Su-mis Mund.
"Und seit wann kennt ihr euch?"
"Gestern Abend. Ich war auf einer Party für Jurastudenten und da stand er. Cool und selbstsicher. Wir werden wunderschöne Babys machen." Die vorbeigehende Kellnerin warf ihnen einen schockierten Blick zu. Kichernd lehnte Melodie sich zurück.
"Das hört sich ja perfekt an. Wann wirst du seine Eltern kennenlernen?" Su-mi strich sich eine Strähne hinters Ohr und seufzte schwer.
"Das wird noch dauern. Er will es langsam angehen lassen. Ich weiß, zwar nicht wieso, aber in Ordnung. Ich bin schließlich ein geduldiger Mensch."
Nein, das war sie sicherlich nicht, aber Melodie hütete sich davor etwas zu erwidern. Ihre beste Freundin war eine Romantikerin, die leider etwas zu viele K-Dramas gesehen hatte und nun alles für Schicksal hielt. Es war süß und irgendwann, da war sich Melodie sicher, würde sie jemanden finde, der auf diesen Zug aufsprang.
"Nun, ich wünsche euch zweien nur das Beste und hoffe das ich bei der Hochzeit dabei sein kann."
"Natürlich. Du wirst meine Brautjungfer. Ich habe schon das perfekte Kleid." Melodie lachte leise.
"Ich hoffe nur die Hochzeit findet statt solange ich noch in Japan bin." Das drohende Ende ihres Aufenthaltes in Japan war immer ein absoluter Stimmungskiller. Drei Monate noch und dann wäre sie gezwungen wieder zurück nach Wien zu gehen. Su-mi nickte ernst.
Die Misere eine ausländische beste Freundin zu haben, war für sie ein bipolarer Begleiter. Einerseits liebte Su-mi die Aufmerksamkeit, die Melodie als exotische Europäerin mit sich brachte, andererseits, und das wusste Melodie genau, liebte Su-mi sie.
Ihre Freundschaft war echt, egal wie surreal sie manchmal schien oder wie seltsam langweilig sich Melodie neben ihr vorkam.
"Ich werde ihn überreden. Ohne dich will ich keine Hochzeit feiern!" Ob ihr neuer Geliebter da mitmachte, bezweifelte Melodie stark, doch der Gedanke war lieb gemeint. Su-mi wechselte geschickt das Thema und sah sie erwartungsvoll an.
"Also heute fahrt ihr weg, richtig?", fragte sie und trank einen Schluck. Ihre Augen sprühten vor pochender Neugierde. Melodie legte den Kopf schief und musste an diesen Morgen denken. Er war bei weitem nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Eigentlich hatte sie eine andere Reaktion, eine andere Stimmung von Reiji erwartet. Warum musste sie ihn auch immer zu seinem Glück zwingen?
"Ach nein, er hat es vergessen, nicht wahr?", offenbar war Melodies Gesichtsausdruck genug um darauf die volle Geschichte zu lesen, "süße, das tut mir so leid. Ich weiß wie sehr du dich darauf gefreut hast. Vielleicht fahren wir einfach mit den Kindern ins Ryokan und lassen ihn alleine zurück!" Melodie hob beschwichtigend die Hände. Die Gedanken ihrer Freundin waren wohl zu schnell zum schlimmsten Szenario gesprungen.
"Nein, nein, das wird nicht notwendig sein. Er hat sich entschuldigt und wir fahren heute Nachmittag los."
"Das will ich ihm auch raten! Dieser Träumer!", ereiferte sich Su-mi und nahm einen biss von ihrer Torte.
"Also gibt es kein Problem, außer...ich wünschte nur.." "dass er sich zumindest an seine eigenen Ideen erinnern würde? Wie oft muss ich dir das noch sagen, dieser Mann wird nie der Traumprinz sein, den du in ihm siehst. Mein Bruder dagegen.."
Melodie verdrehte genervt die Augen. Seit Monaten versuchte Su-mi sie mit ihrem Bruder Min-ho zu verkuppeln, doch Melodie brachte es nicht über sich. Sie war bereits auf einige Dates in Japan gegangen, aber seit gut vier Monaten hing ihr Herz zu sehr an Reiji. Sie wollte ihn nicht verletzten, obwohl er seinem Verhalten nach gar nicht verletzt wäre. Vermutlich würde er ihre Romanzen so wie alles andere an ihr ignorieren.
"Ich will ja nur das Beste für dich, Elodie. Ich glaube der alleinehrziehende Vater, der viel zu viel arbeitet ist nicht die beste Wahl." Das wusste sie selbst, aber eine vernünftige Diskussion mit dem Herzen hatte noch niemand gewonnen. Wenn sie ihre Gefühle nur abschalten...oder in eine andere Bahn lenken könnte.
"Ich weiß und möglicherweise hast du recht.", gab sie kleinlaut zu. Vielleicht wäre Min-ho genau der Richtige um sie von Reiji abzulenken. Ein laut Su-mi freundlicher junger Mann, der fleißig an seinem Studium bastelte. In Su-mis Erzählungen wirkte er wie Superman und Batman zusammen. Irgendwie bewunderte sie die gute Beziehung der beiden. Freudig in die Hände klatschend lächelte Su-mi sie an.
"Ich werde ihm gleich schreiben. Wie wäre es nächste Woche oder so? Ich frag ihn mal wann er Zeit hat, deinen Dienstplan kenne ich ja. Ich organisiere das für euch." Su-mi hatte Herzchen in den Augen und rosarote Wangen. Melodie war sich zwar bei der ganzen Sache nicht sicher, aber zumindest machte sie damit Su-mi glücklich.
"Etwas anderes. Hast du die Nachrichten über diese alte Zivilisation gesehen, die sie vor zwei Wochen entdeckt haben? Dein Reiji soll der leitende Archäologe sein." Überrascht zog Melodie die Augenbrauen zusammen. Diese Neuigkeit war nicht zu ihr durchgedrungen. Möglicherweise war dies der Grund weshalb Reiji in letzter Zeit noch mehr arbeitete.
"Eine neue Zivilisation?" Su-mi nickte.
"Sie sollen bei einer Tunnelarbeit im Westen Kamakuras Bauten entdeckt haben. Näheres ist nicht bekannt. Im Internet schwirren die verrücktesten Theorien durcheinander. Niemand ist sich sicher und das seltsamste ist das Schweigen der Regierung." Melodie hielt das zwar nicht für seltsam, da die japanische Regierung gerne mal die Wahrheit verschleierte, aber so ganz war ihr dieses Geheimnis auch nicht geheuer.
"Ich könnte Reiji mal fragen. Für gewöhnlich hat er keine Probleme damit mich über seine langweiligen Ausgrabungen zu belehren." Der Mann konnte reden wie ein Wasserfall wenn es um Geschichte und Altertum ging. Su-mi schien diese Idee zu gefallen. Neugierig beugte sie sich vor.
"Ich bin gespannt was er sagt. Ich habe schon eine Menge gruselige Sachen zu dem Thema gehört."
"Ach komm schon. Das ist doch nur Blödsinn.", winkte Melodie ab. Der Rest ihres Gesprächs beschränkte sich auf Mode, Männer und neue feministische Impulse.
Als es Mittag wurde, verließen sie das Cafe. Zufrieden verabschiedete sich Melodie von ihrer Freundin und ging zurück zu ihrem Wagen. Sie hatte noch so einiges zu erledigen.
Wütend saß er an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Das Handy in der Hand zeigte ihm das Bild seines letzten Anrufers. Ein Kollege, dessen Penetranz seine schier unendliche Geduld auf die Probe stellte. Reiji wusste nicht wohin mit seinem Groll. Plötzlich leuchtete auf seinem Display ein anderes Fenster auf. Melodies hatte ihm eine Nachricht geschrieben. Sie zeigte einen Screenshot eines bestandenen Tests. Beinahe volle Punktezahl. Lächelnd musste er an das Gesicht seines Sohnes denken, sicherlich würde er diese Leistung vor ihm herunterspielen, doch Melodie voller Stolz alles berichten. Er wünschte sich, dass es anders wäre.
Es war nie sein Ziel gewesen, solch ein angespanntes, kühles Verhältnis zu seinen Kindern zu schaffen. Im Gegenteil. Bis zum Tod seiner Frau war alles anders gewesen. Sein Handy klingelte erneut und zeigte eine weitere Nachricht von Melodie.
"Du hast einen genialen Sohn. Lob ihn heute auf jeden Fall!" Kopfschüttelnd legte er das Handy weg, doch sein Blick blieb auch ihrem Profilbild hängen. Er konnte ihren Tonfall beinahe hören. Er antwortete nur äußerst selten auf ihre Nachrichten, aber das schien sie nicht zu kümmern. Viele Male am Tag berichtete sie von Erfolgen der Kinder oder von ihrem Tag.
Eigentlich müsste er sie bitten, damit aufzuhören, das Verhältnis zwischen ihnen war sowieso schon unprofessionell, dennoch brachte er es nicht über sich. Dafür freute er sich viel zu sehr, nicht vergessen zu werden.
Anmerkung der Autorin: Gott ich liebe Onsen. Wer von euch war schon mal in einem? Ich war danach immer so entspannt und erfrischt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro