116. Not Dead!
!Triggerwarnung!
Genervt stapfte ich die Treppe hinunter. Luisa war echt unfassbar nervig in letzter Zeit. Nie kam sie pünktlich zum Essen, ständig musste man auf sie warten, sie hielt sich im Hintergrund, schlich herum und man bekam sie kaum mehr zu Gesicht. Andauernd musste ich ihr wegen irgendwas hinterherlaufen und es dann im Endeffekt selbst erledigen, weil sie nie tat, was man ihr auftrug.
Im Esszimmer angekommen ließ ich mich auf meinen Platz fallen und starrte den leeren Stuhl neben mir böse an. Ich hatte extra für sie mit aufgedeckt, aber sie würde ja garantiert sowieso nicht aufkreuzen.
Während ich frustriert meinen Salat in mich hinein schaufelte, dachte ich daran zurück, was für ein gutes Verhältnis wir früher gehabt hatten. Sie war wie meine beste Freundin gewesen, ich hatte mit ihr über alles reden können, sie war mir so nah gestanden wie sonst niemand. Sie war meine Seelenverwandte gewesen.
Ständig hatten wir irgendwelche Ideen gleichzeitig gehabt und es war nur darauf angekommen, wer sie zuerst aussprach. Als Kinder hatten wir sogar eine Geheimsprache gehabt, die außer uns niemand verstanden hatte. Wir waren immer unzertrennlich gewesen, bis sie sich dann ganz plötzlich zurückgezogen hatte.
Wir waren auf der Autobahn gewesen und plötzlich war uns ein Geisterfahrer entgegengekommen. Unser Vater war müde gewesen und hatte ein paar Sekundenbruchteile zu spät reagiert, weswegen wir das entgegenkommende Auto getroffen hatten. Bei uns war niemand ernsthaft verletzt worden, doch die Fahrerin des anderen Autos war auf einen Schlag tot gewesen.
Klar, mich hatte es auch schockiert, wie plötzlich jemand einfach aus dem Leben gerissen werden konnte, deswegen waren wir auch auf ihre Beerdigung gegangen, obwohl wir sie nicht wirklich gekannt hatten, doch wie Luisa reagierte, war wirklich übertrieben.
Wie jeden Abend nahm ich eine Schüssel Salat mit nach oben und stellte sie vor Luisas Zimmer. Sie wusste, dass ich das nach jeder Mahlzeit tat, also konnte sie sich das Essen nehmen, sollte sie doch noch Hunger bekommen.
Dann ging ich in mein Zimmer und las in meinem Buch weiter, das ich mir vor kurzer Zeit gekauft hatte.
Am nächsten Tag sah ich, dass die Salatschüssel leer an der Treppe stand und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Es erleichterte mich, dass sie zumindest etwas aß, wenn man sie schon nie zu Gesicht bekam.
Ich nahm die Schüssel mit nach unten und räumte sie in die Spülmaschine. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und frühstückte. Zum Glück waren Ferien und ich konnte mir Zeit lassen. Doch als ich etwas später mein Geschirr wegräumte und meine Bananenschale wegwerfen wollte, sprang mir im Mülleimer etwas ins Auge und nachdem ich die drei zusammengeknüllten Papiertücher, die obenauf gelegen hatten, zur Seite geräumt hatte, erblickte ich im Müll den Salat, den ich Luisa gestern vor die Türe gestellt hatte.
Sofort war meine Laune im Keller. Sie warf das Essen, das ich ihr gab also weg. Was war nur los mit ihr? Wollte sie verhungern? Nachdem ich mein restliches Geschirr weggeräumt hatte, beschloss ich, meiner Mutter davon zu erzählen. Sie musste mit Luisa reden und ihr klarmachen, dass es nicht in Ordnung war, was sie da tat.
Ich wartete also, bis meine Mutter aus dem Bad kam und in den Flur lief, um sich ihre Schuhe anzuziehen und beschloss, einfach frei heraus zu erklären, was mich störte: „Mama, ich glaube Luisa braucht Hilfe. Ich hab grad vorhin ihren Salat im Müll gefunden. Sie muss doch was essen!"
Im Blick meiner Mutter sah ich eine Mischung aus Angst, Erschöpfung und Verzweiflung, als sie sich bei meinen Worten gegen die Wand sinken ließ und das Gesicht in den Händen vergrub. Was sollte das denn? Meine Bedenken waren berechtigt, machte sie sich denn überhaupt keine Sorgen um ihre Tochter? Doch bevor ich irgendwas dazu sagen konnte, begann meine Mum plötzlich, leise zu schniefen, und als sie sich kurz mit dem Ärmel über die Augen wischte, sah ich, dass sie weinte.
Erschrocken wich ich etwas zurück. Mütter sollten nicht weinen. Mütter waren immer für einen da und wussten, was zu tun war, wenn man ein Problem hatte. Mütter waren stark! Doch ich war wohl aus dem Alter raus, in dem meine Mum mir bei allem helfen konnte, denn Luisas Problem schien selbst sie zu verunsichern.
Schließlich schien sie sich wieder gefangen zu haben und sah mich mit durchdringendem Blick an. „Zieh dir was an und komm mit", sagte sie dann mit brüchiger Stimme und drehte sich zu ihren Schuhen, um die Schnürsenkel zu binden, „wir fahren zum Psychiater."
„Was? Warum denn wir?", fragte ich aufgebracht, „Luisa sollte da hin, die hat vielleicht eine Essstörung!" „Bitte.", flüsterte sie und hörte sich dabei an, als hätte sie sich seit Jahren nicht ausgeruht. Sie wirkte einfach nur erschöpft und genauer betrachtet fiel mir auch auf, dass sich unter ihren Augen dunkle Ringe abzeichneten.
„Mama", murmelte ich verzweifelt, „was ist denn los?" Ich hatte noch weiter fragen wollen, doch sie richtete sich etwas auf, sah in meine Richtung und antwortete leise aber mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme: „Du bist los."
Erschrocken sah ich sie an und wollte etwas erwidern, da kam sie auf mich zu, packte mich an den Schultern und sagte mit eindringlicher Stimme: „Ich weiß, dass du es nicht wahrhaben und lieber verdrängen willst. Ihr habt euch so nah gestanden und wart so vertraut... Aber es bringt nichts, so zu tun, als würde sie noch leben. Du musst versuchen, das zu akzeptieren, sonst wirst du ernsthaft psychisch krank... vielleicht bist du das auch schon. Aber du musst endlich aufhören, ständig so zu tun, als wäre sie noch da!"
Zum Ende hin war sie lauter geworden und hatte an meinen Schultern gerüttelt, doch ich verstand immer noch nicht, was sie von mir wollte. Oder wollte es nicht verstehen. Also fragte ich aufgebracht: „Wer denn? Diese Frau vom Autounfall oder was?"
„DAS WAR LUISA!"
Sie hatte geschrien, so laut, wie ich sie noch nie hatte schreien hören, und es ängstigte mich. Ich hatte wirklich Angst vor meiner Mutter, wie sie mit geröteten, tränenüberströmten Wangen, schwer atmend und schreiend vor mir stand und mich an den Schultern heftig hin und her schüttelte.
„Nein", flüsterte ich, ohne überhaupt richtig begriffen zu haben, was sie gesagt hatte. Aber egal, was Luisas Schuld sein sollte, sie musste im Unrecht sein. Meine kleine Schwester war an überhaupt nichts schuld!
„Doch... die Frau in dem anderen Auto, die Geisterfahrerin, diese kranke Alkoholikerin hat überlebt. Aber sie... meine Kleine nicht. Diese Frau hat mir meine Tochter genommen."
Meine Mum trat ein paar Schritte zurück und setzte sich erschöpft auf den Schemel, der beim Schuhregal stand. Ich hingegen starrte sie entgeistert an und schrie ihr nach ein paar Sekunden des Schocks das Erste entgegen, was mir in den Sinn kam: „Nein, du lügst!"
Dann rannte ich die Treppe hoch, stürmte in mein Zimmer und knallte die Türe so fest hinter mir zu, wie ich konnte. In meinem Kopf beleidigte ich meine Mutter immer und immer wieder, mit den wüstesten Schimpfwörtern die ich kannte.
Doch je länger und verzweifelter ich versuchte, das Gespräch von gerade eben aus meinem Kopf zu verbannen, desto mehr Bilder zuckten durch meinen Kopf, Bilder von einer schwarz gekleideten Menschenmasse, von Luisas leerem Zimmer, von meinen weinenden Eltern, die vor einem Grab standen, von einer verbeulten Motorhaube, von einem Grabstein, auf dem in schlichten Buchstaben der Name meiner Schwester zu lesen war und schließlich der Anblick von ihr, wie sie mit einer riesigen Platzwunde blutüberströmt auf dem Beifahrersitz gesessen und nicht reagiert hatte.
Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als wieder in meine Traumwelt aus Wunschdenken zurück fliehen zu können, in der Luisa die psychisch kranke war, nicht ich.
------
Dieses Kapitel ist @glpuffiii gewidmet. Ich hab dich lieb!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro