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Inspiration gibt es überall zu holen, sie ist für jeden ergreifbar, sowohl für Künstler der Leinwände, als auch für Künstler der Worte.
Sie kann einen unerwartet aus dem Hinterhalt angreifen, sie kann einem aber auch friedfertig antreffen.
Kaum ein Mensch ist sich dessen bewusst, dabei schlummert in jedem ein Talent, bei dem Inspiration benötigt wird. Die einen müssen es erst noch irgendwie erwecken, die anderen nutzen ihr Talent für sich.
Während ich zu den frühen Morgenstunden bereits auf Achse war, durch die Kälte durch die Stadt stakste, nutzte ich meine Vorstellungskraft für mich.
Um wirklich wach zu werden, nutzte ich einen kleinen Spaziergang durch die stillen Straßen, während andere sich noch in ihren Betten der Traumwelt hingezogen fühlten. Ich tat dies jedes Mal, wenn ich früh aus dem Haus musste, es entwickelte sich stetig zu einer unverzichtbaren Routine.
Sobald ich mich jedoch dem Bahnhof näherte, auf andere Frühaufsteher und Nachteulen, spannte sich mein zuvor freier Geist an.
Es gab Verhaltensregeln, die man befolgen musste, um als normales Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden.
Dazu gehörte es nicht, über die nassen Pflastersteine der Altstadt zur sanften Musik zu tänzeln, die über meine Kopfhörer erklang.
Zusammen mit anderen Menschen trottete ich wie ein willenloser Zombie die Treppen zum Bahnsteig hinauf, in meinen Gedanken jedoch spielten sich verrückte Fantasien ab.
Unauffällig begutachtete ich meine Mitmenschen und stellte mir eine Frage:
Was wäre wenn?
Was wäre, wenn der bärtige Mann mit dem kantigen Gesicht und dem finsteren Blick rechts neben mir auf dem Weg zum Krankenhaus war, weil er jeden Augenblick Vater werden würde?
Was wäre, wenn die junge Frau, die den kleinen Bäcker am laufen hielt, sich eigentlich um ihr Studium kümmern musste?
Ich war kein Morgenmensch. Ich war alles, eine Nachteule, ein Langschläfer, ein Morgenmuffel, aber keiner, der gerne früh aufwachte und den Morgen genoss.
Diese Vorstellungen hielten meinen müden Geist wach, hielten meinen Körper auf Trab.
Dazu fesselte die Kälte meinen Körper, machte ihn steif.
Ich stellte mir vor, was meine Mitmenschen wohl im privaten machten. Warum sie so früh am Morgen am Bahnhof standen, die breite, weiße Markierung übertraten und mit Kaffeebechern in die vollen Bahnen stiegen.
Was ich hier tat, war mir bewusst, doch was führte die anderen hierher?
Ein langweiliger, normaler Mensch würde mir nur sagen, sie müssten zur Arbeit.
Klar, diese Aussage war wahrscheinlich nicht falsch, aber mir nicht genug. Was arbeiteten sie? Was verdienten sie? Waren sie zufrieden oder nicht?
Die junge Frau mit den prallen, roten Lippen und dem ordentlichen, braunen Haar, die mir gegenüber in der Bahn saß, sie war Literaturstudentin. Natürlich wusste ich es nicht, doch ich stellte mir es vor.
Die alte Dame mit der Brille und dem gelben Winterjacke neben mir war auf dem Weg zum Friedhof am Ende der Stadt, um um ihren vor zwei Jahren verstorbenen Mann zu trauern.
Die Sitzplatzvergabe in einem Zug oder in einem Bus war auch von Regeln der Gesellschaft festgelegt. War man allein und besetzte einen Vierersitz, nahm man sich einen Platz am Fenster. Setzte sich eine weitere dazu, saß sie automatisch schräg gegenüber, am Gang.
Wenn die Bahn sich stetig füllt, und kein Sitzplatz mehr für eine Einzelperson verfügbar war, setzte sie sich neben der Person, die am Fenster saß.
Der vierte Platz wird nur in extremen Ausnahmen besetzt, falls wirklich kein Platz mehr verfügbar war, weder Sitzplatz, noch Stehplatz.
Ein Obdachloser betrat die Bahn, ein Batzen Zeitungen war unter seinen Arm geklemmt. Nachdem sich die Türen automatisch schlossen und der Zug wieder an Fahrt aufnahm, erhob er seine Stimme.
Sein Name war Müller, er verkaufte Zeitungen für knapp einen Euro.
Wenn solch eine Situation auftrat, gab es ebenso Regeln. Man starrte auf den leeren Sitzplatz gegenüber, aus dem Fenster oder auf den Boden, aber bloß nicht einem anderen Passagier ins Gesicht, und schon gar nicht zum Obdachlosen.
Sonst war man das schwächste Glied in der Kette.
Wenn es die Möglichkeit gab, drehte man auch die Lautstärke hinauf und ließ die Musik aus dem Kopfhörern die Fahrtgeräusche und vor allem die Stimme übertönen.
Ich jedoch senkte die Lautstärke instinktiv. Ich wollte wissen, was der glatzköpfige Mann zu sagen hatte.
Seine heisere Rede wurde von der automatischen Ansage des Zuges unterbrochen, danach setzte er erneut an.
Schließlich bedankte er sich bei den Passagieren für ihre Aufmerksamkeit, hoffte auf Spenden. Unter meiner grauen Maske musste ich schmunzeln. Sie alle hatten seine Worte wahrgenommen, jedoch absichtlich überhört.
Als ich aus dem Zug ausstieg, die Kälte mich wieder in Empfang nahm, bahnte ich mir meinen Weg sofort zu den Rolltreppen. Selbst das Verhalten hier hatte eine feste Struktur.
Rechts durftest du stehen, und links durftest du gehen, wenn du es eilig hattest. Wag es dir niemals, auf der linken Seite zu stehen.
An einem der unzähligen Bäckerständen stellte ich mich an, nahm das erste mal an diesem Tag verbalen Kontakt zu einem Menschen auf, bestellte mir einen Kaffee.
Ich begann mit dem Kaffeetrinken, weil es die Gesellschaft von mir erwartete, um als vollwertiger Erwachsener anerkannt zu werden. Sonst hätte ich mir niemals diese schwarze, bittere und heiße Flüssigkeit meinem Körper zugefügt. Trotzdem blieb ich bei Kaffee, es fühlte sich an, als würde etwas fehlen, wenn ich keinen trank.
Ein morgentlicher Kaffee am zweiten Bahnhof wurde schnell zu einem Teil meiner Routine, und dagegen zu verstoßen, wenn ich meinen Kaffee auch nur etwas früher holte, fühlte sich falsch an.
Während ich meinem Kaffee ein wenig Zucker hinzufügte, spürte ich den ungeduldigen Blick in meinem Nacken. Hinter mir stand ein älterer Herr mit altersgrauen Schopf und faltigem Gesicht, ein gezwungen freundliches Lächeln zierte seine dünnen, trockenen Lippen. In einer Geschichte würde er nur eine Nebenrolle spielen, wenn überhaupt. Dazu wirkte er zu einfältig, zu langweilig. Ein normaler Mensch, der sich der Gesellschaft fügte.
Um eine wichtigere Rolle zu spielen, musste man die sozialen Normen hinterfragen, aber nicht gegen sie verstoßen. Er jedoch folgte ihnen blind.
Der heiße Kaffeebecher wärmte meine erkalteten Hände, eine weitere Pappschicht verhinderte, dass ich sie mir verbrannte.
Gedankenverloren starrte ich auf die Anzeige und versuchte zu erkennen, wann mein Zug im Bahnhof einfahren würde. Ich traute mich nicht, die halbe Stunde zu früh unten am Bahnsteig zu stehen, dort lauerte ein weiterer Ausgestoßener der Gesellschaft, ein weiterer Obdachloser, der die früh aufstehende Bevölkerung um Spenden bat.
Ich wollte ihm nicht erneut begegnen, deshalb lungerte ich oberhalb des Bahnsteiges herum, starrte abwechselnd zur Bahnhofsuhr und zur Anzeige, um einen passenden Moment zu finden.
Ich nahm meinen ersten Schluck vom Kaffee, sofort breitete sich ein rauer Schmerz aus, gefolgt vom Gefühl der Taubheit.
Der Kaffee war noch zu heiß.
Schnell warf ich meinen Kopf hin und her, um zu sehen, ob mich einer dabei beobachtet hatte und mich nun verurteilte. Das tat diese Gesellschaft, sie verurteilte Leute, die die Verhaltensregeln nicht befolgten.
Eine Art, die mir übel aufstieß. Ich bekam sie damals schon oft selbst zu spüren, weshalb mir es nicht einfallen würde, andere böswillig zu verurteilen. Stattdessen bewunderte ich ihren Mut, wenn sie vor der Gesellschaft gegen Normen verstießen und nun um ihren Status fürchten müssen.
Andererseits verurteilte man sie schon unbewusst, wenn man jemand Auffälligen länger ansah, und nicht nur mit einem flüchtigen Blick wahrnahm.
Knapp zehn Minuten, bevor mein Zug am Bahnhof ankam, begab ich mich endlich auf den Bahnsteig, in der Hoffnung, der Obdachlose lauerte mir nicht auf wie ein Tiger seiner Beute.
Eigentlich war der Typ ein relativ angenehmer Mitmensch, er redete höflich und drängte sich nur anfangs auf. Er war nicht der klischeehafte Obdachlose, der auf der Straße saß und vor sich hin stank. Aber ein interessanter Charakter war er auch nicht, dafür müsste man ihm noch ein paar Eigenschaften hinzudichten. Warum lebte er auf der Straße? Was war sein Schicksal, was war seine Vergangenheit?
Ich starrte in den Himmel und hob eine Augenbraue. Weiße Flöckchen tanzten in der Luft und rieselten auf den grauen Bahnsteig nieder. Ich wusste nicht Recht, ob ich meinen Augen trauen konnte. Richtiger Schnee war rar geworden. Gelegentlich gab es ein paar dicke Schneeflocken, doch sie waren nur von kurzer Dauer, und liegen blieben sie auch nicht.
Jedoch faszinierte mich das Spiel der Schneeflocken um die grelle Laterne im dunklen Nachthimmel so sehr, dass ich meinen Kaffee in meiner Hand vergaß.
Sogar die Bahnhofsansage, mein Zug würde jeden Augenblick einfahren, überhörte ich.
Ich vergaß sämtliche Regeln, stand lästig im Weg herum und richtete meinen starren Blick auf die Laterne.
Ich hörte die genervten Bemerkungen lediglich durch einen Schleier, aus meinen Gedanken konnte mich lediglich das Eintreffen meines Zuges reißen.
Je mehr ich mir meinen Kopf über soziale Regeln und Normen zerbrach, desto mehr realisierte ich, dass sie längst ein selbstverständlicher Teil waren. Selbst ein Buch ist strukturiert durch diese Regeln, selbst die Charaktere handeln nach diesen Normen, und bilden eine eigene Gesellschaft.
Ich seufzte leise auf, als ich durch das Zugfenster starrte und die Tropfen beobachtete. Aus dem echten Schnee von vorhin war ein ganz normaler Regenschauer geworden, was mich zum Zweifeln brachte. War es wirklich Schnee gewesen? War es eine Einbildung?
Vielleicht bildete ich mir alles nur ein. Meine Geschichten, meine Charaktere, meine Mitmenschen, all diese Dinge wurden durch meine Einbildung ausgezeichnet.
Die Zeit im Zug nutzte ich, um mir so vieles mehr einzubilden, vorzustellen, niederzuschreiben. Bis sich eine eigene Struktur entwickelte.
Ich blendete meine Umgebung aus, ich dankte der Verspätung im Zug und für die Wärme, die meinen Gedankenfluss nicht störte.
Doch als ich aussteigen musste, war ich wieder nur ein angespanntes Mitglied der Gesellschaft.
"Entschuldigen Sie!", hörte ich die Stimme einer jungen Frau. Ich wollte nicht unhöflich wirken, sah mich um. Sie blickte mich an, sie sprach mich an.
Mit schnellen Schritten näherte sie sich mir, eine Kapuze schützte sie vor dem Wind, der die Regentropfen uns allen ins Gesicht peitschte.
Mich schützte nur mein Arm.
Die junge Frau hielt ein Buch in die Luft, zeigte auf den Autorennamen. Ich erkannte das Cover wieder, genauso wie den Autoren.
Ein läppisches Pseudonym, um meine wahre Identität geheim zu halten. Paradox, ein Pseudonym zu verwenden, während man doch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung strebt.
Und doch wurde ich erkannt, trotz der Verwendung eines Pseudonyms.
Und das, obwohl nie jemand mein Buch angerührt hatte.
Ich schenkte meinen gegenüber ein sanftes Lächeln, während mein durch die Zugfahrt geöffneter Mantel im peitschenden Wind wehte.
"Sie haben es gelesen."
"Und Sie haben es geschrieben."
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