Ein Abschied || Silvesterspecial 2019
Er schlendert hinunter zum Flussufer, zu der kleinen Brücke, auf der sie sich früher immer getroffen haben. Das Wasser unter ihr scheint im schwachen Licht des Mondes fast schwarz, der Abglanz der Straßenlaterne durch die sanften Wellen gebrochen.
Wie einfach es jetzt wäre, denkt er sich, ein kleiner rebellischer Teil von ihm, der sich schon immer ein wenig zu sehr zum Wasser hingezogen gefühlt hat. Es würde wie ein Unfall aussehen.
In der Ferne leuchten die ersten Feuerwerke auf. Als das Geräusch durch die engen Häuserschluchten zu ihm hinunter hallt, schrickt er aus seinen Gedanken auf, blickt sich um, als müsste er sich erst wieder daran erinnern, wo er sich befindet.
Er zieht einen Briefumschlag aus der Tasche, betrachtet für einen Moment den mit Tinte geschriebenen Namen, bis zur Unkenntlichkeit durch den leichten Nieselregen etwas früher verlaufen. Dann lässt er ihn über die Brüstung der Brücke fallen. Er sieht dem Papier mit etwas wie Wehmut in seinem Blick hinterher, sieht, wie es durch den Wind hin und hergerissen wird, für einen Moment am Uferrand liegen bleibt, nur um schließlich doch in den Fluten zu verschwinden.
Die kühle Brise lässt ihn frösteln und er zieht den Mantel enger um sich. Obwohl der Dezember ungewöhnlich mild gewesen ist, sind die Nächte doch unangenehm kühl und für einen Moment bereut er es, nicht noch einmal zurückgegangen zu sein, um seine Handschuhe zu holen.
Ein letztes Mal blickt er auf den Fluss. Von dem Umschlag ist keine Spur mehr zu sehen.
Mit einem Seufzen wendet er sich ab und geht. Auf dem feuchten Pflaster spiegelt sich das Licht der Straßenlaterne.
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Sie blickt aus dem Fenster und wundert sich, denkt er wohl gerade an mich? Erinnert er sich noch?
Silvester war immer ihre Nacht gewesen.
Unten auf der Straße sieht sie die beiden Kinder ihrer neuen Nachbarin auf die Straße laufen, dick eingepackt in warme Jacken, Mützen, Handschuhe und Schals. In dem frischgefallenen Schnee, der in ihrer kleinen Nebenstraße noch immer fast unberührt scheint, sind ihre Fußspuren für einige Momente gut zu sehen, bis die nächsten dicken Flocken sie wieder überdecken.
Sie trinkt einen Schluck aus ihrer Tasse, der Kakao noch immer dampfend heiß, gerade abgekühlt genug, dass sie sich nicht die Zunge verbrennt. Auf der Tasse ist ein Sternzeichen abgebildet, Zwillinge. Sein Sternzeichen, erinnert ihr Gedächtnis sie, und sie sagt ihm, sei still.
Sie trinkt noch einen Schluck, stellt die Tasse vorsichtig auf das Fensterbrett, steht auf und geht ins Nebenzimmer. Kommt wieder, mit zwei Wunderkerzen. Zündet eine davon und betrachtet, wie sie in einem Funkenregen abbrennt. Sternspeier hat er sie immer genannt, erinnert sie sich, schüttelt den Kopf wie im vergeblichen Versuch, die Erinnerung an zahllose Silvesterabende, die sie gemeinsam verbracht haben, abzuschütteln.
Seine Familie war umgezogen, in die Wohnung über der, in der sie mit ihrem Vater gewohnt hatte. Sie hatte ihm den Weg in die Schule, zum Bäcker, zur nächsten Eisdiele gezeigt. Er war einige Monate jünger als sie, in der Klassenstufe unter ihr. Sie waren jeden Morgen gemeinsam gefahren und an den Nachmittagen, an denen ihr Unterricht gleichzeitig geendet hatte.
Das Fenster über ihrer Tasse ist beschlagen. Kurz zögert sie, dann malt sie mit ihrem Finger einen kleinen Schneemann.
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Er findet sich in dem Park wieder, an dem sie früher gemeinsam gespielt hatten. Der Spielplatz hat sich verändert, aber die alte Schaukel gibt es immer noch. Kurz hält er inne, dann geht er weiter.
Vom Hotelzimmer aus kann man den Park ebenfalls sehen. Er stutzt, als er bemerkt, dass die Bank nicht mehr steht, dann packt er weiter seine Sachen. Viel ist es nicht, der kleine Koffer liegt fast unangerührt neben dem Bett auf dem Boden.
Er nickt dem Rezeptionisten zu, als er die Lobby verlässt. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen, aber überall auf der Straße haben sich kleine Rinnsale gebildet.
Die Zugfahrt ist ereignislos, zumindest der Teil, den er nicht verschläft. Wenige Stunden später ist er zu Hause, schließt die Tür auf, zu der nur die Nachbarin einen zweiten Schlüssel hat, zieht seinen Koffer ins leere Haus, zieht die Jalousien hoch, stellt die Heizungen wieder wärmer ein. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Horizont in sanfte Töne.
Er setzt sich mit einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer, schlägt die Zeitung auf, schaut doch nur über die schlafende Stadt, wie sie allmählich zum Leben erwacht, Haus für Haus, Viertel für Viertel. Bald werden die Straßen voll sein, aber bis dahin genießt er die Ruhe.
Es ist zu kalt für Schnee, aber der Wetterbericht sagt Regen für den Nachmittag hervor. Vielleicht ins Kino, denkt er sich.
Auf dem Tisch wird langsam der Kaffee kalt.
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Neues Jahr, neues Glück, sagt der Kalender, den sie sich vor wenigen Wochen gekauft hat.
Sie schreibt einen Brief, mit Kugelschreiber, weil sie den Füller seit der Grundschule nicht mehr angefasst hat.
Mittlerweile hat es aufgehört zu schneien. Im Nachbarsgarten haben die Kinder einen Schneemann gebaut.
Als sie losgeht, zum Bäcker zwei Straßenecken weiter, kann sie ihren Atem in der kalten Luft sehen. Wie eine kleine Wolke hängt er stets für einen Moment fast reglos dort, bis die nächste Brise ihn verweht.
Sie kauft sich ein Croissant, das sie auf dem Weg nach Hause isst. Die Straßen sind ihr noch unvertraut, aber zu diesem Bäcker geht sie jeden Morgen.
Ihr Schlüsselbund klimpert, als sie die Tür öffnet, verschiedene Schlüsselanhänger, die sie über die Jahre gesammelt hat, an ihm befestigt.
Drinnen hängt sie Jacke und Schal ordentlich an einen Kleiderhaken, legt die Handschuhe auf die Heizung, setzt Wasser für den Tee auf, holt eine Tasse, verziert mit Frostblumen, aus dem Schrank, sucht sich eine Sorte aus. Im Wohnzimmer ist der Kamin bereits vom Vortag aufgebaut.
Ihr Blick fällt auf den Brief, der noch immer auf dem Schreibtisch im Nebenzimmer liegt.
Wenig später steigen verbrannte Worte aus ihrem Schornstein.
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Tausend Kleinigkeiten erinnern mich an dich.
Aber ich merke, wie ich vergesse. Wie ich dein Lächeln, dein Lachen, deine Augen vergesse.
Vielleicht vergesse ich irgendwann, wie es klingt, wenn du sagt: „Ich liebe dich."
Neunhundertneunundneunzig Kleinigkeiten erinnern mich an dich.
Aber ich merke, wie ich vergesse. Wie ich deine Liebe, deine Wärme, deine Freundlichkeit, dein Herz vergesse.
Vielleicht kann ich irgendwann wirklich sagen: „Ich liebe dich nicht."
Da Wattpad die Geschichte beim ersten Mal spurlos zu verschluckt haben scheint, hier noch einmal mein Oneshot zum Ende des Jahres 2019.
For the record, die Geschichte wurde zum ersten Mal noch am 31.12.19 hochgeladen.
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