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Harry
Louis' Arm lag um meine Taille, aber ich konnte einfach nicht stillhalten. Wir stellten die Koffer vor der hohen Eingangstür ab. Ich hätte vor Vorfreude auf und ab hüpfen können. Vielleicht tat ich es schon, ohne dass ich es bemerkte.
»Okay, machen wir es kurz.«, eröffnete Louis. »Tschüss.« Er nahm seine Tasche wieder in die Hand und wollte schon die erste Stufe der Treppe hinunter auf die kiesbestreute Auffahrt nehmen, als ich ihn lachend zurückhielt.
»Louis!« An der Hand zog ich ihn wieder zu mir, Niall und Liam hoch. Aber ich trennte mich sofort wieder von ihm, um Liam zu umarmen.
Der zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Ihr wisst schon, dass ihr Sonntag wieder zurück seid..?«
Ich löste mich lächelnd von ihm. »Das sind genügend Tage, um sich zu verabschieden.«
Niall nickte zustimmend. Den ganzen Tag hatte eine ungewöhnliche Sorglosigkeit auf seinem Gesicht gelegen, die ich ihn nie wieder verlieren sehen wollte. Er trat einen Schritt auf Louis zu und zog ihn in eine der wenigen Umarmungen, die ich die beiden teilen gesehen hatte. »Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Louis.«, seufzte er mit so starker Dankbarkeit, dass ich plötzlich begriff. Fast hätte ich mir die Hand vor den Mund geschlagen. Niall glaubte, ich hatte Louis von allem erzählt.
Louis' Blick spiegelte Liams Verwirrung. Glücklicherweise glaubte ich, ebenfalls den Ausdruck zu erkennen, der schon längst aufgegeben hatte, für alle von Nialls Eigenheiten eine Erklärung finden zu wollen.
Allerdings dauerte es nur ein paar Sekunden, um Niall begreifen zu lassen. Sofort ließ er Louis los. Entsetzt drehte er sich zu mir um.
»Harry?«, fragte er fassungslos, aber in einer Lautstärke, die Louis und Liam zum Glück nicht davon abhielt, sich voneinander zu verabschieden, ohne auf uns zu achten.
Ich zog Niall in meine Arme und senkte meine Stimme so sehr, dass niemand außer uns auch nur ein Wort verstehen könnte. »Nicht unter Druck, Ni! Ich sage es ihm, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.« Entschlossen ließ ich ihn wieder los, um ihm zu zeigen, dass das Thema abgeschlossen war.
Es war nicht schwer, ihm anzusehen, wie sehr er meine Entscheidung missbilligte. Aber es war und blieb nun mal meine Entscheidung. Ich bemühte mich, all mein Selbstbewusstsein in meinen Blick zu legen, um Niall zu beruhigen. Und zu meiner Überraschung schien es zu funktionieren. Er nickte, eine stumme Gutheißung. Er war nicht glücklich über die Situation. Aber er akzeptierte sie.
Wieder trat er auf Louis zu. Für einen kurzen Moment hielt ich die Luft an. Aber ich hatte seine Mimik nicht falsch gelesen. »Louis«, er sah ihm fest in die Augen. »Denk immer an das Handy, okay? Wenn irgendwas passiert, dann ruf einfach an. Du wirst es dann wissen.« Niall schien ein Seufzen zu unterdrücken, er lächelte schwach. »Viel Spaß in London.«
Das Handy. Eine weitere Bedingung von Evelyn, der Louis hatte zustimmen müssen. In den Osterferien hatte er zwei Prepaid-Handys mitbringen müssen; eins für Evelyn, eins für uns. Falls irgendetwas passieren sollte. Ich wusste, dass Niall das Internat-Handy die Hälfte der Zeit bei sich haben würde. Nicht zuletzt, weil er wahrscheinlich hoffte, ich würde ihn alle paar Stunden anrufen, um ihm alles Geschehene zu berichten. Auch wenn es schwer sein würde, Evelyn das Handy abzunehmen. Sie hatte heute Morgen zwar nur Romane über ihre französische Verwandtschaft erzählt, aber ich wusste, dass sie nervös war.
»Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde auf keinen Fall mit euch nach London fahren?« Liam zog einen leichten Schmollmund. »Das würde ich jetzt gerne zurücknehmen. Bitte lasst mich mitfahren.«
»Träum weiter«, grinste Louis. Dann hob er zum zweiten Mal seine Tasche hoch. »Okay, genug geredet. Wenn wir zurück sind, haben wir dafür noch genug Zeit. Jetzt geht es los. Kommst du, Harry?«
Ich nickte und warf Niall einen letzten aufmunternden Blick zu. »Bis Sonntag«, verabschiedete ich mich endgültig von ihm und Liam, dann hüpfte ich Louis hinterher die Treppe hinunter. Mein Koffer war zu schwer für drei Tage, das wusste ich.
Ein einziges, schwarzes Auto stand auf der schleifenförmigen Auffahrt. Ich hatte keine Ahnung, wer es dort für uns geparkt hatte, aber jetzt öffnete Louis es mit einem Schwenken der Autoschlüssel in seiner Hand. Ich hätte tanzen können vor Freude.
»Und Evelyn ist wirklich okay damit, dass ich ihr Auto fahre?«, fragte Louis, während er den Kofferraum öffnete.
Ich hob meinen Koffer hinein. »Solange du keinen Unfall baust.«
»Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte.«, sagte Louis trocken und platzierte sein Gepäck neben meinem. Schwungvoll schloss er die Kofferraumklappe wieder.
»Du bist derjenige, der das mit ihr geklärt hat, Louis. Sie wird wissen, was sie tut.« Gegen den dunklen Lack trommelnd schlug ich mich auf die linke Seite des Fahrzeugs und öffnete meine Vordertür. Grinsend ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Gleichzeitig schlossen wir die schweren Türen. »Vielleicht, Lou, hat sie dir das Auto auch nur überlassen, weil sie Angst hatte, dass du es sonst stiehlst.«
Louis verdrehte die Augen, als er den Rückspiegel einstellte. »Wirst du jemals aufhören, darauf zurückzukommen?«
Ich schüttelte spielerisch den Kopf. »Wieso sollte ich? Dass du ein Autodieb bist, war der Hauptgrund dafür, dass ich mich in dich verliebt habe.«
»Schmeichelhaft.«
Ich erwiderte nichts. Von der Seite beobachtete ich Louis dabei, wie er sich auf das Auto einstellte. Es war so ungewohnt, ihn hinter dem Lenkrad eines Autos sitzen zu sehen. Aber es gefiel mir.
»Okay, Harry.«, sagte er nach vielleicht einer Minute. Er steckte den Schlüssel ins Schloss. »Bereit?«, fragte er ruhig. Seine blauen Augen hielten den wolkenlosen Frühlingshimmel in sich. Sein Lächeln war die Sonne. Ich konnte nicht glauben, dass er das alles für mich geplant hatte.
Schnell lehnte ich mich vor und küsste seinen Mundwinkel. Mit ungeduldigen Fingern ließ ich die Metallschnalle meines Sicherheitsgurtes einrasten. »Bereit.«
Mit dieser Antwort startete Louis den Motor. Sein Blick flog über alle Spiegel, obwohl wir die einzigen Menschen in der Einfahrt waren. Dann fuhr er los.
Der Kies unter den Reifen knirschte. Ich drehte mich um und winkte über die Schulter hinweg Liam und Niall am oberen Ende der breiten Treppe, die zur hohen Eingangstür führte.
Mit einem unmöglich zu unterdrückenden Lächeln drehte ich mich zurück und teilte jetzt mit Louis ein Blickfeld; ein langer Kiesweg und ein längerer Weg nach London vor uns.
Louis
»Deine Eltern sind also auf Guernsey? Heute schon? Oder erst ab morgen?«, Harrys Blick klebte am Fenster. Die Außendistrikte Londons waren nicht gerade aufregend, aber Harry konnte die Augen nicht abwenden. Es war niedlich.
Die Frage war verständlich. Jetzt, wo wir schon am Donnerstag unseren Ausflug hatten starten dürfen, war die Zeitplanung ein wenig über den Haufen geworfen worden. Aber glücklicherweise war ich nicht flüchtig gewesen, als ich am Anfang des Jahres den Terminkalender meiner Eltern studiert hatte.
Ich warf Harry einen Seitenblick zu. Er sah entspannt aus, während er mit dem Blick auf die Häuser fixiert auf meine Antwort wartete. Auch aus seiner Stimme hatte ich keine Art von Nervosität oder Panik heraushören können. Konnte Harry die Vorstellung, meine Eltern zum ersten Mal zu treffen, wirklich nicht aus der Ruhe bringen? Meine Eltern, die noch nicht mal von Harrys Existenz wussten.
»Sie sind weg, keine Sorge.«, antwortete ich schließlich. Vielleicht war das ›keine Sorge‹ eher für mich gedacht. »Schon seit Dienstag. Und ja; Guernsey. Keine Ahnung, wer beschlossen hat, irgendwelche Konferenzen auf Guernsey zu veranstalten.«
Harry antwortete nicht. Er war viel zu sehr auf unsere Umgebung fokussiert. Ich konzentrierte mich wieder ganz auf die Straße. Ich mochte es, Auto zu fahren. Evelyns Auto ähnelte dem, in dem ich meine Fahrprüfung bestanden hatte. Das machte es einfach. Ich musste nicht mehr übers Schalten nachdenken.
»Fahren wir am Big Ben vorbei?«, fragte Harry nach einer Weile hoffnungsvoll.
Ich musste ein Lachen unterdrücken. Natürlich war der Westminster Palace eine der ersten Sachen, die Harry sehen wollte. Wenn es nach mir ginge, sollte es für gebürtige Engländer illegal sein, langweilige Sehenswürdigkeiten wie den Elizabeth Tower sehen zu wollen. »Wir fahren nicht durchs Zentrum, Harry. Nicht mit dem Auto.«
»Okay«, seufzte er bereitwillig. »Diese Häuser sind so schön.« Mittlerweile schien er fast wie hypnotisiert.
»Ja. Die schönsten Häuser für die höchsten Mieten im Land. In ganz Europa wahrscheinlich. Obwohl, Paris traue ich noch schlimmere Preise zu.«
»Vielleicht.«, sagte Harry leise, aber ich war mir nicht sicher, ob er mir wirklich zugehört hatte. Es war so surreal, ihn auf dem Beifahrersitz eines Autos in der Stadt zu sehen, in der ich aufgewachsen war. Harry selbst war in einer einsamen Gegend aufgewachsen, eine der wenigen Dinge, die ich wusste. Es würde nie aufhören, mich erstaunen zu können, wie unterschiedlich Harrys und meine Kindheit wahrscheinlich gewesen waren.
»Hey«, sagte ich plötzlich, als mir eine Frage eingefallen war, über die ich vorher noch kein einziges Mal nachgedacht hatte. »Harry. Was willst du eigentlich nach der Schule machen?«, fragte ich ruhig, mit beiden Augen auf dem Auto vor uns. »Du weißt schon«, fügte ich nach ein paar Sekunden der Stille hinzu »ich werde im Tomlinson-Business sein und so weiter. Was sind deine Pläne?«
»Bist du damit mittlerweile zufrieden?«, fragte Harry mit ehrlichen Interesse. Auch leichte Besorgnis konnte ich heraushören. »Deiner Zukunft im Familienunternehmen?«
Ich suchte kurz nach den richtigen Worten. »Ja«, sagte ich schließlich. »Theoretisch bin ich ja schon dabei – auf dem Papier. Und so wird es auch erstmal bleiben. Meine Eltern sind nicht alt, Harry. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich eine ernsthafte Stellung im Unternehmen einnehmen müsste. Bis dahin werde ich herausgefunden haben, wie ich mich am besten integrieren kann. Wir haben in den Osterferien viel geredet. Meine Eltern wissen, dass ich nur an ihrer Seite bin, solange sie mich zu nichts zwingen. Ich werde keine Verpflichtungen haben, bis ich nicht dazu bereit bin, sie auf mich zu nehmen. Ich glaube, ich werde meinen Platz finden.«
Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit lag Harrys Blick jetzt auf mir. Seine Finger streiften meinen Oberarm. »Das freut mich, Lou.«
»Was ist mit dir?« Ich konnte nicht glauben, dass ich Harry nie gefragt hatte. Egoismus würde wohl immer eine meiner Stärken bleiben.
»Ich weiß es nicht.«, gestand Harry nach einer kurzen Pause. Ehrlich überrascht sah ich ihn an. Er hatte sich wieder den Straßen um uns herum gewidmet.
Sonst war Harry immer derjenige von uns beiden gewesen, der einen Plan hatte.
Ich setzte einen Blinker. »Hast du Angst?«, fragte ich so ruhig ich konnte. »Machen deine Eltern dir Druck?«
»Nein.«, antwortete er mit blasser Nachdenklichkeit in der Stimme. »Ich habe keine Angst, schätze ich. Nur Angst davor, dass ich nie finden könnte, was ich machen will.«
»Das kann ich verstehen. Aber du bist zu jung, um dir darüber Sorgen zu machen. Du hast noch so viele Jahre, um das rauszufinden.«
»Sieh einer an«, lachte Harry sanft, »Louis William teilt seine Weisheit.«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Im Ernst, Harry. Mach dir keine Sorgen.«
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Harry nickte. Ich nahm mir vor, nochmal ausführlicher mit ihm zu reden. Es würde ihm sicher helfen. Es wäre allein schon gut für ihn, zu verstehen, was für ein Glück er damit hatte, dass seine Eltern nichts Bestimmtes von ihm erwarteten.
Aber nicht jetzt. Ich brachte das Auto zum Stehen und zog den Schlüssel ab. Harry wandte mir mit fragendem Blick den Kopf zu. Ich nickte.
»Wir sind da.«
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Zeit für eure Theorien.
Auch wenn ich sowas noch nie gefragt habe.
Was ist los mit Harry und seiner Familie?
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