Der letzte Funke •Haymitch Abernathy•
Ich hatte ihn schon immer gehasst. Haymitch Abernathy, der zynische alte Mann, der sich in Alkohol ertränkte und seine Tribute einfach sterben ließ. Ich war nicht wie er. Nicht so schwach. Nicht so kaputt. Das wollte ich zumindest glauben. Mit 17 hatte ich die 60. Hunger-Spiele überlebt, allein, ohne seine Hilfe. Haymitch hatte sich keine Mühe gegeben, sich nicht einmal um Sponsoren gekümmert. In der Arena war ich auf mich allein gestellt, hatte meine eigenen Entscheidungen getroffen, eigene Allianzen geschmiedet, meine eigenen Wunden versorgt. Sein Versagen war das erste, was ich ihm nie verzeihen konnte. Jetzt, Jahre später, stehe ich immer noch vor derselben düsteren Wahrheit. Die Kinder sterben. Jahr für Jahr. Es gibt kein Entrinnen aus dieser Hölle. Aber ich gebe mir Mühe, kämpfe mit allem, was ich habe. Ich hole Sponsoren ran, rede mit den Menschen im Kapitol, schleime mich bei den Reichen ein, wenn es nötig ist. Doch es reicht nie. Die Tribute sterben trotzdem, und mit jedem von ihnen stirbt ein Teil von mir.
"Na, wieder alles gegeben, was?" höre ich Haymitch hinter mir und drehe mich zu ihm um, meine Augen voller Hass und Tränen. "Und was hat es gebracht? Noch zwei Kinder, die tot sind. Herzlichen Glückwunsch." Seine Worte sind wie Messerstiche, aber ich lasse sie nicht durch meine Fassade dringen. Ich kann nicht. Ich muss stark bleiben. Für sie. Für die Tribute, die noch kommen werden. Für die, die ich vielleicht retten kann. "Zumindest tue ich etwas, Haymitch!" fauche ich, meine Stimme bricht fast. "Ich lasse sie nicht einfach sterben, wie du es tust!" Er hebt eine Augenbraue, das unvermeidliche Grinsen um seine Lippen. "Oh ja, das machst du. Du lässt sie sterben – nur langsamer." Ich beiße die Zähne zusammen und wende mich ab. Es ist kein Geheimnis, dass Haymitch mich für naiv hält. Für dumm. Aber ich weigere mich, so zu werden wie er. So abgestumpft, so leer. Ich muss es tun. Irgendjemand muss es tun. Doch in den Nächten, wenn ich allein in meinem Bett liege, dringt die Realität durch. Die Einsamkeit, der Schmerz, der Verlust. Ich weine oft. Leise, damit es niemand hört. Nicht einmal ich selbst. Es sind Tränen, die für all jene fließen, die ich verloren habe – die ich nie retten konnte. Vielleicht auch für mich selbst.
Dann kommt der Tag, den ich niemals für möglich gehalten hätte. Der Tag, an dem alles endet. Der Tag, an dem meine Schwester gezogen wird.Sie war immer meine einzige Familie gewesen, seit unsere Mutter bei ihrer Geburt gestorben war und unser Vater im Minenunglück umgekommen ist. Wir hatten nur uns zwei. Nur sie und ich, immer. Der Gedanke, sie in die Arena zu schicken, raubt mir den Atem. Mein Herz bricht, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Ich tue alles, was in meiner Macht steht. Ich rede mit den wichtigsten Leuten im Kapitol, ziehe jede erdenkliche Strippe. Ich hatte das Gefühl das selbst Haymitch versuchte das beste zu geben. Doch es reicht nicht. Es reicht nie. Ich sitze da, auf diesem verdammten Sofa, und sehe zu, wie meine Schwester stirbt. Ich kann es nicht fassen, will es nicht glauben, aber es passiert direkt vor meinen Augen. Als es vorbei ist, fühle ich nichts mehr. Kein Hass. Keine Wut. Nur Leere. Haymitch hatte die ganze Zeit recht gehabt. Es gibt keine Hoffnung. Alles, was ich getan habe, war eine Lüge – ein verzweifelter Versuch, einen Funken zu retten, der längst erloschen war. Ich betrat das Haus von Haymitch, er saß wie immer auf dem Sofa mit einer Flasche Whisky. Ich trinke aus der Flasche, die er mir hinstellt, ohne ein Wort zu sagen. Wir sitzen eine Weile schweigend da. Und zum ersten Mal verstehe ich ihn. Verstehe, warum er sich aufgibt, warum er nichts mehr tut. Es ist einfacher, aufzugeben, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. "Es gibt keine Hoffnung, oder?" frage ich leise und starre in die Leere vor uns. Er nickt kaum merklich. Kein Triumph, kein Grinsen, nur die stille Zustimmung eines Mannes, der zu viel gesehen hat. "Nein", sagt er leise. "Nicht wirklich." Und das ist der Moment, in dem ich aufgebe.
Seit dem Tod meiner Schwester hat sich die Welt um mich herum verändert. Oder vielleicht bin nur ich es, die sich verändert hat. Ich habe mich zurückgezogen, spreche mit niemandem mehr. Nicht mit den anderen Siegern. Nicht mit den Tributen. Nicht einmal mit Haymitch. Es ist so viel einfacher, nichts zu fühlen. Einfach zu existieren, wie ein Schatten, der durch die Tage driftet. Es gibt keine Erwartungen mehr, keinen Grund, weiterzukämpfen. Ich habe alles verloren, was wichtig war. Also wofür weiterleben? Ich bemerke es zuerst nicht, aber Haymitch beobachtet mich. Seine spitzen Bemerkungen werden seltener, seine ständigen Provokationen verschwinden langsam. Er sagt nichts dazu, dass ich keine Mühe mehr in die Vorbereitung der Tribute stecke. Er lässt mich in Ruhe, zumindest eine Zeit lang. Doch irgendwann steht er in meiner Tür. Keine Flasche in der Hand, kein sarkastisches Grinsen. Nur er. Sein Blick ist ernst, fast... besorgt? "Laura", sagt er, und ich höre etwas in seiner Stimme, das ich nicht ganz einordnen kann. "Du solltest nicht allein sein." Ich schaue ihn nur an. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass jemand mit mir spricht. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. "Glaub mir", fährt er fort und setzt sich ohne Aufforderung auf meinen abgenutzten Sessel, "ich weiß, wie das ist. Sich zurückzuziehen, alles in sich reinzufressen... Es endet nicht gut." Seine Worte treffen mich tiefer, als ich zugeben will. Ich weiß, dass er recht hat. Er ist der lebende Beweis dafür. Doch was soll ich tun? Weitermachen, als wäre nichts passiert? So tun, als könnte irgendetwas den Schmerz lindern? "Ich... will nicht mehr kämpfen", flüstere ich schließlich, meine Stimme brüchig. Es ist das erste Mal, dass ich die Wahrheit laut ausspreche. "Es bringt nichts." Er sieht mich an, länger als sonst. Keine Witze, keine bissigen Kommentare. Nur das leise Einverständnis eines Mannes, der schon vor langer Zeit seinen Kampf verloren hat. "Ich weiß", sagt er nur und bleibt sitzen.
Von da an ist er öfter da. Manchmal bringt er Essen, obwohl ich kaum etwas esse. Manchmal sitzt er einfach schweigend da. Es irritiert mich, wie er plötzlich die Rolle des "Kümmernden" übernimmt. Haymitch Abernathy, der große Zyniker, der sich nie um irgendetwas gekümmert hat, außer um seine nächste Flasche. Doch jetzt sorgt er sich um mich, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Die Abende, an denen wir zusammen sitzen, werden zur Gewohnheit. Anfangs bin ich misstrauisch, erwarte, dass er irgendwann die Geduld verliert und mich einfach wieder allein lässt. Doch er bleibt. Irgendwann beginne ich, es zuzulassen. Es ist seltsam beruhigend, nicht allein zu sein. Jemanden da zu haben, der genau versteht, was es bedeutet, in der Arena gewesen zu sein, der die Albträume kennt, die uns beide plagen. Dann, eines Abends, als wir wieder zusammen sitzen, kommen wir uns näher. Es ist keine bewusste Entscheidung, kein Plan, aber plötzlich ist er da, neben mir, und unsere Blicke treffen sich. Für einen Moment gibt es keinen Schmerz, keine Erinnerungen an verlorene Kämpfe. Nur ihn und mich. Und bevor ich es wirklich begreife, sind seine Lippen auf meinen, und alles andere verblasst. Doch am Morgen danach sprechen wir nicht darüber. Es ist, als wäre nichts passiert, obwohl es unausgesprochen zwischen uns schwebt. Keiner von uns weiß, wie wir damit umgehen sollen. Ich merke, dass er oft in meiner Nähe bleibt, aber er sagt nichts. Und ich auch nicht.
Die Reise ins Kapitol einige Wochen später ist schwerer als sonst. Wir beide vermeiden das Thema und konzentrieren uns auf die Aufgaben vor uns. Doch während eines Festes, bei dem ich unfreiwillig anwesend bin, fordert mich ein Kapitoler zum Tanz auf. Er ist charmant, schleimig – das übliche Gesicht des Kapitols. Bevor ich ablehnen kann, steht plötzlich Haymitch zwischen uns, seine Hand fest um mein Handgelenk geschlossen. "Sie tanzt nicht mit dir", sagt er ruhig, aber sein Ton lässt keinen Raum für Widerspruch. Der Mann verzieht sich schnell, und ich schaue Haymitch verwirrt an. "Was sollte das?" frage ich, halb belustigt, halb überrascht. Er sieht mich an, und in seinen Augen liegt etwas, das ich nicht erwartet habe. "Ich will nicht, dass dich einer von diesen Kapitolarschlöchern anfasst", sagt er leise, aber ernst. "Und ich..." Er zögert, als müsste er die richtigen Worte finden, was bei ihm selten vorkommt. "Die letzte Zeit mit dir... war das erste Mal seit Langem, dass ich etwas gefühlt habe. Und es ist schön, jemanden zu haben, der meine Albträume erkennt." Meine Verwirrung wächst, und gleichzeitig breitet sich etwas Warmes in meiner Brust aus. "Ich weiß nur nicht, wie ich damit umgehen soll", fügt er hinzu, als würde ihn das Eingeständnis selbst überraschen. Ich sehe ihn an, verstehe plötzlich, was er sagen will, und auch wenn mir die Worte schwer fallen, weiß ich, dass ich das Gleiche fühle. "Mir geht es genauso", sage ich leise. "Aber... wir können es gemeinsam herausfinden, oder?" Er schaut mich an, und zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich in seinen Augen etwas, das Hoffnung sein könnte. Ab diesem Moment sind wir zusammen. Wir sprechen es nicht laut aus, es gibt keine großen Gesten. Aber es ist klar. In einer Welt voller Dunkelheit haben wir einen Weg gefunden, uns gegenseitig Halt zu geben. Und vielleicht, nur vielleicht, ist das genug, um weiterzumachen. Effie, unsere Freundin, aus dem Kapitol, die sich um Distrikt 12 mittlerweile kümmerte liebte es uns so zusammen zu sehen. Sie sagte immer das wir der Funken Hoffnung in dem ganzen waren.
Bei den 74. Hungerspielen betrat ich wie immer die Bühne, ich setzte mich neben Haymitch hin und sah über die Bewohner vom District 12. Ich hatte ein komisches Gefühl dieses Mal aber ich konnte es nicht beschreiben. Als Katniss Everdeen sich freiwillig für ihre Schwester meldet, ist da dieser Moment, in dem alles anders wird. Etwas an ihr... an dem Funken in ihren Augen, lässt mich spüren, dass sie anders ist. Ich weiß es einfach. Es gibt keinen Grund, es zu erklären. Katniss könnte diejenige sein, die etwas ändert. Aber als ich Haymitch davon erzähle, schüttelt er nur den Kopf, als wäre ich verrückt geworden. "Mach dir keine Hoffnung", sagt er kühl und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. "Das Kapitol wird sie zermalmen wie alle anderen." Doch ich gebe nicht auf. Nicht dieses Mal. Katniss ist anders. Und als er sieht, dass ich nicht locker lasse, stimmt er schließlich zu, mir zu helfen. Es ist widerwillig, aber er tut es. Und zusammen schaffen wir es tatsächlich. Wir helfen Katniss und Peeta dabei, das Unmögliche zu erreichen: Sie gewinnen die Hunger-Spiele, und für einen kurzen Moment keimt Hoffnung auf. Nicht nur brachen Katniss und Peeta ein Stück Hoffnung ein sondern auch in den anderen Distrikten und dies machte es wieder gefährlicher. Ich wusste das Haymitch sich insgeheim freute über den Sieg aber ich wusste auch das er Angst hatte das sich seine Geschichte wiederholte.
Doch dann kommen die 75. Hunger-Spiele – das Jubeljubiläum. Es war ein weiterer Tag in Distrikt 12, einer dieser stillen, trostlosen Tage, an denen der Rauch der Minen die Luft erfüllte und alles grau und stumpf erschien. Ich saß in meinem Sessel, meine Gedanken irgendwo weit weg, als plötzlich das schrille Piepen des Fernsehers die Stille durchbrach. Die ständigen Ankündigungen aus dem Kapitol waren in letzter Zeit häufiger geworden. Das Jubeljubiläum der 75. Hunger-Spiele stand kurz bevor, und ich wusste, dass irgendetwas Besonderes angekündigt werden würde. Ich konnte die Spannung spüren, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Haymitch saß in seinem üblichen Platz am Fenster, eine halb geleerte Flasche in der Hand. Er schien uninteressiert, aber ich wusste, dass er wie immer alles mitbekam. "Schon wieder diese Propaganda", murmelte ich, als das Gesicht von Präsident Snow auf dem Bildschirm erschien, kalt und ausdruckslos wie immer. Er begann seine Rede, die übliche Lobpreisung auf das Kapitol und den Frieden, den die Spiele angeblich bewahren sollten. Meine Augen wanderten ab, aber dann sagte er die Worte, die alles veränderten. "Zur Feier des 75. Jubeljubiläums," begann Snow und zog dabei die Worte genüsslich in die Länge, "werden dieses Jahr die Tribute aus einem ganz besonderen Pool ausgewählt." Ich hörte auf, mich zu bewegen. Mein Magen zog sich zusammen, ein Gefühl der Unruhe kroch meine Wirbelsäule hinauf. Irgendetwas war anders. Haymitch lehnte sich ebenfalls etwas vor, sein Blick nun aufmerksam auf den Bildschirm gerichtet "Dieses Jahr," fuhr Snow fort, "werden die Tribute aus dem Kreis der bisherigen Sieger kommen." Für einen Moment war es, als hätte jemand den Raum in eisiger Stille ertränkt. Die Worte hingen in der Luft, schwer und tödlich. Ich konnte kaum atmen. Meine Gedanken rasten. Sieger? Die bisherigen Sieger? Ich starrte auf den Bildschirm, meine Hände verkrampften sich um die Armlehnen des Sessels, während sich die Wahrheit langsam in mein Bewusstsein bohrte. Haymitch war sofort auf den Beinen, die Flasche in seiner Hand fiel zu Boden und zerbrach, doch er beachtete es nicht. Schneller als ich gucken konnte rannte ich ins Bad und übergab mich. Haymitch stand hinter mir und strich mir über den Rücken "Das ist ein Scherz, oder?" murmelte ich, meine Stimme klang hohl und fremd in meinen Ohren. "Nein", antwortete Haymitch, seine Stimme war rau, seine Augen fast schon Schwarz. "Das ist ihr Spiel. Ihr verdammtes Spiel." Es traf mich wie ein Schlag in den Magen. Sieger. Es gab nicht viele von uns, die diesen Albtraum überlebt hatten. Und jetzt sollten sie uns erneut in die Arena werfen? All die Jahre, in denen ich versucht hatte, einen Sinn in diesem Wahnsinn zu finden, all die Kämpfe um die Leben der Tribute – und jetzt war klar, dass es nie ein Entkommen gegeben hatte. Sie würden uns immer wieder zurückholen, uns immer wieder brechen "Das können die nicht tun", flüsterte ich, aber ich wusste, dass sie es sehr wohl konnten. Das Kapitol konnte tun, was immer es wollte. Ich sah zu Haymitch hinüber. Er stand da, unbeweglich, sein Blick leer, doch ich konnte den Zorn in ihm brodeln sehen. Die Jahre des Leidens, des Überlebens, des inneren Kampfes hatten ihn hart gemacht, aber das hier... das war anders. Auch er wusste, was das bedeutete. Es war ein Todesurteil. "Verdammt, Snow", flüsterte er, seine Stimme so leise, dass ich sie kaum hörte. "Haymitch..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Gedanken rasten. Wenn das stimmte, bedeutete das, dass Katniss, die Siegerin der letzten Spiele, zurück in die Arena musste. Sie war unsere einzige Hoffnung, der einzige Funke, der dieses System zum Brennen bringen könnte. Aber sie war noch ein Kind. Und Peeta... würde er mit ihr gehen? "Katniss wird..." begann ich, aber ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen. "Sie ist die weibliche Siegerin", sagte Haymitch und ließ sich wieder auf den Sessel fallen. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar, und ich sah, wie seine Fassade langsam bröckelte. "Sie wird zurück in die Arena gehen. Es gibt keine Wahl." Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es gab nur zwei weibliche Siegerinnen aus Distrikt 12. Ich und Katniss. Und zwei männliche. Haymitch und Peeta "Haymitch...", begann ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Das heißt, dass wir auch..." Er sah mich an, und in seinen Augen lag etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Panik. "Nein", sagte er sofort, so entschieden, als könnte allein dieses Wort alles verhindern. "Nein, du wirst nicht zurück in diese Arena gehen. Verdammt nochmal, Laura, ich werde das nicht zulassen." Ich konnte spüren, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, aber ich zwang mich, sie zurückzuhalten. "Aber was, wenn..." "Nein!", wiederholte er, dieses Mal lauter, entschlossener. Er sprang auf und stellte sich direkt vor mich. "Das werden wir nicht zulassen. Nicht für dich, nicht für Katniss. Wir finden einen Weg." Ich wollte ihm glauben. Ich wollte glauben, dass er recht hatte. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es keinen Ausweg gab.
Die 75. Hungerspiele hatten begonnen, und ich saß, wie jedes Jahr, vor dem Bildschirm. Nur diesmal war alles anders. Diesmal kämpfte Katniss in der Arena. Diesmal war Peeta an ihrer Seite. Und diesmal spürte ich ein unruhiges Kribbeln in meinem Magen, das mir keine Ruhe ließ. Es war schwer, zuzusehen, wie sie in die Arena geschickt wurden. Ich hatte gehofft, dass Haymitch und ich sie irgendwie da raushalten könnten, dass es einen Weg geben würde, dieses Todesurteil zu verhindern. Aber das Kapitol war unnachgiebig, und wir waren nur zwei kleine Figuren in einem Spiel, das viel größer war, als wir es je durchschauen konnten. Haymitch saß neben mir, stumm, wie versteinert. Seine Augen klebten am Bildschirm, doch ich konnte die Spannung in seinem Körper spüren. Er hatte etwas vor, das wusste ich. Aber was, das blieb mir verborgen. Er hatte sich in den letzten Wochen immer häufiger zurückgezogen, geheime Treffen mit Finnick und Plutarch gehabt, die er nie wirklich erklärt hatte. Jedes Mal, wenn ich ihn darauf ansprach, hatte er nur mit einem Achselzucken reagiert oder mit einem leisen "Vertrau mir". Doch wie konnte ich ihm vertrauen, wenn ich nicht wusste, was er plante? Das Gefühl, dass er mir etwas verheimlichte, nagte an mir. Aber ich hatte keine Kraft, nachzuhaken. Ich war zu fokussiert auf Katniss und Peeta, auf das, was in der Arena geschah. Die Spiele zogen sich hin, und jedes Mal, wenn Katniss in Gefahr war, hielt ich den Atem an. Peeta tat, was er konnte, um sie zu beschützen, doch die Bedrohungen waren überall. Die Arena selbst war eine Falle, mit jeder Menge tödlicher Überraschungen. "Sie schaffen das", sagte Haymitch plötzlich, seine Stimme leise und fest. Ich wandte mich zu ihm um, überrascht. "Was meinst du? Sie sind umzingelt." Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. "Sie werden es überleben. Vertrau mir." "Vertrau mir." Diese Worte wiederholte er immer wieder, aber diesmal war es anders. Da war etwas in seiner Stimme, eine Sicherheit, die ich nicht verstand. Wie konnte er so sicher sein? Wie konnte er inmitten dieses Chaos so ruhig bleiben?
Die Spiele erreichten ihren Höhepunkt, als Katniss und Peeta sich mit Finnick und Johanna zusammentaten. Die Spannung war greifbar, das Kapitol in Euphorie über die Intrigen und Kämpfe. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Art, wie sie kämpften, wie sie sich organisierten – es war, als folgten sie einem Plan, den ich nicht kannte. Und dann, als Katniss den Blitzableiter aus dem Baum abschoss und das Pfeifen des Pfeils durch die Luft schnitt, brach das Chaos los. Die Arena explodierte in einem grellen Licht, als der Blitz den Stromkreis traf. Der Bildschirm flimmerte und ging aus, und ich saß da, unfähig, zu begreifen, was gerade passiert war. "Was... was ist passiert?" stotterte ich und drehte mich zu Haymitch um. Doch er war bereits aufgesprungen, hektisch hin und her gehend. "Haymitch?" Er antwortete nicht, seine Aufmerksamkeit lag auf etwas anderem. Plötzlich stürzte die Tür auf, und Plutarch Heavensbee trat ein, dicht gefolgt von einem hastig wirkenden Finnick. Beide sahen aus, als wären sie auf einer Mission. "Es ist Zeit", sagte Plutarch knapp. "Wir müssen sie rausholen." "Was? Was meint ihr?" Mein Kopf schwirrte vor Fragen, doch niemand schien mir zuzuhören. Alles passierte so schnell. Haymitch und Plutarch sprachen leise miteinander, als hätten sie das alles schon lange geplant, als wäre das alles Teil eines größeren Spiels. Ein Spiel, von dem ich nichts gewusst hatte. "Wovon redet ihr? Was habt ihr vor?" Ich stand nun ebenfalls, meine Stimme bebte vor Aufregung. Haymitch warf mir einen kurzen, entschuldigenden Blick zu, bevor er sich wieder an Plutarch wandte "Sie holen Katniss raus", sagte er schließlich, als er bemerkte, dass ich Antworten wollte. "Holen sie raus? Wie? Was passiert hier, Haymitch? Du hast mir nichts davon gesagt!" Meine Wut und Verzweiflung wuchsen. "Wir hätten das zusammen machen sollen!" Er seufzte tief und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. "Es war zu riskant, dich einzuweihen. Wenn du es gewusst hättest, wäre alles anders gelaufen. Das Kapitol hätte Verdacht geschöpft." "Verdacht?" Ich war fassungslos. "Du hast mich ausgeschlossen, um mich zu beschützen?" "Ja", sagte er leise. "Und weil du es verdient hast, nicht in diese verdammte Rebellion hineingezogen zu werden. Ich hab' das alles gemacht, damit du sicher bist." Ich konnte es nicht glauben. Ich stand da, während sich die Realität langsam vor mir entfaltete. Während ich dachte, dass ich Teil des Ganzen war, war ich nur eine Schachfigur in einem Spiel, das viel größer war, als ich je geahnt hatte. Und Haymitch hatte mich im Dunkeln gelassen. "Du hast mir nichts gesagt", flüsterte ich, meine Stimme brüchig vor Wut und Enttäuschung. "Wir hätten das zusammen durchstehen sollen." "Ich weiß", sagte er, seine Stimme voller Reue. "Aber du verstehst nicht... ich hätte dich in Gefahr gebracht. Ich wollte dich beschützen." "Beschützen?" Ich lachte bitter. "Das ist nicht, was Beschützen bedeutet. Wir haben uns versprochen, uns alles zu sagen, Haymitch." Er trat einen Schritt auf mich zu, seine Augen flehend. "Laura, hör zu... Ich würde alles tun, um dich zu schützen. Alles. Auch wenn es bedeutet, dir etwas zu verheimlichen. Wenn du das wüsstest, hättest du dich reingestürzt. Und ich konnte das nicht riskieren." Sein Geständnis ließ meine Wut für einen Moment stocken. Ich sah ihn an, versuchte, das alles zu verarbeiten. Und so sehr ich ihn auch hassen wollte, so sehr verstand ich auch, warum er es getan hatte. Doch bevor ich etwas sagen konnte, wurde die Tür wieder aufgerissen, und ein lauter Alarm ertönte. Plutarch warf uns einen letzten Blick zu. "Es ist Zeit." Haymitch nickte, und ohne ein weiteres Wort eilten sie hinaus. Ich blieb zurück, fassungslos und doch wissend, dass ich Teil eines viel größeren Plans war, den ich nie gesehen hatte.
Es ist nicht leicht in Distrikt 13, wo es kaum Rückzugsorte gibt. Doch Haymitch wäre nicht Haymitch, wenn er nicht stur wäre. Er gibt nicht auf und taucht überall auf, wo ich bin. Immer mit diesem Blick, der mir sagt, dass er das alles genauso hasst wie ich. Es dauert eine Weile, aber schließlich gebe ich nach. Ich weiß, dass wir einander brauchen, egal was zwischen uns steht. In der Zwischenzeit beginne ich, Katniss so gut es geht zu helfen. Aber etwas ist anders. Ich fühle mich nicht wie ich selbst. Müde, schwach, und das macht mich nervös. Als ich schließlich nachgehe, was los ist, trifft mich die Wahrheit wie ein Schlag: Ich bin schwanger. Als ich Haymitch davon erzähle, sehe ich den Schock in seinen Augen. Er sagt nichts für einen Moment, einfach nur starrt er mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass die Arena nie existiert hat. "Das..." Seine Stimme bricht, und er setzt sich schwer auf den nächsten Stuhl. "Das war nicht... geplant." "Nein, war es nicht", antworte ich leise und lasse mich neben ihn fallen. "Aber es ist passiert." Wir sitzen da, beide still, beide überwältigt von dem, was das bedeutet. Keiner von uns hatte jemals eine Zukunft geplant. In einer Welt, die von Tod und Zerstörung bestimmt wird, macht man keine Pläne. Aber nun steht dieser unausweichliche Fakt zwischen uns. "Wir werden es zusammen herausfinden", sage ich schließlich, fast so, als müsste ich mich selbst daran erinnern. "Wie alles andere." Er nickt langsam, und ich sehe, wie er innerlich gegen den Impuls kämpft, davon zu laufen. Doch dieses Mal bleibt er.
Nach den explosiven Ereignissen der 75. Hungerspiele und dem anschließenden Krieg gegen das Kapitol vergingen Monate des Chaos und der Ungewissheit. Doch am Ende gewann die Rebellion, und das Regime des Kapitols brach zusammen. Das Land begann sich zu erholen, doch für uns, die Überlebenden der Arena, war der Wiederaufbau eines normalen Lebens viel schwieriger. Haymitch und ich kehrten nach Distrikt 12 zurück. Der Ort war ein Schatten seiner selbst – verbrannt, verwüstet, doch immer noch unser Zuhause. Inmitten der Ruinen fanden wir einen seltsamen Frieden. Der Krieg hatte uns beide verändert, aber auch zusammengebracht. Wir waren durch das Leid und die Verluste verbunden, doch irgendwo in diesem Schmerz hatten wir eine gemeinsame Zukunft gefunden. Unsere Beziehung war nie einfach gewesen. Haymitch war immer noch derselbe sture, verbitterte Mann, den ich Jahre zuvor verachtet hatte. Doch nun, nach all dem, was wir zusammen durchgemacht hatten, war da etwas Neues zwischen uns – ein stilles Einverständnis, ein tiefes Verständnis. Wir sprachen selten über unsere Gefühle, aber es war klar: Wir brauchten einander. Inmitten all der Zerstörung und des Schmerzes war unser Sohn unser Licht, unsere Hoffnung. Wir nannten ihn Daniel, nach meinem Vater, und von dem Moment an, als ich ihn in meinen Armen hielt, wusste ich, dass alles, was wir durchlitten hatten, nicht umsonst gewesen war. Haymitch, der nie gut mit Kindern umgehen konnte, blühte auf eine Weise auf, die ich nie erwartet hätte. Er war fürsorglich, wenn auch etwas rau an den Rändern, aber in Daniels Augen war er der Held. Katniss und Peeta, die ebenfalls ihren eigenen Weg der Heilung suchten, kamen oft zu uns. Sie waren für Daniel wie eine zweite Familie. Besonders Katniss hatte eine enge Verbindung zu ihm. Vielleicht, weil sie verstand, was es bedeutete, die nächsten Generationen zu schützen, nachdem sie selbst so viel verloren hatte. Peeta malte oft Bilder für Daniel, brachte ihm bei, wie man mit Farben spielte und die Welt um sich herum auf eine Weise sah, die nur Peeta konnte. Katniss brachte ihm bei, wie man im Wald kleine Tiere fand oder Pflanzen erkannte. Mit ihnen zusammen fühlte sich unser Leben fast normal an. Distrikt 12 begann sich langsam zu erholen, und während wir noch immer die Narben der Vergangenheit in uns trugen, gaben uns Daniel und die Freundschaft zu Katniss und Peeta einen neuen Grund, weiterzumachen. In dieser zerbrochenen Welt, in der wir so viel verloren hatten, fand sich doch etwas, das es wert war, beschützt zu werden: unsere kleine, zusammengewürfelte Familie.
~4300 Wörter~
Der OS ist für LolaParler
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