Nordland
Der Wind pfiff um die Ecken der Hütte, zerrte an den Wänden, wie er es fast immer tat. Die dicken weiße Flocken wirbelten durch die Luft, schier unbeeindruckt von den Gesetzen der Schwerkraft nach oben und gegen das Fenster, so dass sich eine hohe Schicht Schnee sich auf dem schmalen Sims ablagerte und die, sowieso schon von verzaubert wirkenden Eisblumen überzogenen, Scheiben dekorierten.
Seit einem Monat lag die Welt unter ihrer weißen Decke, doch es war seit einigen Tagen kein Neuschnee gefallen. Diese Pause schien uns das Wetter nun doppelt zurück zu geben, denn seit gestern Abend tobte ein Schneesturm. Unbarmherziger Wind von Nordosten fegte den feinen Schnee zu höhen Dünen auf, in denen die kleine Hütte hätte versinken können, ein Glück stand sie auf Stelzen, denn sonst wäre man wohl kaum aus der Tür gekommen. Hier drinnen war es wunderbar warm, denn die ganzen Nacht über hatte ein Feuer im steinernen Kamin geknistert.
Ich war früh morgens aufgewacht, doch Irmi war schon fort. Vermutlich war das auch besser für sie, denn mit jeder Stunde wurde der Schnee höher und käme sie nicht pünktlich zum Rastplatz der Schlittenführer, wäre ihre Mitfahrgelegenheit dahin. Wir waren noch vor Einbruch der Schneetage hier her gekommen um den großen See zu beobachten, die letzten Kräuter vor dem eisigen Winter zu sammeln und zu sehen wie sehr das Eis den Fluss in diesem Jahr einnehmen würde. Es wurde mit jedem Jahr kälter und wir beobachteten wie das Eis stärker und stärker wurde. Vor einigen Jahren, als ich noch ein Kind gewesen war und es eines meiner ersten Jahre mit Irmi hier draußen war, da hatte sie gesagt irgendwann könnten wir mit den Kufenschuhen bis hinaus in den Fjord laufen. Dieses Jahr war es so weit gewesen. Der Frost würde in einigen Jahren die stätige Wasserversorgung des Dorfes abschneiden, irgendwann würde es so kalt werden, dass selbst das raue Meer von Eisschollen durchzogen wäre und irgendwann, irgendwann wenn es so kalt wäre, dass kein Mensch mehr draußen überleben könnte, würde selbst der Ozean völlig erstarren.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Diese Jahre waren noch fern, noch war alles gut. Trotzdem wurde es zu kalt um hier zu bleiben, wir mussten ins Dorf zurückkehren, zurück zu den Anderen. Irmi war alt, wenn auch nicht gebrechlich, sie hielt die Wanderung die uns vor dem großen Schnee hier her brachte durch, doch mit den eisigen Temperaturen wäre der weite Weg zu viel für sie. Daher traf sie, kurz nach Sonnenaufgang, den man heute nur schwer sehen konnte, am Glasfelsen den Erkundungstrupp der Schlittenführer. Sie würden sie auf dem Weg zu hause absetzten, doch sie stammten aus einem anderen Dorf, also hatte die Fahrt ihren Preis. Sie hatte mich überreden wollen, dieses Jahr die Wanderung durch den Sturm zu umgehen und mit ihr zu kommen, doch das Geld für einen zweiten Platz auf dem Schlitten konnten wir uns sparen, das Dorf konnte es gut gebrauchen.
Ich stopfte die letzten Sachen, die nicht hier zurück bleiben sollten in den geflochtenen Korb. Vor dem Kamin hing mein Schal und das Schultertuch, die gestern beim Holzholen vom Schnee durchnässt wurden. Der Wind hatte so sehr daran gerissen, dass das Tuch mir weg geweht war und ich es kaum geschafft hatte es aus der Schneewehe hinter dem Schuppen zu retten. Doch nun war es von der trockenen Luft des Feuers schön warm, als ich es mir umlegte.
Über das Tuch kam ein Überwurf aus wolligem Fell und darüber der dicke Mantel. Ich zog mit die Stulpen über die Waden und schlüpfte dann in die gefütterten Lederstiefel, sie waren hoch und sorgfältig mit Wachs eingerieben, so dass auch durch die Nähte kein Wasser hinein laufen würde. Bevor ich meine Handschuhe überzog, löschte ich das Feuer im Kamin mit einem Eimer voll Tauwasser. Nun war es dunkel in der Hütte, nur wenig bläuliches Licht viel durch die vereisten Fenster und der Raum lag still da, so unangetastet, wie er auch sein würde, wenn wir am Ende des Jahres, wenn der kurze Sommer gestorben war, zurück kehren würden. Ich zog die warmen Fäustlinge über, hängte mit den Korb über den Arm und stieß die Tür auf.
Dort draußen empfing mich eisige Kälte, Wind peitschte sofort ins Haus und trug feine Flocken mit sich hinein. Ich atmete tief ein und versteckte die Nase in meinem großen Schal. Bevor ich die glatten Stufen, auf denen sich Irmis Spuren nur noch erahnen ließen, hinab stieg, zog ich mit die Kapuze des Mantels über die Mütze. Sie würde verhindern, dass der kalte Wind mir den Schnee in die Nacken beließ und meine Ohren warm halten. Dann machte ich mich, einen Hand stets am Geländer der Treppe auf dem Weg zum Schuppen, wo mein Schlitten wartete.
Es war schon eine ganze Zeit vergangen und immer noch kämpfte ich mich durch den Schneesturm. Der Wind hatte gedreht und blies mir nun eisig ins Gesicht, so dass ich mit die Hand vor die Augen halten musste, um überhaupt sehen zu können. Die Flocken die auf meinem Schal liegen geblieben waren, bildeten mittlerweile fast eine Eisschicht. Sicherlich wäre meine Nase genau so erfroren wie auch meine Wangen, würde ich sie nicht immer noch unter dem Schal verstecken und so mit meinem Atmen wärmen. Mit jedem Blinzeln verhakten sich kleine Eiskristalle aus meinen Wimpern und bildete kurz blinde Flecke vor meinen Augen.
Meine Füße waren zwar warm eingepackt in warme Socken und dickes Futter der Stiefel, trotzdem waren sie vor Kälte ganz Taub, genau wie meine Finger, mit denen ich den Schlitten hinter mir her zog. Die andere Hand hatte ich anfangs auf Brusthöhe unter die Jacke geschoben um sie etwas warm zu halten, doch nun waren ihre Finger eben so taub, da ich sie schützend vor mein Gesicht hielt.
Es konnte nicht mehr weit sein, doch mein Durchhaltevermögen schwand immer mehr. Ich war immer noch auf dem richtigen Weg, jede der Gruppen an riesigen Tannen, die in der Schneewüste Aufragten hatte ich passiert und als nächstes müsste ich den ersten Ausläufer des Waldes kreuzen. Die Laubwälder lagen weiter im Süden des Landes, wo der Winter nicht ganz so unbarmherzig war und es brauchte fast einen Tagesmarsch um sie vom Dorf aus zu erreichen.
Ich kämpfte mich weiter durch den Schnee, mit jedem Schritt sank ich ein, was es doppelt so schwer machte. Der Schnee war so trocken und pulverig, dass es schon unter dem kleinsten Gewicht nachgab. Die ersten Bäume des Waldausläufers, sah ich erst, als sie schon direkt vor mir aufragten. Hier, im Windschatten war es fast warm und es kamen sehr viel weniger weiße Flocken auf dem Boden an. Ich wollte mich einfach in den Schneefallen lassen, etwas ausruhen nur und mich der Erschöpfung hingeben, doch ich wusste, dass ich das auf keinen Fall tun dürfte. Der Schnee war gemütlicher als man es sich vorstellen konnte und wenn man einmal lag, würde man es kaum schaffen wieder auf zustehen, bevor einem die Augen zu vielen und man somit sich sicher in die Arme des Todes bettete, den die eisigen Temperaturen nur allzu schnell bringen würden.
Als ich so hier stand, begannen meine Knie zu zittern, ebenso wie meine Schultern und mein Kiefer. Schnell unterdrückte ich das Klappern meiner Zähne und Zwang meinen Körper sich zu entspannen. Das Zittern ließ augenblicklich nach, doch es verlangte einiges meiner Konzentration, nicht wieder darauf zurück zu fallen. So schwer es mir auch fiel ich konnte nicht noch weiter hier bleiben, ich musste zurück ins Dorf. In die warme Teestube meiner Mutter, wo ich vor dem Kamin sitzen und ihr von den Erlebnissen mit Irmi erzählen konnte.
Als ich hinter den schützenden Bäume hervor trat, fegte mir der Wind entgegen, doch er hatte etwas gedreht und kam nun mehr von der Seite außerdem hatte er ein Wenig nachgelassen. Mit neuem Mut beschleunigte ich meine Schritte etwas, ich musste mich jetzt nur noch ein kleines Stück beeilen, dann wäre ich schon bald am Ziel. Mit starr nach vorne gerichtetem Blick stapfte ich entschlossen durch die weiße Landschaft, als mir etwas auffiel. Dort lag etwas, von hier aus hätte es ein Felsbrocken sein können, doch ich wusste genau, dass es hier keine Felsen gab, deren Spitzen, vom befreit, aus dem Schnee hätten schauen können.
Ich konnte es meinen Beine nicht abverlangen, noch schneller zu laufen, doch ich hielt gerade auf das dunkle Gebilde, dass unter einen Schicht aus weißen Flocken gerade noch zu erkennen war zu. Als ich nur noch einige Schritte entfernt stand, blieb ich wie angewurzelt stehen. Das war ein Mensch. Wer war er? Wer war so dumm sich bei diesem Sturm in die Schneewüste zu begeben, ohne sich sicher zu sein ihr standhalten zu können? Oder war er verletzt worden? Wenn ja, wo von? Vielleicht war es ein Tier gewesen, doch was viel wahrscheinlicher war, war dass es ein Mensch gewesen war und das machte mir Angst.
Lebte er denn überhaupt noch? Ich konnte mir nicht einmal sicher sein, ob ich wollte, dass er noch lebte. Nicht alle Völker die hier draußen lebten waren friedlich gesinnt. Seitdem der Winter immer härter geworden war und wir alle wussten, dass irgendwann nicht nur unseres, sondern auch alle anderen Länder unter einer dicken Schicht aus Eis liegen würden, waren die Bande der Freundschaft haltlos gerissen.
"Hey!", schrie ich gegen den Wind an. Keine Bewegung und ebenso wenig eine Antwort. Langsam näherte ich mich der Person und auch als ich mich über sie beugte, zeigte sie keine Regung. "Hallo?" Sekunden in denen uns nur das Schneegestöber umgab verstrichen und nichts geschah. Schließlich drehte ich den Körper auf den Rücken und strich der Person, die der Statur nach zu urteilen ein junger Mann war, den schwarzen Stoff der Kapuze aus dem Gesicht. Er war kaum erwachsen, nicht viel Älter als ich, die schmalen Gesichtszüge waren blass und die Lippen blau vor Kälte.
Immer noch zögerlich zog ich einen Handschuh aus und bemerkte dunkelbraune Haarspitzen als ich, unter dem Schal, nach seinen Puls suchte. Er ging langsam, doch er war da und wenn ich genau hin sah, erkannte ich seinen flachen Atmen der in der eisigen Luft sofort gefror. Ich musterte ihn, fuhr mit den Fingern leicht über den Stoff seiner Kleidung und fand tatsächlich was ich gesucht hatte. Es war eine Stelle am Bein, der Stoff war aufgerissen und vereistes Blut hing in den Fäden. Er war tatsächlich verletzt.
Was sollte ich tun? Ich könnte ihn niemals hier liegen lassen und gehen ohne je wieder ein Wort über ihn zu sprechen, doch zum Dorf zu laufen und Hilfe zu holen wäre genau so ein Todesurteil. Er würde nicht mehr lange durchhalten, denn vermutlich hatte der Tod seine Finger schon ausgestreckt und wartete in seinem Gewand aus Schnee und Eis nur noch darauf sie um ihn zu schließen. Mir war bewusst, dass es nur eine Möglichkeit gab, für dich ich mich entscheiden konnte und dennoch war es schwer sich zu überwinden.
Ich schickte eine stumme Bitte an die Lichterfrau, das er kein Unheil über uns bringen würde, dann hievte ich ihn auf meinen Schlitten. Die Kufen versanken im Schnee und den Korb musste ich auf den Rücken nehmen, doch meine Entscheidung war gefallen und so begann ich wieder einen Fuß vor den anderen zu setzten, mich nach Hause zu kämpfen, nicht nur für mich, sondern auch für den Jungen auf meinem Schlitten.
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