Vielleicht
"But here's my number, so call me, maybe
It's hard to look right at you, baby
But here's my number, so call me, maybe"
Manchmal geschehen Dinge, mit denen man im Leben nicht gerechnet hat. Zum Beispiel, dass man vollkommen in schwarz gekleidet, mit der Kapuze oben und Kopfhörern in den Ohren in der hintersten Ecke eines nahezu leeren Cafés angesprochen wird.
Der Typ vor mir sieht hübsch aus in seinem dunkelblauen offenen Hemd, unter dem er ein weißes Tanktop trägt und die weiten, an den Knien zerrissenen Jeans sitzen verdammt gut. Seine Lippen sind zu einem frechen Grinsen geformt und blonde Locken hängen ihm in die Stirn. Selbstsicher fährt er mit einer Hand durch seine Haare und unwillkürlich frage ich mich, ob sie sich genau so weich anfühlen, wie sie aussehen.
„Hey", formt sein Mund und ich ziehe mir höflichkeitshalber die Stöpsel aus den Ohren.
Eigentlich habe ich keine Lust auf ein Gespräch mit einem wildfremden Kerl, auch wenn er wirklich gut aussieht, aber ich verschanze mich schon die ganzen Sommerferien in meiner Wohnung oder hier, weswegen ich über meinen Schatten springe und mit einem 'Hi' antworte.
„Darf ich mich zu dir an den Tisch setzen?", fragt er und ich nicke zögerlich. Seine Stimme hört sich rau an und so, als ob er rauchen würde. „Ich heiße Domenic. Wie ist dein Name?"
Ist der Kerl hier, weil er sonst keine Freunde hat? Ist es sein Hobby einsam aussehende Menschen anzusprechen? Ich bereue es jetzt schon, ihn nicht einfach ignoriert zu haben.
„Kian", sage ich knapp und widme mich wieder meinem Laptop, der vor mir auf dem Tisch steht.
Eigentlich habe ich mich hierher verzogen, um ungestört schreiben zu können. Der Nachbar unter mir hat eine Rockband, die jeden Tag um diese Uhrzeit in seiner Wohnung probt und selbst die besten Kopfhörer können die Gitarrenriffs nicht übertönen. Also gehe ich meistens in dieses Café und versuche mein Schreibziel für den Tag zu erreichen mit einer Tasse Kaffee und manchmal schmuggle ich eine Packung meiner Lieblingscracker hinein.
„Wie würdest du dich selbst beschreiben?", fragt Domenic in die Stille hinein.
Nur das Geräusch der Tasten ist zu hören. Mein Herz klopft bei diesen Worten schneller und ich versuche mir einzureden, dass das nur daran liegt, dass ich mich über diese persönliche Frage aufrege. Dabei finde ich es süß, dass er sich tatsächlich für mich zu interessieren scheint.
„Was denkst du denn?", fordere ich ihn heraus, bevor ich richtig darüber nachgedacht habe.
Mein Blick klebt immer noch auf meinem angefangenen Manuskript, weil ich Angst habe, seinen Augen zu begegnen, wenn ich den Kopf hebe. Alles, bloß das nicht.
„Hmmmmm."
Er lässt sich Zeit.
„Ich wette, du schreibst gerade an einer Arbeit für die Uni und bist nur hierhergekommen, um deine Ruhe zu haben. Vielleicht haben deine Mitbewohner zu laut Sex oder weigern sich, ihre Musik leiser zu hören. Du bist Student, Kaffeetrinker, Kapuzenträger und gegenüber allen respektvoll. Du bist ziemlich verschlossen, doch wenn du andere an deinen Gedanken teilhaben lässt, sind sie erstaunt, was für tiefsinnige Überlegungen du tätigst.
Reden ist nicht so dein Ding. Alle Worte, die deinen Mund verlassen, sind gut durchdacht und keins zu viel. Du liebst es allein zu sein, auch wenn Einsamkeit eines von den Dingen ist, die du hasst. Schüchtern, introvertiert und nicht daran interessiert, in den Mittelpunkt zu rücken. Talentiert und alles andere als überheblich und arrogant. Neutral und sarkastisch."
Seine Worte hallen in mir nach und ich komme nicht umhin, mich zu wundern, wie er so ins Schwarze treffen konnte. Natürlich passt nicht alles, was er gesagt hat, dennoch liegt er mit vielem richtig. Bevor ich auf seine Worte reagieren kann, erscheint Domenics Hand in meinem durch die Kapuze eingeschränktes Sichtfeld und klappt den Laptop zu.
„Möchtest du mir nicht mal in die Augen sehen?", fragt er und sofort erstarre ich. Auch wenn es mein größter Wunsch wäre, seinen Blick einzufangen, könnte ich es nicht.
Weil die Angst zu tief sitzt, auch nach all den Jahren noch. Weil ich immer noch das Gefühl habe, alles zu offenbaren, sobald jemand in meine Augen blickt. Weil jemand das damals schamlos ausgenutzt und mich zerstört hat. Ich möchte mich nie mehr so fühlen. So ausgelaugt und benutzt. Als wäre ich ein längst vergessenes Spielzeug, dass keiner mehr haben will. Ich war schon so oft in dieser Situation, dass mir wie immer ein zynischer Spruch rausrutscht.
„Sagt er zu einem, der nichts sieht." Ich höre ihn scharf die Luft einziehen.
„Du bist blind?", hakt er nach.
„Nein, aber stell dir mal vor, es wäre so."
Domenic schweigt. „Tut mir leid", kommt es einige Sekunden später von ihm. „Ich wollte dir nicht zu nahetreten."
Ich bleibe stumm und hoffe, dass Domenic wieder abzieht.
„Ich liebe die Natur und den Geruch des Waldes", fängt er plötzlich an und mein Herz klopft schneller bei dem außergewöhnlichen Klang seiner Stimme. „Außerdem vergöttere ich meinen Kater und kuschle unheimlich gerne. Ich mag es, auf Partys bis in die frühen Morgenstunden zu tanzen und anschließend mit einem frischen Kaffee vom Späti durch die Straßen zu schlendern. Vor andern gebe ich mich gerne selbstbewusst und frech, doch manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich bin. Ich liebe die Hitze des Sommers, Songs, die etwas in mir berühren, und alte Filme. Männer sind absolut mehr mein Fall als Frauen und besonders anziehend finde ich die, die ich frage, wie sie sich selbst beschreiben würden. Was eigentlich nie geschieht."
Bei seinen letzten Worten spüre ich ein Flattern in der Magengegend.
„Ist das so?"
„Definitiv."
Mein Mundwinkel zuckt und ich wünschte, ich hätte nicht solche Probleme, jemanden an mich heranzulassen. Es fühlt sich falsch an, ihn jetzt noch abzuweisen, ihn zu bitten, mich weiterarbeiten zu lassen, als ob das meine oberste Priorität wäre und ich nicht Interesse an ihm hätte. Aber da ist eine Panik in mir, die mich unruhig werden lässt und mich dazu drängt, so schnell wie möglich das Café zu verlassen und mich in meiner Wohnung zu verschanzen.
„I-Ich muss gehen", sage ich stockend, als ich es nicht mehr aushalte.
Dennoch greife ich kurzentschlossen nach seiner Hand und kritzle mit einem Kugelschreiber meine Nummer darauf. Seine Haut fühlt sich warm an und ein Kribbeln breitet sich dort aus, wo er mich berührt. Ich bin versucht seine Finger mit meinen zu verschränken, doch das schöne Gefühl wird von meiner unfassbaren Angst weggespült und ich entferne mich blitzschnell von ihm.
-
Kaum in meiner Wohnung angekommen, überrollt mich das schlechte Gewissen und ich hoffe inständig, dass sich Domenic bald bei mir meldet. Ich werfe mich auf mein Bett, während meine Gedanken um den hübschen Kerl kreisen, dem ich meine Nummer gegeben habe. Plötzlich vibriert mein Handy und die Nachricht einer unbekannten Nummer wird auf meinem Sperrbildschirm angezeigt. Rasch greife ich nach dem Teil, nur um es im nächsten Moment wieder fallen zu lassen, als hätte ich mich daran verbrannt.
Was, wenn es doch nicht er ist? Was, wenn er mich beschimpft, weil ich am Ende so unerwartet aufgebrochen bin? Was, wenn er mich wieder danach fragt, warum ich ihm nicht in die Augen gesehen habe? Was, wenn er mir nur schreibt, um klarzumachen, dass er kein Interesse mehr an mir hat, falls ich mir das zu Beginn nicht eingebildet habe? Auf der anderen Seite werde ich das nie erfahren, wenn ich die Nachricht nicht öffne. Und das sollte ich wirklich tun. Ich werde schon irgendwie mit der Enttäuschung umgehen können, oder?
Hey Kian,
ich hoffe, ich schreibe an die richtige
Nummer und wirke nicht zu
aufdringlich. Fast hätte ich dich
gleich nach deinem Aufbruch
angeschrieben, aber ich konnte
mich gerade noch zurückhalten.
Aber ich habe echt nicht erwartet,
dass jemals wieder ein Mann mein
Interesse wecken würde. Doch
dann sah ich dich in diesem Café
sitzen und wusste, ich müsste dich
ansprechen. Es war schon im ersten
Augenblick klar. Wenn dich mein
romantisch emotionales
Geschreibsel stört, überlies es einfach.
Tu so, als hätte ich diese Zeilen nie
getippt und abgeschickt. Aber wenn ich
deine Geste richtig interpretiert habe,
wolltest du, dass ich mich bei dir melde.
Und es hat so gewirkt, als wäre das
Interesse nicht nur einseitig. Also
hoffe ich einfach inständig, dass du
antwortest und mir den Wunsch nach
Kontakt und gegenseitigem
Kennenlernen nicht verweigerst.
Hoffnungsvoll,
Domenic
Mein Herz schlägt bei diesen Worten schneller und ich fasse nicht, dass er das geschrieben hat. Dass er so entwaffnend ehrlich war und mich gleich noch neugieriger gemacht hat. Meine Finger hasten über die Tasten, als ich ihm antworte.
Hey Domenic,
eigentlich habe ich nur einen Nachbarn,
dessen Band etwas zu laut probt und
mich aus meiner Wohnung verjagt hat.
Ich studiere zwar, bin aber gerade dabei
mich an einem Thriller zu versuchen.
Mit Aufmerksamkeit habe ich kein Problem,
nur mit Augenkontakt. Ich würde mich
weder talentiert noch schüchtern nennen.
Kian
Fünf Minuten nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, ertönt auf einmal Cry Me a River von Justin Timberlake, der Klingelton meines Handys. Kurz durchzuckt mich die Hoffnung, es wäre Domenic. Es ist unwahrscheinlich, dass er anruft, trotzdem steht sein Name auf dem Display meines Handys und ich drücke nach kurzem Überlegen auf den grünen Hörer.
„Hey", ertönt Domenics Stimme durch das Telefon und eine Gänsehaut breitet sich über meine Arme aus. Seine Stimme ist warm und etwas kratzig und ich hoffe, dass er mir einfach irgendwelche Dinge erzählt, und ich ihm lauschen kann.
„Hey."
„Ich hoffe, ich störe nicht?"
„Überhaupt nicht."
„Gut." Ich höre das Lächeln aus seinem Tonfall heraus. „Danke für deine Antwort. Ich habe mich sehr darüber gefreut." Ein warmes Gefühl durchströmt mich bei diesen Worten und lullt mich ein.
„Kein Problem", antworte ich trocken, woraufhin Domenic lacht. Es ist eine Mischung aus Keuchen und Glucksen und ich hoffe augenblicklich, dass ich dieses Geräusch noch oft zu hören bekomme.
Wir unterhalten uns lange. Sehr lange. So lange, bis es draußen dunkel wird und ich langsam müde werde. Aber es ist wie eine unstillbare Sucht. Seine Worte sind leicht und schweben in meinem Kopf umher, bis sie das Einzige sind, was darin Platz hat. Irgendwann kann ich ein Gähnen nicht mehr zurückhalten.
„Ich glaube, ich sollte langsam mal ins Bett", meint Domenic kurz später. „Morgen muss ich wieder arbeiten."
„O, dann gute Nacht. Schlaf schön."
„Alles gut. Träum was Süßes."
Ich lache und hoffe, dass nicht ich auflegen muss. Wir schweigen und scheinen beide darauf zu warten, dass der andere den roten Hörer drückt.
„Kannst du nicht?", frage ich.
„Mhhh, schreiben wir morgen wieder?"
„Ja."
„Gut." Er hört sich erleichtert an.
„Bis morgen", sage ich, um ihm zu versichern, dass ich nicht einfach verschwinde.
„Bis morgen."
-
Zwei Wochen später
Wie wäre es, wenn wir uns mal auf
einen Kaffee treffen? Ich trage
eine Augenbinde, wenn es dir so
lieber ist. Und wenn du noch nicht
dazu bereit bist, ist das natürlich
in Ordnung. Ich warte auch noch
ein Jahr. Oder zwei.
Ich muss die Nachricht mehrmals lesen, um zu begreifen, was darin steht. Er möchte mich treffen. Ein breites Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und das verräterische Herzklopfen setzt ein. Plötzlich fühle ich mich total kribbelig und will gleich eine Zusage abschicken. Doch dann spüre ich es. Diese unangenehme Emotion, die die Freude schlagartig verschlingt und mich zur Vorsicht zwingt.
Meine Angst ist ein riesiger unbeweglicher Berg. Selbstverständlich möchte ich Domenic endlich noch einmal sehen, aber wie soll das funktionieren? Alles von damals ist immer noch so präsent. Mein praktisch nicht vorhandenes Selbstwertgefühl, meine zerstörten Träume, die zersplitterten Hoffnungen und dieser allumfassende Schmerz. Der, der nicht mit der Zeit verschwindet, sondern sich von hinten anschleicht und dir dann ein Messer in den Rücken rammt. Das Gift davon verbreitet sich in Sekundenschnelle in deinem Körper und nimmt dir den Atem.
Über die Jahre ist es besser geworden, aber es kommt mir immer so vor, als würde der Schmerz nur auf den passenden Moment warten und dann wieder zuschlagen. Ich möchte nicht wissen, wie schlimm der Fall und der darauffolgende Aufprall wäre. Es würde mich zerstören wie noch nichts zuvor. Und das möchte ich nicht.
Ich möchte mich nicht wieder wie damals fühlen, ich möchte mein Selbstbewusstsein nicht wieder vom Boden kratzen und ich möchte nicht wieder mit dem Schmerz konfrontiert werden. Aber was bringt es, wenn ich bis an das Ende meines Lebens vorsichtig bin? Die verpassten Chancen wären nahezu unendlich.
Also tippe ich mit zitternden Fingern nur ein Wort: „Ja".
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