Ein Abend, der alles verändert •Faister•
Ich drückte die letzte Knopfleiste meiner weißen Bluse zurecht und band meine schwarze Schürze fest um die Taille. Noch ein Abend kellnern, dann war das Geld für die nächste Studiengebühr beisammen. Nicht, dass ich mich beschweren wollte – der Job war okay, und die Stream Awards waren ein Event, das zumindest nicht langweilig versprach. Berühmte Gesichter, gute Stimmung und großzügige Trinkgelder. Es war ein wenig wie ein Kinoabend, nur dass ich stattdessen Tabletts schleppte. Mein erster Rundgang war hektisch. Die Tische waren voller Gäste, die alle mit hohen Erwartungen und noch höheren Lautstärken bestellt haben. Unter den Gästen waren viele bekannte Streamer, die ich vom Hören kannte. Doch ich ließ mir nichts anmerken, hielt mich professionell und höflich. Mein Chef hatte deutlich gemacht: "Keine Selfies, keine Fangirling-Momente."
An einem der Tische fiel mir jedoch jemand besonders auf. Ein Typ, der etwa in meinem Alter war, saß dort mit zwei Freunden, die immer wieder Witze rissen und mit ihren Bestellungen leicht übertrieben. Während sie Getränke um Getränke bestellten, sah ich, wie er mich jedes Mal freundlich anlächelte. Er hatte diese Art von Ausstrahlung, die mir seltsam vertraut vorkam – Faister, fiel es mir ein. Ein deutscher Twitch-Streamer, über den ich mal was gehört hatte. "Ein Wasser, ein Weißwein und... ich nehme einen Eistee, bitte." Seine Stimme war angenehm, ruhig im Gegensatz zu den anderen beiden, die sich kaputtlachten, als ich ihnen ihre Bestellungen aufnahm. Kevin und Heiko, wie ich später erfuhr, machten sich offenbar einen Spaß daraus, mich alle fünf Minuten zurück an den Tisch zu rufen. "Sind Sie eigentlich Profi-Kellnerin?" fragte Kevin irgendwann frech. Ich grinste höflich, obwohl mir die Frage jedes Mal ein Augenrollen entlocken wollte. "Nein, ich studiere Lehramt. Der Job ist nur ein Nebenverdienst." "Na, da haben die Kids ja mal Glück", rief Heiko lachend, bevor Faister ihn leicht mit der Schulter anstieß. "Lass sie in Ruhe, Mann." Irgendwann ließ ich mich auf ein bisschen Smalltalk ein. Faister – dessen echter Name wohl Leon war – hatte etwas Beruhigendes an sich. Während seine Freunde weiter alberten, war er erstaunlich entspannt und schien tatsächlich Interesse an meinem Alltag zu haben. "Und du? Streamst du nur oder hast du auch einen ‚richtigen' Job?" fragte ich halb im Scherz, als ich zum fünften Mal mit Drinks an ihren Tisch kam. Er lachte, was mich überraschte. "Naja, Twitch fühlt sich manchmal an wie ein richtiger Job – aber ja, ich streame hauptberuflich." Als der Abend sich langsam dem Ende zuneigte, wurde die Stimmung immer lockerer. Kevin und Heiko hatten sich längst andere Tische gesucht, doch Leon blieb sitzen. "Es hat Spaß gemacht, dich heute kennenzulernen", sagte er schließlich, als ich das letzte Tablett abräumte. "Falls du mal in eine Pause von Uni und Kellnern kommst, meld dich doch mal. Vielleicht schaffst du es ja in einen meiner Streams." Ich lachte, zog mein Handy hervor und speicherte seine Nummer ein, nachdem er sie mir gegeben hatte. "Mal sehen, ob ich in deinem Chat mithalten kann", erwiderte ich, halb im Spaß. Als ich später Feierabend machte und die Türe des Veranstaltungsorts hinter mir schloss, war ich erschöpft, aber auch seltsam aufgeregt. Vielleicht war es nur ein netter Abend gewesen, oder vielleicht... war es der Anfang von etwas Neuem.
Ich dachte, wir hätten etwas Besonderes. Diese Worte hatte ich immer wieder in meinem Kopf gehört, während ich mein Handy anstarrte, auf eine Nachricht wartete, die nie kam. Leon – oder Faister, wie die Welt ihn kannte – hatte mich monatelang in seinen Bann gezogen. Wir hatten uns nach den Stream Awards ein paar Mal getroffen, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass da etwas Echtes zwischen uns war. Doch dann? Nichts. Er antwortete auf keine Nachrichten mehr, nahm keine Anrufe entgegen. Wochen vergingen, und irgendwann hörte ich auf, es zu versuchen. Es war seltsam, wie sehr jemand, den ich erst so kurz kannte, einen so großen Einfluss auf meine Gedanken haben konnte. Doch genauso seltsam war die Leere, die er hinterließ.
Ein paar Wochen später saß ich in meinem kleinen WG-Zimmer, als meine Mitbewohnerin hereinkam. "Hey, läuft bei Faister irgendwas? Der streamt gerade und sieht total fertig aus." Ich hatte mich geweigert, seinen Kanal zu öffnen, seit er mich ignoriert hatte. Warum sollte ich? Aber irgendwas in ihrer Stimme ließ mich neugierig werden. Ich öffnete Twitch, und da war er – sein Gesicht war müde, die Augen glanzlos. Er sprach von irgendetwas, das ihn beschäftigte, aber ich konnte nur die Hälfte verstehen. "Manchmal... weiß man einfach nicht, wie man die Dinge in Ordnung bringt", sagte er schließlich und legte die Hände vors Gesicht. Der Chat war voll von Fragen und besorgten Nachrichten. Doch keine von mir.
•Kevin POV•
Ich wusste, dass etwas mit Leon nicht stimmte. Der Typ hatte sich monatelang zurückgezogen, kaum gestreamt, und jetzt, als er endlich live war, klang er wie ein Schatten seiner selbst. Heiko und ich hatten schon lange den Verdacht, dass es mit diesem Mädchen zusammenhing, das er auf den Stream Awards getroffen hatte – Siena. Ich wusste, wo sie arbeitete, und ich hatte keine andere Wahl, als dort aufzutauchen. "Siena, oder?" fragte ich, als sie mich hinter der Theke bemerkte. Sie wirkte überrascht, fast ein bisschen defensiv, als ich mich vorstellte. "Was willst du?" fragte sie direkt."Leon geht's beschissen", sagte ich unverblümt. "Und ehrlich gesagt glaube ich, dass du der Grund bist – oder besser gesagt, dass er sich selbst im Weg steht." Sie runzelte die Stirn. "Er hat mich ignoriert, Kevin. Wochenlang. Wie soll ich darauf reagieren?" "Vielleicht, indem du ihm die Chance gibst, es zu erklären?" Ich hielt kurz inne, bevor ich weitersprach. "Er ist ein Idiot, klar. Aber er bereut es, und er wird es dir nie selbst sagen, wenn du nicht den ersten Schritt machst."
•Faister POV•
Der Stream war vorbei. Ich hatte alles gesagt, was ich sagen konnte, ohne tatsächlich den Namen zu erwähnen, der in meinem Kopf schwirrte. Siena. Ich hatte sie verletzt, und ich wusste nicht, wie ich das wieder gutmachen konnte. "Okay, Leute, ich mach Schluss für heute", sagte ich und griff nach meiner Maus, um den Stream zu beenden. Als ich den Stream beendet hatte hörte ich die Tür zur Wohnung und wenig später IHRE Stimme. "Leon?" Ich drehte mich um und sah sie. Siena stand in meiner Tür, Kevin im Hintergrund, der mir ein Daumen-hoch-Zeichen gab und dann verschwand. "Was... was machst du hier?" brachte ich heraus, während mein Herz wie wild schlug. "Ich bin hier, weil ich Antworten will", sagte sie. "Warum hast du mich ignoriert? Warum hast du mich zurückgelassen, nachdem wir..." Sie brach ab, ihre Stimme bebte. Ich stand auf, wollte etwas sagen, doch die Worte blieben in meinem Hals stecken. Schließlich setzte ich an: "Ich hatte Angst, okay? Angst, dass ich dir nicht gerecht werden kann. Dass das Leben, das ich führe, dir mehr schadet als nützt. Und anstatt mit dir darüber zu reden, habe ich mich zurückgezogen. Das war feige, und es tut mir leid." Für einen Moment herrschte Stille. Dann kam sie einen Schritt auf mich zu. "Das war es", sagte sie leise. "Alles, was ich wollte, war, dass du ehrlich bist." Ich konnte kaum glauben, dass sie hier war, dass sie mir eine zweite Chance gab. "Ich werde es wieder gutmachen", versprach ich. "Ich weiß nicht wie, aber ich werde es tun." Sie lächelte schwach. "Dann fang damit an, mir einen Tee zu machen. Du siehst aus, als könntest du selbst einen brauchen." Ich lachte leise und spürte, wie ein Gewicht von meinen Schultern fiel. Vielleicht war dies der Neuanfang, den wir beide brauchten.
~1252 Wörter~
Der OS ist für Paula_lbw
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