In ihrer Blase, deren Welt
Bedächtig wischte die Blonde an deren Kinn entlang. Ein überraschter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als sie die Blutspuren auf deren Handballen bemerkte, fast, als sei sie sich deren blutenden Nase nicht bewusst gewesen. Dey blickte auf und den drei Jungen, die demm in ihrer kleinen Ecke eingekesselt hatten, entgegen. „Nanu? Jetzt bist du aber nicht mehr so vorlaut, wie?" Sie reagierte nicht. „Hältst dich wohl immer noch für was Besseres? Pah." Ein weiterer Schlag, diesmal auf deren bereits verletzte Wange. Keine Reaktion. Nur ein blankes Starren, emotionslos, leer. Kalt. Gelächter. Hohn. Spott. Sie lachten demm aus, wie sie da saß, namenlose Personen, Individuen in einer Gruppe aus Gleichartigen. Ihr Lachen perlte an denen ab, klang hohl für ihre Ohren, ein Produkt der Anpassung an die Stärksten, ein Untergehen und Verschmelzen, bis niemand mehr zählte außer den zu Kopierenden, den Vorbildern.
Noch immer lachend und spottend ließen sie demm zurück. Ließen sie zurück, wie dey ganz allein in einer Blase saß. Oder waren es sie in der Blase? Waren es sie, die die Realität in ihrer Verblendung nicht sahen oder war es dey, die nicht erkannte, dass nur die Stärksten sich durchsetzen? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie sich in ihrer Realität nicht anschließen konnte. Ob es Sturheit, Ehrgefühl oder ein fehlgeleiteter Sinn für Selbstschutz war, wer könnte das schon beurteilen?
Gedankenverloren säuberte dey deren Gesicht mit einem Taschentuch, sammelte ihre Sachen ein, die über den Boden verteilt worden waren, und begab sich mit sorgfältigen, kalkulierten Schritten zum nächsten Bad. Im Spiegel sah dey jemanden mit Narben. Dey konnte nicht umhin sich zu fragen, ob dey die Abnormale war oder sie, ob überhaupt jemand jemals normal sein konnte oder ob jeder auf seine eigene Art normal war. In deren Blase war dey normal, das wusste sie.
Auf dem Weg nach Hause zählte sie die Bäume auf deren Seite der Allee. Auf dem Abschnitt von der Schule bis zur ersten Kreuzung waren es sechsunddreißig. Am Tag davor waren es auch sechsunddreißig gewesen, meinte sie sich zu erinnern, doch ganz sicher war dey nicht. Nach einigen Minuten bog dey in deren Straße ab. Haus Nummer Achtundvierzig, Haus Nummer Fünfzig, Haus Nummer Zweiundfünfzig, Haus Nummer Vierundfünfzig, ihr Heim. Sie schloss die Tür auf, ging hinein. Zog deren Schuhe aus. Machte die Tür wieder richtig zu. Hängte die Jacke auf. Dachte über den Tag nach, über die Jungen, über deren und ihre Blase.
Am nächsten Tag war Samstag. Sie schlief lange. Deren Träume handelten von einer Welt aus Schwarz und Weiß und Grau. Tränen hatten ihr Kopfkissen genässt, als dey aufwachte, doch dey konnte sich nicht erinnern, warum. Auf dem Schreibtisch lagen die gemachten Hausaufgaben, sie mussten noch eingepackt werden. Sie stand nicht auf. Starrte an die Decke mit ihren Mustern aus wirren Farbschlieren, Rot und Gelb und Blau. Zum Abendessen machte dey sich eine Dosensuppe warm. Dey aß alleine, in einem leeren Haus. Ihre Eltern waren in Kurdistan. Archäologen, alle beide.
Deren Träume waren voller geometrischer Figuren, Kurven und Ecken und scharfe Kanten. Ein Universum lauter Körper aus Fantasie und Nichts. Unbeschreibliche, nichtexistente Farben. Eine Leere. Und mittendrin sie, unendlich klein in ihrer vertrauten Blase, in, doch nicht Teil einer fremden, unbegreiflichen Umgebung, deren Realität dey nicht verstehen konnte.
Montage waren am schlimmsten. „Seht ihn euch an. Der Kleine rennt gleich zu seiner Mami, weil die großen Jungs so gemein sind." „Was für ein Schwächling." „Jeden Moment fängt er zu heulen an, wetten?" Sie weinte nicht. Mit bedächtigen Bewegungen rappelte dey sich trotz des merkwürdigen Winkels, in dem ihr rechter Arm von deren Schulter hing, auf und bahnte sich ohne Worte einen Weg durch die gaffende Menge. Schüler wichen links und rechts vor denen zurück, als hätte sie die Pest, nur Teile einer Gruppe ohne Individualität. Gleichgeschaltet.
Es waren immer noch sechsunddreißig Bäume. Es war immer noch die grünliche Patinaschicht über der Kupfer-Vierundfünfzig. Es war immer noch das selbe abstrakte Gemälde im Esszimmer.
Deren Stimme klang kratzig, also schwieg sie, als sie ein Wohnzimmer aufräumte, das kaum jemals jemand benutzte. Viel lag nicht herum, ein paar Bücher, eine Handvoll Verpackungen. Eine Sache von Minuten.
„Ooh, schaut doch nur. Er hat schon aufgegeben." „Ey, Kleiner, warum bringst du dich einfach um? Erspart uns die Arbeit." Gelächter. So, so furchtbar viel Gelächter, das ihre Gedanken übertönte, bis dey ihren Sinnen nicht mehr trauen konnte. Die Realität bog und verformte sich unter dem Druck, ließ demm zurück in einer Nische des Universums. Tanzende Punkte in allen Farben vor dem Dunkel deren geschlossenen Augenlider, eine Bühne für ein uraltes Stück, das sie nicht verstand, mit deren Herzschlag als Musik und deren Emotionen als Protagonisten. Masken, die verbargen und veränderten.
Dey lauschte. Lauschte dem stotternden Rhythmus des Muskels in ihrer Brust, lauschte dem Pulsieren deren zahlreichen Blessuren, lauschte dem Gelächter, das anschwoll, bis es in einer gigantischen Flutwelle eruptierte und über sie hinwegspülte, demm fortriss von dem sicheren Fels deren Verstandes und hinausspülte in unbekannte Weiten, in denen sie den Wellen nicht trauen konnte und die Strömungen unbekannt waren. Lauschte dem Schrei, der in der Luft hing, und wunderte sich, ob sie es war, die da so schrie. Die Zeit verstrich ungemessen, sprunghaft, nichtlinear, ein Widerspruch in sich und zugleich erschreckend wahrhaftig. Erschreckend endgültig. Als schreie jede Zeiteinheit lautlos, das sie unwiederbringlich verloren sei. Lauschte dem Takt der Zeit, lauschte der Musik des Universums, ein bitteres Nachhallen, ein unbefriedigendes Ritardando.
Für einen Moment wunderte dey sich, ob dey tot war. Es wäre ein enttäuschendes Ende gewesen, wahrlich, aber wohl ein passendes. Doch das stetige Schlagen ihres Herzen widersprach dieser Hypothese recht eindeutig.
Blinzelnd öffnete sie ihre Augen, nur, um sich vor einer Menge wiederzufinden. Dey konnte keine Gesichter ausmachen. Leises Tuscheln störte deren Konzentration, brachte sie durcheinander, hinderte demm daran, einen klaren Gedanken zu fassen.
Taumelnd stand sie auf. Ging auf unsicheren Füßen ein paar Schritte, nur um sich auf dem Boden wiederzufinden. Einzelne Stimmen durchbrachen den Nebel, der sich über deren Kopf gelegt hatte, unentzifferbare Wortfetzen. Ihr Herzschlag war unangenehm laut, dröhnte in ihren Ohren, übertönte fast das Rauschen deren Blutes. Weg, sie musste weg, weg von all dem. Weg von der erdrückenden Masse von Menschen, weg von den Wänden, die immer näherkamen, weg von dem Geschrei und Geschwätz.
Ohne Ziel rannte dey, blind für deren Umgebung. Sah nicht die Bäume, die zu undeutlichen Schlieren am Rand ihres Sichtfeldes verschwammen, sah nicht die Häuser, an denen sie in deren Wahn vorbeilief, sah nicht die Straßen, die ihren Pfad kreuzten. Ein Ton hing in der Luft, ein unangenehmes Fiepen und sie entfernte sich immer weiter von dem Ort, den dey für die Quelle dieses Geräusches hielt. Weg, einfach immer weiter geradeaus, so gut es ging. Sie fluchte innerlich, als dey in eine Sackgasse geriet, gezwungen, sich dem unerträglichen Laut wieder zu nähern.
Endlich geriet dey wieder zu sich. Verlangsamte. Kehrte mit kleinen Schritten zur Schule zurück, beinah lautlos auf dem heißen Asphalt. Der Himmel leuchtete in hellen Tönen, Rosa und Gelb. Die Sonne war schon nicht mehr zu sehen und dey wunderte sich, wie lange dey gelaufen war.
Die Schule war bereits verlassen, deren ehemals auf dem Boden verstreuten Sachen achtlos in einer Ecke auf einem Haufen zusammengesammelt. Vorsichtig hob sie alles auf. Packte die Hefte und Bücher wieder in ihre Schultasche. Hob die Stifte auf und stellte fest, dass deren Kugelschreiber zerbrochen war. Band sich die Jacke um. Setzte den Rucksack auf. Hob Schlüssel und Portemonnaie auf. Das wenige Geld darin war fort.
Sie machte sich auf den Heimweg. Vorbei an den sechsunddreißig Bäumen, vorbei an den Häusern mit gepflegten Vorgärten und sauberen Fassaden. Hinein in ein kaltes Haus. Ein leeres Haus.
Blinzelnd betrachtete dey den Schnitt an ihrem Unterarm. „Ups, da muss mir wohl die Hand ausgerutscht sein." Jemand kicherte, mehr als einer, zwei, drei, vier, so viele, das ihr der Kopf davon schwirrte. „Erbärmlich. Wir haben doch gerade erst angefangen und schon hast du aufgegeben, wie?" „Kein Wunder, dass deine Eltern nie zu Hause sind. Wer wollte schon mit jemandem wie dir etwas zu tun haben?" Mit leeren Augen sah sie auf, sah die Monster an, die sich Menschen nannten. Sie alle, waren sie wirklich so verblendet, dass sie nicht erkannten, wie falsch das war, was sie taten? Oder war es das nicht? War es das nur in deren Welt, deren Blase, derem abgeschotteten, verdrehten Denken?
Ihr Spott drang schon lange nicht mehr zu denen durch. Sie bewegten sich, gestikulierten, sprachen, doch all das nahm sie kaum wahr, gefangen in deren Kopf, ein ohnmächtiger, hilfloser Betrachter deren Handelns. Ihre Gliedmaßen bewegten sich ohne ihr Zutun, bemerkte dey, richteten sie auf, bewegten demm in Richtung des Ausgangs, in Richtung der hellen Sonne. Jemand schlug sie, dey sah die Bewegung im Augenwinkel, doch spürte den Schmerz nicht, spürte nichts, als dey am Arm getroffen wurde.
Sie wurde nicht schneller. Behielt deren Tempo bei, als sie all ihre Instinkte anschrien zu rennen. Ging mit langen, festen Schritten fort von dem Schulgebäude, vorbei an den sechsunddreißig Bäumen, vorbei an den hübschen, anderen Häusern mit fremden Bewohnern, Leuten, die dey nach all den Jahren immer noch nicht kannte. Achtundvierzig, Fünfzig, Zweiundfünfzig. Vorbei an seinem Haus. Sechsundfünfzig, Achtundfünfzig, Sechzig. Blickte nicht zurück, blickte nicht zurück zu den Bäumen, zu der Schule, zu der Straße, zu den Häusern. Wie verführerisch es war, einfach nie zurückzublicken, einfach immer weiter geradeaus oder vielleicht auch nicht. Vielleicht mal ein bisschen nach rechts abschwenken und mal ein bisschen nach links, Hauptsache grob Richtung Horizont.
Als die Sonne unterging, fand sie sich zu Hause wieder. Sachen im Flur. Jacke fein säuberlich aufgehängt. Schuhe nebeneinander. Eine aufgewärmte Suppe auf dem Tisch. Der Dampf fing sich im Schirm der Lampe, die über dem Esstisch hing. Das Quietschen des Stuhles zu laut in dem leeren Zimmer, hallte wieder von den weißen Wänden, der Vase voll vertrockneter Blumen, den Bilderrahmen mit Fotos einer Familie. Das Lächeln der Person auf den Bildern über die Jahre immer gezwungener. Schweigend betrachtete dey sich. Fühlte nichts. Erkannte die Leute auf den Bildern und doch nicht. Erkannte ihre verzerrte Spiegelung im billigen Glas nicht.
Im Badezimmerspiegel sah sie eine Fremde. Blass, die Haare lang, zu wenig Farbe im Gesicht und zu leeren Augen. Die strohblonden Strähnen hingen demm ins Gesicht.
Sie duschte zum ersten Mal seit zu langer Zeit. Das heiße Wasser traf in langen Strömen auf deren Haut.
„Und du willst respektiert werden, so ein Schwächling wie du?" „Es könnte lustig sein, wenn es nicht so traurig wäre." „Hab gehört, du hättest geweint, nachdem dich deine Eltern verlassen haben. Was würde man bei dir auch anderes erwarten?" „So ein Opfer." „Du bist zu schwach." „Du bist nutzlos." „Du bist zu schlecht." „Niemand liebt dich, sieh's ein." „Mach dich nicht noch weiter lächerlich." „Du traust dich ja eh nicht aufzumucken." „Du hast dich doch schon damit abgefunden, wie machtlos du bist." „Was kannst du schon?" „Warum probierst du es überhaupt noch?" „Warum gibst du nicht einfach auf?" „Jetzt tust du stark und unangreifbar, aber am Ende rennst du eh heulend weg. Genau wie gestern." „Pathetisch." „Lächerlich." „Traurig." „Opfer." „Schwächling." „Heulsuse." „Feigling." „Lächerlich." „Machtlos." „Opfer." „Pathetisch." „Feigling." „Traurig." „Opfer." „Opfer." „Opfer."
Irgendwann einmal musste die Blase platzen. Und als sie es tat, erschütterte ein Nachhallen deren Welt. Sie wusste nicht mehr, ob es nur ihre Welt war. Ob es nur dey war, die merkte, dass die Fäden rissen und Grenzen verschwammen.
Mühsam riss dey sich zusammen, bis sie zu Hause war. Hängte noch deren Jacke ordentlich auf und stellte ihre Tasche ab. Taumelte ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Erst dann, mit verstauten Sachen und hinter zugezogenen Vorhängen, erlaubte sie den Tränen zu fließen.
Dey weinte für eine lange Zeit. Weinte, bis ihre Kehle schmerzte. Weinte, bis deren Tränen versiegten und sie nur noch leise schluchzte. Weinte, bis die Stimmen verstummten und die pochenden Schmerzen überall zu einem dumpfen Summen verblassten. Erschöpft lag dey auf dem cremefarbenen Sofa, die monotone Farbgebung nur durch zwei weinrote Kissen durchbrochen.
An einem Donnerstag im Juni, in einem Reihenhaus mit der Nummer Vierundfünfzig und undurchsichtigen Vorhängen, gab jemand auf.
An einem Freitag im Juni kam jemand nicht zur Schule.
An einem Samstag im Juni blieb eine einzige Haustür in einer sonnigen Straße verschlossenen.
An einem Sonntag im Juni öffnete sich diese Tür und heraus trat ein Blondschopf mit verstrubbelten Haaren und Kopfhörern. An einem Sonntagabend fand man demm im Park. Sie sah nicht auf, wenn Leute vorbeigingen, aber sie lächelte bitter, als eine Böe das Kinderlachen vom Spielplatz am anderen Ende des kleinen Parks zu demm trug. Als Kinder aus deren Schule tratschend an ihr vorbeischlenderten, erkannten sie demm nicht, oder vielleicht gaben sie auch nur vor, sie nicht zu erkennen, um sich nicht an einem sonnigen Wochenende die Stimmung von ihrem Gewissen verderben lassen zu müssen. Auf deren Handy lief eine Playlist aus Liedern, die dey vor langer Zeit einmal zusammengestellt hatte.
An einem Montagmorgen im Juni traf dey eine Entscheidung und wählte eine Nummer, die sie schon länger nicht mehr eingetippt hatte. Nervös wartete dey, mit deren Handy am Ohr. Einmal klingeln, zweimal, dann hob jemand ab. Eine Frauenstimme ertönte, durch das Rauschen der Übertragung leicht verzerrt, aber doch noch gut verständlich: „Mäuschen?" Dey räusperte sich leise, schluckte einmal. Antwortete schließlich. „Mama, ich will nicht mehr auf diese Schule gehen."
Irgendwo in einem Reihenhaus in einer kleinen Stadt spielt sich ein Drama ab. Die Nachbarn wissen davon nichts.
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