Lawinengefahr (Teil 2)
Nur vage registrierte ich, dass ich tief im weichen Schnee lag. Mit jedem meiner zittrigen Atemzüge gerieten eiskalte Flocken in meine Atemwege, brannten die Luftröhre hinab und ließen mich schließlich in einen unkontrollierten Hustenanfall ausbrechen. Die nackte Panik saß mir noch immer allzu präsent in den Knochen, während ich mich mühsam zu einer ruhigen Atemfrequenz zwang. Ängstlich bewegte ich meine Finger und Zehen, dann Arme und Beine, doch alles schien noch dran und einigermaßen unversehrt zu sein.
Mein Kopf hämmerte wie verrückt, als ich ihn ein winziges Stück zur Seite bewegte, um das Gewicht von einer unangenehm pochenden Stelle an der Rückseite zu nehmen. Meine Augen, meine Nase, einfach alle Stellen, an der der Schnee mit nackter Haut in Berührung gekommen war, brannten höllisch, fühlten sich an wie eiskaltes Feuer. Stöhnend versuchte ich, mich in meinem unfreiwilligen Schneebett herumzudrehen, um mich daraus hervor zu kämpfen, fiel jedoch mit einem Ächzen auf den Rücken zurück, als meine Rippen linksseitig mit stechendem Schmerz gegen die Bewegung protestierten.
Fuck.
Für einige weitere Sekunden verharrte ich in liegender Position und versuchte, die grauen Punkte vor und die Feuchtigkeit in meinen Augen wegzuzwinkern, und das unbarmherzige Stechen zu ignorieren, das jeden einzelnen Atemzug begleitete. Nur langsam gewann ich meine Sehkraft zurück, und noch langsamer die Fähigkeit zum geordneten Denken.
Halbdunkel umgab mich. Bewegungslos begann ich, nur mit den Augen meine Umgebung in mich aufzunehmen, registrierte die steilen, hohen Felswände links und rechts, gefolgt von dem beängstigend weit entfernten Tageslicht am oberen Ende, das durch einen schmalen Spalt in der Schneedecke hereindrang. Und natürlich die rauen Mengen an Schnee und Eis, die sich an der rechten Wand schräg nach oben türmten und dort mit der so entsetzlich weit entfernten Kante abschlossen.
Mein Gehirn arbeitete weiterhin zäh, setzte nur schleppend all die Eindrücke wie Puzzleteile zusammen, um sich ein Bild von der Realität zu verschaffen.
Eine Felsspalte. Ich befand mich in einer Felsspalte.
Und ich war nicht tot. Ich war nicht tot.
So wenig ich wusste, wie ich hier jemals hinauskommen sollte, war ich mir doch bewusst, dass mir diese gottverdammte Felsspalte wohl das Leben gerettet hatte. Ansonsten wäre ich vermutlich irgendwo unter drei Tonnen eiskalten Schnees erstickt, bevor mich irgendjemand daraus hätte bergen können.
Gerade als ich in einen erleichterten Heulkrampf ausbrechen wollte, schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf, und im nächsten Moment fuhr ich abrupt aus meiner liegenden Position empor, ungeachtet der kreischenden Schmerzen, die mir in Folge dessen ungeschont durch Kopf und Brustkorb zuckten.
Zayn. Wo war Zayn?
Am liebsten hätte ich mich getreten. Wieso dachte ich erst jetzt daran, dass ich Idiot nicht alleine von der Lawine mitgerissen worden war? War ich wirklich so ein Egoist? Auch wenn Zayn und ich definitiv nicht gerade gut miteinander klarkamen und vermutlich kurz davor gewesen waren, handgreiflich zu werden, schnürte mir die Angst um ihn die Kehle zu.
Okay. Denk nach, Horan. Denk nach.
Kurz vor dem Sturz hatten wir uns unmittelbar nebeneinander befunden, hatten nach einander greifen können, also konnte er nicht weit abgeblieben sein. Erneut spülte eine Welle der Furcht über mich hinweg. Was, wenn er von der Lawine über die Spalte hinweggetragen worden war? Wenn er nun irgendwo unter den Massen der todbringenden Kälte begraben war, ohne Möglichkeit zur Flucht? Wenn er ... tot war?
Heiße Furcht überfiel mich, drohte mich fast zu ertränken. Der Gedanke, dass Zayn, dieser eine Mensch, den ich über Jahre hinweg mit ganzem Herzen geliebt hatte (und es wohl trotz allem immer noch tat), hier und jetzt für immer von mir gegangen sein könnte, war erstickend.
Nein. Auf keinen Fall durfte ich in eine solche Richtung denken. Ich musste positiv bleiben, sonst konnte ich mich auch gleich hier zusammenrollen und tatenlos auf den Erfrierungstod warten.
Irgendwie schaffte ich es, trotz des Schwindels und der grässlichen Schmerzen meiner Rippen auf die Beine zu kommen. Hilflos nach links taumelnd fing ich mich mit der nackten Hand an der eisverkrusteten Felswand ab und musste für einen Moment die Augen schließen. Übelkeit schwappte über mich hinweg und ließ mich die andere, noch behandschuhte Hand auf den Magen pressen, als könnte ich diesen somit daran hindern, hier und jetzt seinen Inhalt preiszugeben.
Erbrochenes war definitiv das Letzte, das ich hier in meinem nächsten Umkreis haben wollte.
Zayn. Ich musste nach Zayn suchen.
Blind tastete ich mich unsicheren Schrittes an der Wand entlang. Immer wieder verhakten sich die Schnallen meiner Skistiefel an einem vereisten Vorsprung, brachten mich gefährlich oft aus dem Gleichgewicht. Die klirrende Kälte war mir längst durch die feuchten Klamotten bis auf die Haut gekrochen und ließ mich hoffnungslos frösteln. Im Gegensatz zum Rest meines Gesichts fühlte sich meine Lippe merkwürdig heiß an, und als ich sie prüfend berührte, leuchteten meine Fingerspitzen danach alarmierend rot. Offenbar hatte ich irgendwann im Verlauf dieses Wahnsinns ein Stück Holz oder einen Eisbrocken ins Gesicht bekommen, ohne es zu registrieren.
„Z-Zayn?" Meine Stimme klang so zittrig wie ich mich fühlte. „Z, bist du hier?"
Mein Mund wurde trocken, als ich keine Antwort erhielt.
„Scheiße." Auf wackeligen Beinen schob ich mich weiter vorwärts, mühsam darauf bedacht, jeden einzelnen Zentimeter mit den Augen zu prüfen, jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen, das mich auf die Anwesenheit einer weiteren Person hinweisen konnte.
Bis mein Blick schließlich auf einen dünnen, länglichen Gegenstand fiel, der am anderen Ende der Felsspalte aus einem Schneehaufen emporragte.
Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag um das Dreifache. Das war ein Skistock. Ganz eindeutig. Trotz meiner miserablen körperlichen Verfassung legte ich noch einen Zahn zu, schleppte mich unter schwerfälligem Ächzen und zahlreichen Verwünschungen zur besagten Stelle hinüber, um dort neben dem aufgetürmten Schnee auf die Knie zu fallen. Und als ich als Nächstes den einzelnen schwarzen Handschuh entdeckte, der seitlich daraus hervorspitzte, war das der Startschuss für mich, um mit fanatischem Graben zu beginnen.
Ungeachtet dessen, wie meine Rippen mich bei jeder einzelnen meiner hektischen Bewegungen empört anschrien, vergrub ich meine Hände immer und immer wieder im verklumpten Schnee, schaufelte ihn wie in Trance zur Seite. Mein Sichtfeld verschwamm vor meinen Augen, als schließlich Zayns dunkelblaue Jacke zum Vorschein kam, und einige Sekunden später sein tiefschwarzer Haarschopf – auch sein Helm schien sich in die Schneemassen verabschiedet zu haben.
Hektisch schob ich den restlichen Schnee von seinem Oberkörper, bevor ich mich über ihn beugte, die Hände behutsam auf seine dick gepolsterte Winterjacke platziert. Er lag vollkommen bewegungslos vor mir, mit geschlossenen Augenlidern und blassen Wangen, im Gegensatz zu denen die tiefrote Platzwunde an seiner Stirn einen fast schon skurrilen Kontrast bildete. Einzelne Bluttropfen waren aus der Wunde geronnen und über seine Schläfe hinweg auf den strahlend weißen Untergrund getropft, wo sie nun den Schnee an den entsprechenden Stellen flammend rot einfärbten.
Der Anblick frisch geronnenen, hellroten Bluts ließ erneut Übelkeit in mir aufsteigen, doch ich schaffte es erneut, mich zusammenzureißen. Wenn Zayn etwas in dieser Sekunde definitiv nicht brauchen konnte, dann war das sein Exfreund, der ihm auf die Brust kotzte.
„Zayn?" Mit vor Anspannung und Kälte bebenden Händen umfasste ich sein Gesicht. „Z. Kannst du mich hören? Hey."
Mit jeder Sekunde, die ohne ein Lebenszeichen von ihm verstrich, wurden meine Bewegungen fanatischer, die in mir brodelnde Furcht übermächtiger. Hektisch warf ich auch noch den zweiten Handschuh von mir, um die nackte Hand zögerlich nach seinem Hals auszustrecken. Bang glitten meine Finger über seine vom Schnee feucht glänzende Haut hinweg, verzweifelt auf der Suche nach jenem gleichmäßigen Pochen, das mir zumindest einen Teil meiner erstickenden Angst nehmen würde.
Ich erstarrte, als meine Fingerkuppen die richtige Stelle fanden – und einwandfrei einen ruhigen, regelmäßigen Pulsschlag wahrnahmen. Schwer atmend ließ ich mich in die Hocke zurücksinken, während der Adrenalinspiegel in meinem Blut nur langsam auf ein normales Level zurückging. Um eine ausgeglichene Sauerstoffzufuhr bemüht presste ich mir die Handballen auf die Augen, als mich unsägliche Erschöpfung zu überwältigen drohte. Meine aufgeschlagene Lippe brannte und fühlte sich merkwürdig klamm an.
Scheiße. Scheiße.
Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich eine derartige Angst verspürt.
Sowohl um mich selbst als auch um Zayn.
Noch nie zuvor hatte ich mich in einer Situation befunden, in der ich ernsthaft damit hatte rechnen müssen, in den nächsten Minuten zu sterben. Auch jetzt, wo keine akute Lebensgefahr mehr bestand, versetzte mich der Gedanke daran, wie knapp wir dem sicheren Tod entronnen waren, in Schreckstarre.
Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln, baten darum, hemmungslos vergossen zu werden, um all die Erleichterung, die Verzweiflung und die Angst hinauszuschreien. Bevor ich mich jedoch dem längst überfälligen Heulkrampf hingeben konnte, riss mich ein Stöhnen aus meinen unschönen Gedanken. Sofort wischte ich mir die salzige Feuchtigkeit von den kalten Wangen und stemmte mich wieder in eine kniende Position, als Zayn vor mir sich langsam zu regen begann.
Seine Augenlider flatterten mehrmals, bevor er sie schließlich unter sichtlicher Anstrengung aufschlug und sein Blick einige Sekunden lang ohne Fokus von einem Punkt zum nächsten huschte. Ich konnte mich nicht daran hindern, ihn ungeniert anzustarren. Das dunkle Schokoladenbraun seiner Iris schaffte es sogar in dieser eiskalten Umgebung noch, jene wunderbare Wärme zu entsenden, die mich bereits bei unserer ersten Begegnung hoffnungslos eingelullt hatte. Auch wenn ich mich dagegen sträubte, konnte ich nicht anders, als in jenem warmen Braun unwillkürlich Trost zu finden, mich davon beruhigen zu lassen.
„Niall." Ächzend stemmte Zayn sich auf die Ellbogen empor und fasste sich an den schmerzenden Kopf, bevor er sich desorientiert umsah. Seine Stimme klang rau, als schabten seine Stimmbänder über frisches Schmirgelpapier. „Wo zur Hölle ... sind wir?"
Verbissen bemühte ich mich darum, meine Erleichterung über seinen wachen Zustand zu verbergen. Unschlüssig, wie ich mich ihm gegenüber nun verhalten sollte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und schob die Hände unter meine Achseln, um sie am Zittern zu hindern. „Felsspalte. Glaube ich zumindest."
„Scheiße." Zayn starrte auf den dünnen Streifen Tageslicht, das durch all den reflektierenden Schnee einen leicht bläulichen Schimmer zu uns hinabsandte. Dann wandte er sich wieder mir zu, um mich eindringlich zu mustern, wobei sein Blick an meiner geplatzten Lippe hängenblieb. „Bist du ... bist du in Ordnung?"
Fassungslos starrte ich ihn an, und für einen Moment fiel all die Anspannung darüber, dass nun ausgerechnet wir beide hier zu zweit festsaßen, von mir ab. „Ob ich in Ordnung bin? Ich bin nicht derjenige, der mit einer gottverdammten Platzwunde am Kopf wie ein Toter in einem Schneehaufen herumgelegen hat!"
Zayn verdrehte doch tatsächlich die Augen und murmelte etwas, das sich verdächtig nach „Dramaqueen" anhörte, bevor er zu einer ernsthaften Erwiderung ansetzte. „Mir geht's gut. Nur aus dem Schnee würde ich gerne raus. Ich spüre meine Zehen kaum noch."
Verwirrt folgte ich seinem vielsagenden Fingerzeig, bis ich registrierte, dass ich ihn nur zur Hälfte ausgegraben hatte – seine ganze Beinpartie war noch unter einer beachtlichen Menge Schnee verschwunden und sorgte vermutlich dafür, dass seine Füße nach und nach einfroren. „Oh. Sorry. Ich war viel zu sehr damit beschäftig, nach deinem Puls zu suchen."
Trotz der Kälte spürte ich zu meinem Ärger, wie mir das Blut in die Wangen schoss, als ich mich eilig daran machte, den restlichen Schnee von seinen Beinen zu schieben. Auf keinen Fall würde ich mir die Blöße geben und meinem Exfreund zeigen, wie sehr ich mich um ihn gesorgt hatte. Schon gar nicht nach unserem neuesten Streit kurz vor der Lawine, der mir wieder einmal bewiesen hatte, dass wir über so viel hätten reden müssen, es aber einfach nie getan hatten.
Warum? Weil jedes Gespräch ungefähr so verlaufen war wie das vorhin. Einfach fantastisch.
„Dachtest wohl, du hättest mich endlich los, was?" Zayns nächste Frage klang mehr wie eine amüsierte Feststellung. Eine Feststellung, deren spöttischer Unterton mir überhaupt nicht gefiel.
Stirnrunzelnd hielt ich inne. „Was soll das jetzt heißen?"
Zayn zuckte die Schultern. „Das wäre dir doch sicherlich ganz recht gekommen. Nachdem du mich ja ohnehin nie wieder sehen wolltest."
Wütend warf ich eine Handvoll Schnee nach ihm, der er durch schnelles Ducken geschickt auswich. „Witzig, Malik. Wirklich witzig. Suhl ruhig weiter in deinem Selbstmitleid, aber verschon mich damit."
„Selbstmitleid?" Zayn schnaubte. „Das hättest du wohl gerne. Und nein, von dir brauch ich auch keins. Genau genommen brauch ich gar nichts mehr von dir."
Okay. Jetzt hatte ich endgültig die Schnauze voll.
Abrupt erhob ich mich. Wut brodelte mir bis zum Hals. „Du brauchst also gar nichts mehr von mir? Schön. Dann schaffst du es sicherlich auch alleine aus diesem Scheißhaufen."
Wie dumm es auf einer Skala von 1 bis 10 war, sich in einer derartigen Notsituation auf einen Streit mit seinem Exfreund einzulassen? So dumm, dass es auf der Skala beim besten Willen nicht ansatzweise erfassbar war.
„Schön", gab Zayn gleichermaßen patzig zurück. „Keine Sorge, dieses bisschen Schnee schaff ich nach dem Höllentrip hierher nun auch noch."
Betont gleichgültig verschränkte ich wieder die Arme vor der Brust und sah scheinbar ungerührt zu, wie er sich ächzend vorbeugte und sich nach dem Schnee auf der unteren Hälfte seiner Beine streckte. Als er einen Großteil davon geschafft hatte, wollte ich mich schon abwenden und nach meinem weggeworfenen Handschuh suchen, um wenigstens eine meiner Hände einigermaßen warmhalten zu können, als mich ein unterdrückter Schmerzenslaut innehalten ließ.
Alarmiert drehte ich mich wieder zu Zayn um, die Hände einsatzbereit erhoben. „Was ist?" Prüfend ließ ich den Blick über ihn schweifen, auf der Suche nach möglichen Wunden. „Bist du verletzt?"
Zayn hielt die Augenlider fest aufeinandergepresst und die Zähne so kräftig zusammengebissen, dass sein Kiefer bebte. Seine eine Hand krallte sich im Schnee fest, während die andere in Richtung seines linken Beins zuckte. „Scheiße", stieß er schließlich hervor. „Scheiße. Ich glaube, mein Knöchel ist tot. So richtig tot. Richtig, richtig tot."
Obwohl ich ihm vor fünf Sekunden am liebsten noch eine reingehauen hätte, meldete sich nun wieder die Sorge zu Wort. Zögerlich kroch ich auf den Knien an seinen linken Knöchel heran und schob den verbliebenen Schnee zur Seite, um den Fuß dann vorsichtig in Augenschein zu nehmen. Natürlich konnte ich als unwissender Laie rein gar nichts dazu sagen, schon gar nicht durch den Skistiefel hindurch. „Kannst du den Fuß bewegen?"
Zayn war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht vor Schmerz aufzuschreien, um einen Kommentar über meine medizinische Inkompetenz vom Stapel zu lassen. „Fuck. Nur ungefähr einen Millimeter. Ich glaube, er ist gebrochen."
Ernüchtert schloss ich die Augen. „Na toll." Langsam massierte ich mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, während Zayn neben mir weitere Verwünschungen murmelte. „Okay. Was ist der Plan?" Noch während ich sprach, tastete ich bang nach meinem Handy – vergebens.
Natürlich. Natürlich hatte ich es verloren. Wie hätte es auch sonst sein sollen? „Hast du dein Handy noch? Bitte sag mir, dass du dein Handy noch hast."
Zayn biss die Zähne zusammen, als er mit zitternden Fingern den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück weit aufzog und in deren Innentasche griff. Sein Gesicht hellte sich merklich auf, als er schließlich sein dunkelblaues Smartphone zutage förderte. „Bingo."
Fast schon strahlend betätigte er den Knopf an der Seite, um das Display zu aktivieren – woraufhin seine Mimik erst in Unglauben, dann Fassungslosigkeit und schließlich in unsägliche Frustration umschlug. „Nein. Nein! Fuck!"
Sämtliche Hoffnung, die sich angesichts des Handys in mir aufzubauen begonnen hatte, fiel augenblicklich wieder in sich zusammen. „Was ist?"
Mein Exfreund mied meinen Blick. „Kein Akku. Hab gestern anscheinend vergessen, es aufzuladen."
Einen Moment lang konnte ich ihn nur anstarren. Dann sickerte langsam in mein Bewusstsein, was das bedeutete. Es bedeutete, dass wir tatsächlich am Arsch waren. Und zwar so richtig. „Ist das dein Ernst?" Meine Stimme war gefährlich ruhig. „Ist das dein verdammter Scheißernst?!"
Zayn ließ knallte das Handy in den plattgedrückten Schnee neben sich, um mich dann verärgert anzusehen. „Sehe ich vielleicht so aus, als würde ich Witze reißen? Mann, Niall."
Zorn kochte in mir hoch. „Komm mir nicht mit Mann, Niall! Weißt du eigentlich, was das hier heißt? Wir sitzen hier fest und keine Sau wird uns jemals finden, weil wir niemandem sagen können, wo wir sind! Wieso kannst du nicht ein einziges Mal an die Sachen denken, die wirklich wichtig sind?"
„Hey!" Auch Zayn hob nun allmählich die Stimme. „Halt lieber mal die Luft an! Woher hätte ich denn riechen können, dass ich ausgerechnet heute in einer gottverdammten Lawine fast krepiere?"
Theatralisch warf ich die Hände empor. „Welcher Mensch vergisst denn, vor einem Tagesausflug im Skigebiet sein blödes Handy aufzuladen? Du hast dich wirklich kein bisschen verändert."
Wut flackerte in Zayns normalerweise so entspannten Gesichtszügen auf. „Was soll das denn nun wieder heißen? Als ob du einen Deut besser wärst, wenn es darum geht, sich an wichtige Dinge oder Termine zu erinnern. Tu doch nicht so, als hättest du die perfekte Organisation am Laufen."
„Das habe ich auch nie behauptet", giftete ich zurück. „Aber es gibt einige bestimmte alltägliche Sachen, an die sich selbst das löchrigste Hirn erinnern könnte. Und sogar die hast du reihenweise vergessen. Ständig. Soll ich dir ein paar davon aufzählen?"
„Tu dir keinen Zwang an." Mein Exfreund funkelte mich an. „Gerade so, als wäre ich ganz allein derjenige gewesen, der unsere Beziehung in die Scheiße geritten hat."
„Wenn du nicht immer so verbohrt und unkritikfähig wärst, hätten wir sie vielleicht noch retten können, da stimme ich dir vollkommen zu." Trotzig reckte ich das Kinn.
Zayn gab ein ungläubiges Lachen von sich. „Verbohrt und unkritikfähig? Mal abgesehen davon, dass es das zweite Wort gar nicht gibt, solltest du vielleicht mal damit anfangen, vor deiner eigenen Haustür zu kehren! Wie oft ich dir schon gesagt habe, dass du deine Klammerei auf ein nicht ganz so erdrückendes Level senken könntest, und jedes Mal bist du einfach in die Luft gegangen. Eigentlich hätte mir schon längst klar sein müssen, dass das mit uns nicht funktionieren wird, wenn ich mit dir nicht einmal zivilisiert über solche simplen Dinge reden kann."
Ich starrte ihn an, sofort im Verteidigungsmodus. „Ich habe nicht geklammert!"
„Und ob du das hast. Unser Nachbar hat sich sonst was gedacht."
„Unser lieber Herr Nachbar hat eher daran gedacht, wie er dich am besten ins Bett kriegt!"
„So ein Schwachsinn. Der war nur freundlich."
„Freundlich, ja klar, Malik. Verarschen kann ich mich selbst." Erbost schnappte ich nach Luft. „Immerhin war nicht ich derjenige, der dir auf Partys ständig hinterhertelefoniert hat, um zu kontrollieren, wo du bist."
Frustriertes Seufzen ließ seine Schultern ein ganzes Stück herabsacken. „Scheiße nochmal, wie oft denn noch?! Ich habe mir Sorgen gemacht! Darf man sich nicht um seinen Freund sorgen, wenn der auch drei Stunden nach der abgemachten Zeit noch nicht vom Feiern nach Hause gekommen ist?"
„Ja. Deshalb wolltest du auch grundsätzlich ganz genau wissen, mit wem ich unterwegs bin."
„Mann, Niall!", schrie Zayn mich plötzlich so laut an, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. „Was für eine Scheiße! Wieso diskutieren wir das überhaupt noch? Das mit uns ist aus und vorbei, daran können wir eh nichts mehr ändern!"
Ich schnaubte. „Ach, hör doch auf! Schlimmer kann das hier ohnehin nicht werden. Es ist schon eine gottverdammte Katastrophe."
Zayn knirschte hörbar mit den Zähnen. „Du hast Recht. Das hier ist eine Katastrophe. Und das Sahnehäubchen ist, ausgerechnet mit dir hier drin festzusitzen. Hätte die Lawine doch besser mal nur mich erwischt. Dann müsste ich mich jetzt wenigstens nicht mit dir herumschlagen und könnte meine letzten Minuten in Frieden verbringen."
Stille machte sich breit.
Einige Sekunden lang konnte ich ihn nur anstarren, und obwohl ich es niemals laut zugegeben hätte, so hinterließen seine unfreundlichen Worte einen schalen Beigeschmack auf meiner Zunge. Verbitterung, die wehtat. Hasste er mich mittlerweile so sehr, dass er sich sogar in einer solchen schrecklichen Lage wünschte, allein zu sein, wenn er die Wahl zwischen mir und überhaupt keiner Gesellschaft hatte?
Ich war wirklich fertig hier.
Das musste und wollte ich mir nicht länger anhören. Er hatte Recht. Wenn wir nun innerhalb der nächsten Stunden sterben sollten, wollte ich diese Zeit nicht damit verbringen, mir von meinem Exfreund gehässiges Zeug vor die Füße schleudern zu lassen.
„Alles klar." Resolut stemmte ich mich aus meiner sitzenden Position empor und trat von ihm zurück. „Ich werde dich nicht mehr behelligen, keine Sorge."
Er seufzte ergeben - offenbar taten ihm seine Worte im Nachhinein leid. „Niall, das ..."
„Fick dich."
Abrupt wandte ich mich ab. Er konnte mich wirklich kreuzweise. Am besten sollte ich mir so weit von ihm entfernt wie nur irgendwie möglich einen Platz in einer Wandnische suchen, mich im Schnee zusammenrollen und seine Anwesenheit ausblenden. Und hoffen, von irgendjemandem gefunden zu werden, bevor wir draufgingen. Das klang nach einem akzeptablen Plan.
Eine Spur zu hektisch machte ich mich an die Umsetzung – und das war mein Fehler. Ich hatte keine zwei Meter zurückgelegt, als mich prompt wie aus dem Nichts eine Welle des Schwindels taumeln ließ. Einen Wimpernschlag später gesellte sich grässliche Übelkeit hinzu, die mich in eine gekrümmte Haltung zwang und meine Hand in Richtung meines Magens schießen ließ. Blind tastete ich mit der anderen Hand nach der eisverkrusteten Felswand, um mich auf den Beinen zu halten, um irgendwie wieder Herr über meinen Körper zu werden.
„Niall?" Nur schwach drang Zayns Stimme in mein Bewusstsein. „Alles in Ordnung?"
Ich kniff die Augen zu, bis weiße Blitze vor den geschlossenen Lidern zu tanzen begannen. Ich wollte antworten, doch jeder tiefere Atemzug stach plötzlich so sehr, dass mir die Luft wegblieb. Mich um eine flachere Atmung bemühend beugte ich mich noch weiter vor, einen Großteil meines Körpergewichts auf die Wand neben mir abwälzend, obwohl deren lähmende Temperatur sich binnen Sekunden durch den Stoff meiner Jacke fraß.
Vage hörte ich Zayn hinter mir fluchen, gefolgt von dem Rascheln von Kleidung und einem Schmerzenslaut – offenbar mühte er sich damit ab, trotz seines vermutlich gebrochenen Knöchels auf die Beine zu kommen.
Mein Magen fühlte sich an, als wäre er dabei, munter einen Salto nach dem anderen zu vollführen. Oh nein. Auch jetzt würde ich auf keinen Fall kotzen. Niemals.
„Niall!" Allmählich klang Zayn wirklich panisch. „Sag schon, was los ist!"
Fast hätte ich gelacht. Er machte sich also wirklich Sorgen um mich? Das waren ja ganz neue Töne. Ich beschloss, ihn zu ignorieren. Sprechen wäre gerade sowieso ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, angesichts dessen, wie mein Magen gerade darauf pochte, unbedingt nach außen entleert zu werden.
Mithilfe langsamer, flacher Atemzüge brachte ich es schließlich auf die Reihe, die Übelkeit auf ein erträgliches Level hinabzudämpfen und das schwindelerregende Drehen in meinem Kopf unter Kontrolle zu bringen. Vorsichtig verharrte ich noch einige Momente in Schonhaltung, bevor ich mich wie in Zeitlupe in eine einigermaßen aufrechte Position zwang. Die linke Seite meines Brustkorbs pochte unerträglich, sandte in einem fort Schmerzwellen durch meinen Körper, die nun glücklicherweise an Intensität abzunehmen schienen.
Scheiße.
Hatte ich mir bei der Kollision mit dem Felsen (oder was auch immer es gewesen war) innere Verletzungen zugezogen? Oder eine Rippe gebrochen, die nun irgendwelchen anderen inneren Organen in die Quere kam? Was auch immer es war, es tat höllisch weh.
Ich spürte Zayns eindringlichen Blick auf mir brennen, als ich mich rücklings an der Wand hinabgleitend in eine sitzende Position sinken ließ, sorgsam darauf bedacht, keine zu plötzlichen Bewegungen mehr zu machen.
Mein Exfreund atmete hörbar ein paar Mal tief durch und räusperte sich, bevor er mit belegter Stimme wieder das Wort ergriff. Er saß inzwischen fast aufrecht an die Wand gelehnt da, beide Hände um den Oberschenkel seines verletzten Beins geschlossen, die Augen starr auf mich geheftet. „Bist du in Ordnung?"
Ich mied seinen Blick, reagierte aber mit einem knappen Nicken.
War ich in Ordnung? Vermutlich nicht. Aber was wollte man auch erwarten, wenn man von einer Lawine erst wild durch die Weltschicht und dann in eine metertiefe Felsschlucht geschleudert wurde? Wir hatten beide unfassbares Glück, keine ernsteren Verletzungen davongetragen zu haben.
Sofern es keine ernsteren Verletzungen waren.
Vorsichtig betastete ich mit den Fingern die Stelle am untersten Rippenbogen, von der der größte Schmerz auszugehen schien, und zuckte zusammen, als die kleine Berührung ein grässliches Pochen durch meine gesamte obere Bauchgegend sandte.
Am liebsten hätte ich sofort die Jacke aufgerissen und die Kleidungsschichten darunter emporgezogen, um die Stelle in Augenschein zu nehmen, doch als ich kurz zu Zayn hinüberschielte, bemerkte ich, dass er mich noch immer mit Argusaugen beobachtete. Auf keinen Fall würde ich mir die Blöße geben und ihm zeigen, dass mir etwas zu schaffen machte. Demnach biss ich einfach die Zähne zusammen, lehnte mich mit geschlossenen Augen an die Wand zurück und bemühte mich um bestmögliche Bewegungslosigkeit.
Was wohl mit Harry, Louis und Liam war? Waren sie auch in die Lawine geraten oder hatten sie sich noch in Sicherheit bringen können? Die Unwissenheit war quälend. Und das Zweitschlimmste war, dass wir absolut keine Handlungsoptionen hatten. Eigentlich konnten wir nur hier sitzen und darauf hoffen, dass jemand nach uns suchte.
Und uns fand.
Vorsichtig schlang ich mir die Arme um den Bauch, um meine Körperwärme so lange wie möglich bei mir zu behalten, und machte mich so klein wie möglich. Und als sich der Schmerz endgültig auf ein erträgliches, dumpfes Pochen reduziert hatte, stiegen mir jene Tränen in die Augen, die schon von Beginn an darauf gedrängt hatten, vergossen zu werden.
Wir würden hier drin sterben.
Unter anderen Umständen hätte ich mich damit abgemüht, die Wände emporzuklettern, hätte mich durch die Schneemassen gegraben auf der Suche nach potenziellen Höhlen, hätte vollkommen am Rad gedreht, um irgendeinen Ausweg zu finden. Aber so? Wo ich nicht einmal tief Luft holen geschweige denn mich ordentlich bewegen konnte, ohne von einer Schmerzattacke der Hölle heimgesucht zu werden? Keine Chance. Und Zayn war mit seinem gebrochenen Knöchel ebenfalls zu Bewegungslosigkeit verdammt.
Mit diesen wenig erfreulichen Aussichten zog ich mir die dünne Kapuze meiner Skijacke über den Kopf, den schneeverkrusteten Schal über die Nase und meine Beine noch ein zusätzliches Stück näher an meinen Körper. Einerseits, um den letzten Rest der Wärme noch irgendwie bei mir zu behalten, andererseits, um meine Verzweiflung und die verräterischen Tränen vor Zayn zu verbergen.
Beides mit nur mäßigem Erfolg.
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I'm sorry °-°
Extrem unauffällige Eigenwerbung: Meine neue Story "Flat Mates" (Narry) hat nun endlich das erste Kapitel erhalten ^-^ Herzliche Einladung hihi.
"The Spy" (Ziall) ist seit heute abgeschlossen *-*
Vielen lieben Dank für all eure Kommis und die Sternchen! *Hundeblicksmiley* Ich habe mich irre gefreut *-*
Vielleicht kommt morgen gleich noch der letzte Teil, aber wenn nicht und wir uns auch anderswo nicht mehr lesen: GUTEN RUTSCH INS NEUE JAHR! <3
So. Update-Marathon beendet.
Liebe Grüße! :))
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