Entführt (Teil 4)
Beinahe bedächtig schritt ich über den riesigen Schotterplatz auf das ebenso riesige Gebäude zu, in dem vor vielen Jahren einmal ein verheerender Brand gewütet und jegliche Inneneinrichtung restlos zerstört hatte. Seitdem stand es da und niemand scherte sich darum.
Zögerlich blieb ich mitten auf dem Platz stehen. Sollte ich wirklich so nahe an die Tore herangehen? Dann wäre es ein Leichtes, mich einfach hineinzuzerren und ich hätte keine Fluchtmöglichkeit.
Okay, überzeugt, ich blieb hier.
Die Erpresser ließen nicht lange auf sich warten. Nach einigen zäh dahinfließenden Minuten raste ein Wagen mit röhrendem Motor die Einfahrt herunter und hielt ein paar Meter vor mir an, sodass mir der direkte Weg zur Straße eindeutig versperrt war. Na toll. Ich umklammerte den Griff des Koffers, als zwei der Türen geöffnet wurden und drei Personen ausstiegen. Eine von ihnen wurde von einer Größeren am Arm festgehalten.
Niall. Alles in mir schrie nur so danach, auf ihn zuzulaufen und ihn zu küssen, oder wenigstens zu umarmen, aber das Messer in der Hand des einen Mannes hielt mich unweigerlich von meinem Vorhaben ab. Wie auch im Video trugen die beiden Sturmhauben – der Größere hatte das Messer, während der Kleinere damit beschäftigt war, Niall zurückzuhalten.
„Hi, Liam!" Begrüßte mich der Größere gut gelaunt.
Stirnrunzelnd kramte ich in meinem Gedächtnis. Diese Stimme kam mir bekannt vor, aber mir wollte nicht einfallen, woher.
„Ich sage dir kurz, wie es ablaufen wird. Du kommst mit dem Koffer herüber und stellst ihn neben dem Wagen ab. Dann lasse ich Blondie los und er kann hingehen, wo er will. Kapito?"
„Erst Niall." Meine Stimme war überraschend fest. „Sonst bekommt ihr gar nichts."
„Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, mir Befehle zu erteilen." Er winkte seinem Kollegen. „Komm, wir fahren wieder."
Als sie tatsächlich Anstalten machten, wieder einzusteigen, schnellte ich einen Schritt nach vorne. „Stopp! Ich mach es." Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Niall den Kopf schüttelte, doch ich ließ mich nicht beirren und setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich nur noch einen Meter von den dreien entfernt war.
„Komm noch weiter her, Junge", schnurrte der Messertyp, ohne mich anzusehen.
Fuck. Das würde nicht gut enden. Ich überbrückte den letzten Abstand, ließ den Koffer zu Boden fallen und wollte schnell nach Nialls freien Arm greifen, doch bevor ich überhaupt einen Muskel rühren konnte, schnellte der Mann mit dem Messer vor, schlang einen Arm um meinen Hals und zog mich auf die offene Wagentür zu.
Shit! Fluchend stemmte ich mich in den Boden, schaffte es, uns herumzuwirbeln, sodass wir beide zu Boden gingen und ich zu meinem Pech direkt unter ihm landete.
Nie in meinem ganzen Leben hatte ich eine solche Panik verspürt.
„LOUIS! HARRY!", brüllte ich in die Richtung, in der ich meine Freunde vermutete und im nächsten Moment knallte etwas, als wäre jemand auf die Motorhaube des Wagens gesprungen. Ein schneller Blick zur Seite bestätigte mir, dass Louis eben Huckepack auf die Schultern des anderen Mannes gesprungen war, während Harry die Fahrertür aufgerissen hatte und dem Typen dahinter nun einen einwandfreien Schlag ins Gesicht versetzte. Dann zerrte jemand an dem Mann über mir und für einen Augenblick sah ich einen blonden Schopf hinter ihm auftauchten. Niall schaffte es tatsächlich, ihm irgendwie das Messer aus der Hand zu winden und es außerhalb seiner Reichweite zu befördern, bevor er sich verbliebenen Kräften gegen ihn warf und im nächsten Moment auf seinem Bauch saß. „Sie Arschloch!" Er zielte nach seiner Schläfe. „Das war für Liam!" Der nächste Schlag galt seinem Kiefer. „Und das für alles andere!"
„Niall!" Ich zog ihn von seinem bewusstlosen Entführer herunter. „Hör auf. Er ist es nicht wert."
Er starrte mich für einen Moment ungläubig an, dann entschlüpfte ihm ein Schluchzer, bevor er sich auf mich stürzte und die Arme um mich schlang, als ob er mich nie wieder loslassen wollte. Ich drückte ihn an mich und vergrub die Nase in seinem Haar. „Gott, ich bin so froh, dass es dir gut geht."
Viel zu früh löste er sich wieder von mir und sah mich mit glänzenden Augen an. „Willst du wissen wer er ist?" Seine Stimme war so voller Hass, dass ich zusammenzuckte, obwohl er nicht gegen mich gerichtet war.
Niall bückte sich zu dem Bewusstlosen hinunter und zog ihm mit einem einzigen Ruck die Haube vom Kopf.
Ein erschrockenes Keuchen bahnte sich den Weg durch meine Kehle, als ich Ken, den Interviewer von gestern erkannte. „ER?!"
Niall sah mich mit matten Augen an und nickte. „Ja, ER. Als ich versucht habe, nach dem Video abzuhauen, hab ich ihm eher aus Versehen die Mütze heruntergerissen und ihn natürlich sofort erkannt." Er stockte. „Darauf hat er irgendetwas gelabert, dass er mich nun nicht mehr gehen lassen könne, weil ich sein Gesicht gesehen habe und ... Scheiße, Mann, ich hatte so Angst, dass sie mich umbringen."
Mein Herz schien in kleine Einzelstücke zu zerbrechen, als ich ihn kurzerhand in eine weitere Umarmung zog. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass irgendetwas an diesem Typen faul war, aber mit sowas hatte nicht einmal ich gerechnet. Dieser Arsch. Wer weiß, was er sonst noch vorgehabt hätte ...
In diesem Augenblick brauste ein zweiter Wagen heran, gefolgt von drei Polizeiautos mit Blaulicht. Aus dem ersten sprang ein aufgelöster Paul heraus, der sofort auf uns zusprintete, kaum dass er uns erspäht hatte. „Jungs!" Er entdeckte Niall in meinen Armen. „Lieber Himmel, geht es euch gut?!"
Harry und Louis, die den kleineren Mann am Boden festhielten, gaben einen Daumen nach oben, während ich ihm zunickte.
Schweigend sah ich zu, wie die Polizisten die drei Männer packten und in den Dienstwägen verfrachteten, was erstaunlich leicht ging, da zwei von ihnen augeknockt waren. Der Fahrer hatte mit dem Gesicht nach unten auf dem Lenkrad gelegen und Ken wie eine besonders hässliche Stoffpuppe am Boden. Mir entgingen die verwunderten Blicke nicht, die man uns zuwarf, bis Paul die Frage aussprach, die allen auf den Lippen zu liegen schien. „Ihr habt ... alleine diese drei Männer überwältigt?"
Wir sahen uns an und konnten ein halbherziges Grinsen nicht unterdrücken, als wir unisono nickten.
„Ihr spinnt", kommentierte Paul. „Das war saugefährlich, was ihr euch da geleistet habt. Es hätte sonst was passieren können."
„Genau, hätte." Louis klatschte in die Hände. „Wenn Niall nicht einen plötzlichen Energieschub gehabt hätte, hätten die uns ohnehin plattgemacht."
Bei der Erinnerung, wie sich Niall furiös auf Ken gestürzt und ihn mit einem Schlag in die Ohnmacht befördert hatte, musste ich tatsächlich grinsen und legte wieder einen Arm um ihn. „Tja. Nialler hat eben doch verborgene Kräfte."
Nach Stunden endloser Polizeifragen und Sicherheitsvorkehrungen, saßen Niall und ich zu zweit in einer angenehmen Dunkelheit auf der Dachterrasse unseres Hotels und betrachteten die Sterne, die heute nach gefühlten Ewigkeiten des Regenwetters wieder zwischen den Wolken hervorspitzten.
Dann fiel mir etwas ein. „Ich hab noch was für dich." Ich kramte sein altes Handy aus der Hosentasche, das mir einer der Polizisten nach der letzten Befragung gegeben hatte – offenbar hatten sie es einem der Entführer abgenommen – und reichte es ihm. „Du wirst es sicher wiederhaben wollen, immerhin sind ... wichtige Sachen gespeichert." Es kostete mich einige Mühe, den letzten Satz herauszubringen, schaffte es aber trotzdem nicht, Zayns Namen über die Lippen gelangen zu lassen.
Niall erst mich an, dann das Handy, und dann wieder mich, bevor er das Gerät nahm und aufstand. Ich wollte schon traurig seufzen, weil ich damit rechnete, dass er es jetzt sicher unten in seinem Zimmer verstauen würde, doch zu meiner Verblüffung holte er aus – und schleuderte es über das Geländer gen Himmel.
Mit großen Augen starrte ich ihn an, während er sich seelenruhig wieder neben mich setzte und meinen Blick lächelnd erwiderte. „Ich brauche es nicht mehr. Ich liebe ihn schon lange nicht mehr. Es war mir vielleicht nicht bewusst, aber es ist so. Ich hatte die vergangenen vierundzwanzig Stunden ja genug zeit zum Nachdenken." Der letzte Teil klang so bitter, dass ich ihn am liebsten nochmal an mich gezogen hätte, aber ich war noch viel zu überrumpelt von der Aktion von vorhin.
„Ich dachte mir, du brauchst eine Erinnerung an die wichtigste Person in deinem Leben", murmelte ich, ohne Niall anzusehen.
Ich spürte seinen Blick auf mir, als er sanft antwortete:„Wieso sollte ich eine Erinnerung in Form von Fotos brauchen, wenn ich diese Person jeden Tag sehen kann?"
Er deutete den Hä?-Ausdruck auf meinem Gesicht richtig und seufzte. „Liam ... als der Typ dich zu Boden gerungen hatte, und dabei noch immer das Messer in der Hand hielt ... ich dachte, er bringt dich um." Seine Stimme zitterte leicht. „Ich glaube, in dem Moment hab ich begriffen, wer mir wirklich am wichtigsten ist."
Endlich wagte ich ihn anzusehen, brachte aber kein Wort heraus.
Niall lachte leise. „Sieh mich nicht so an wie ein Fisch auf dem Trockenen." Er knetete nervös die Hände. „Danke übrigens auch nochmal für die Rettung."
„Hättest du auch für mich gemacht." Ich räusperte mich leise und griff nach seiner Hand, um sie sanft zu drücken. „Niall, ich ..." Ich brach ab. War das der richtige Zeitpunkt? Immerhin hatten wir ihn gerade aus den Fängen von gewalttätigen Entführern befreit, da sollte er sich nicht auch noch mit Problemen DIESER Art herumschlagen müssen.
Er sah mich fragend an, aber ich glaubte in seinen Augen so etwas wie Hoffnung aufblitzen zu sehen, die mich trotz der unpassenden Umstände darin bestärkte, weiterzusprechen. „Darf ich dir schnell etwas zeigen?"
Als er nickte, legte ich ihm eine Hand an die Wange, sodass er mir sein Gesicht zuwandte. Sofort zogen mich seine blauen Augen in den Bann, in denen sich der Sichelmond widerspiegelte, der über uns am Himmel stand. Langsam neigte ich mich zu ihm hinüber und tat das, was ich seit über fünf Jahren tun wollte, wovon ich all die Jahre geträumt hatte: Ich küsste ihn.
Zuerst schien er überrascht zu sein, doch gerade als ich mich verlegen wieder zurückziehen wollte, fanden seine Hände ihren Weg an meinen Oberkörper, als er begann, den Kuss zu erwidern.
Ich spürte Wärme in mir aufwallen. Nie hätte ich gedacht, jemals den Jungen küssen zu können, den ich seit Ewigkeiten im Stillen anhimmelte, in den ich schon so lange verliebt war, dass es beinahe wehgetan hatte.
Lächelnd brach er den Kuss und betrachtete mich mit funkelnden Augen, in die nun endlich das Leben zurückgekehrt war. „Du ..."
„Niall?"
„Hm?"
„Ich liebe dich."
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Endlich - Teil 4. Ich wollte eigentlich viel früher updaten, aber aaaarrrghhh ich hab im Moment so viel um die Ohren -.-
Ich will gar nicht lange labern - lasst mir doch ein kleines Vötchen (wobei die alle gleich groß sind, aber okay xD) und ein kleines Feedback(chen) da, ich freu mich so dermaßen darüber! <3
Bis zum nächsten One Shot!
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