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Harry
Zayn war doch nicht am sechsten Tag der Ferien zurück. Auch niemand sonst, so wie es aussah.
Ich seufzte mit einem Blick auf meinen Koffer, den ich noch nicht wieder ausgepackt hatte. Ich hatte ihn auf Louis' Bett verfrachtet, sobald ich wieder zurück innerhalb dieser vier, wohlbekannten Wände gewesen war, denn so hatte ich Louis' Bett lieber als komplett leer.
Still fragte ich mich, ob wohl Zayn oder Louis zuerst zurück sein würde. Wahrscheinlich Zayn. Ich hoffte wirklich, dass Louis es schaffen würde, seine Eltern zu überreden, dass er direkt nach dem Urlaub zurückkehren könnte. Ich wusste, dass sein Rückflug erst morgen ging, also würde er wohl frühestens übermorgen hier sein. Bis dahin schien es noch eine Ewigkeit zu sein.
Es war draußen längst stockdunkel, auch wenn die Tage langsam deutlich länger wurden. Dafür lag noch immer eine milde Wärme in der Luft. Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen die Wand. Ich war nicht müde, aber es gab einfach nichts zu tun. Zeit war zäh, wenn sie vergehen sollte.
Ich öffnete die Augen wieder und griff nach einem Handtuch. Wenn ich nicht wusste, was ich tun sollte, konnte ich genauso gut schlafen gehen. Meine Träume waren wahrscheinlich spannender, als was auch immer mir im Wachzustand passieren würde.
Natürlich waren die Waschräume leer. Ich putzte nur schnell die Zähne und trottete dann zurück den Flur entlang in mein Zimmer. Ich schlüpfte aus meiner Hose und dann ins Bett. Weil ich wusste, dass ich nicht müde war, schloss ich die Augen und zählte im Kopf meine Atemzüge, bis ich irgendwann eingeschlafen war.
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Ich wachte für meine Verhältnisse ungewöhnlich spät auf. Es war schon nach 10 Uhr, als ich aufstand. Ich zog mir frische Sachen an und griff nach einem Skizzenblock und einem Bleistift. Bis ich Hunger aufs Frühstück hatte, könnte ich mich ein bisschen nach draußen an den See setzen.
Aber ich kam nicht weiter als bis zum Ende des Ganges. Denn überrascht stellte ich fest, dass die letzte Tür nur angelehnt war. Ich klopfte einmal und stieß die Tür dann vorsichtig auf.
Zwischen seinem geöffneten Schrank und Koffer stand Zayn. Er lächelte, als er sah, dass ich es war. »Harry!« Er ließ die Socken in seinen Händen fallen, stieg geschmeidig über seine halbleere Reisetasche auf dem Boden und umarmte mich wie selbstverständlich. Ein wenig perplex erwiderte ich die Umarmung, aber er löste sich wieder von mir. »Ich wusste nicht, dass du schon wieder hier bist, Harry! Ich habe dich nicht gesehen, seit ich angekommen bin, Harry, deswegen dachte ich- Naja, jetzt weiß ich ja, dass du hier bist!« Er klopfte einladend auf die Matratze seines Bettes. Ich setzte mich, noch immer ein wenig überfordert.
»Wie war es bei deinen Großeltern?«, fragte ich und begann mich langsam darüber zu freuen, dass er hier war. Mehr Gesellschaft war schließlich genau das, was ich mir gestern gewünscht hatte.
»Ganz okay«, sagte er und setzte weiter das Ausräumen seines Koffers fort. »Weil das Wetter so gut war, konnte ich die meiste Zeit draußen verbringen. Hast du anstrengende Großeltern, Harry?«
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Es war aber kein Thema, das ich weiter ausbauen wollte. »Wie lange bist du schon hier?«
Zayn warf einen Blick auf die Uhr an seiner Wand. »Ein bisschen über eine halbe Stunde. Ich bin mit Taxi gekommen.« Sein Blick fiel auf den Skizzenblock auf meinem Schoß. »Du wolltest zeichnen gehen, Harry!«, stellte er begeistert fest. »Das ist eine großartige Idee, Harry, lass uns das machen.«
Ich legte meinen Kopf zur Seite und sah ihn nachdenklich an. Zayn war also der Typ Person, der sich selbst zu allen möglichen Dingen einlud. Aber es sollte mich nicht stören, es war wahrscheinlich gut, wenn wir uns ein bisschen unterhalten konnten.
Also wartete ich, bis Zayns Koffer komplett leer war und er ihn unter sein Bett geschoben hatte. Er griff nach einer kleinen, lederverschnürten Mappe und ein paar Stiften. Dann machten wir uns auf den Weg nach unten.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte ich, als wir durch die Eingangshalle vorbei an dem Flur zum Speisesaal gingen. »Also, willst du nicht erst etwas essen?«
Zayn schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe heute Morgen bei meinen Großeltern noch gegessen, bevor ich losgefahren bin, Harry.« Ich schielte in Richtung Speisesaal und überlegte, ob ich nicht mittlerweile vielleicht doch etwas essen wollte. Aber ich sagte nichts und wir verließen das Gebäude durch die hohe Glastür.
Noch stand die Sonne längst nicht an ihrem höchsten Punkt, aber trotzdem streichelte die Wärme meine Haut. Zayn schlug den Weg in Richtung des Cricketfeldes ein, also folgte ich ihm.
»Harry?«, meldete er sich irgendwann wieder zu Wort. »Seit wann kennst du Niall?«
Ich versuchte, aus seinem Gesicht die Intention zu lesen, die in seiner Stimme lag. Vergebens. »Seit wir zwölf sind. Wir haben uns hier am Internat kennengelernt.«
»Und seit wann bist du mit Liam befreundet?«, fragte er weiter.
Ich runzelte leicht die Stirn und versuchte zu erraten, was Zayn so sehr an meinen Freundschaften interessierte. »Noch nicht lange. Liam war mit Lou befreundet, und so hat sich alles irgendwann entwickelt.« Ich ließ weg, dass das erste Mal, dass Liam und ich uns wirklich näher gekommen waren, war, weil wir Nialls und Louis' ›Krieg‹ beenden wollten. Gott, das fühlte sich schon an, als wäre es ewig her.
»Also bist du mit Louis zusammengekommen und hast dich dann auch mit Liam befreundet?«
Ich versuchte, nicht zu zeigen, dass seine Fragen mir langsam etwas unangenehm wurden. Vielleicht, weil ich seine Intention einfach nicht erraten konnte. »Nein, nicht wirklich. Ich hatte mich lange mit Liam anfreunden wollen.«
»Wieso wart ihr dann nicht schon früher Freunde, Harry?« Sein Blick durchbohrte mich förmlich. Ich wandte meinen ab.
»Weil er mich nicht wirklich mochte.«, erklärte ich so knapp wie möglich. »Es war alles ein bisschen kompliziert.« Ich war erleichtert, die Bank am Rande des Spielfeldes zu sehen. Wir setzten uns und ich hoffte inständig, dass hiermit das Gespräch beendet wäre. Entschlossen schlug ich meinen Skizzenblock auf. Doch ich hätte ihn vor Frustration in die aufgewühlte Erde des Cricketfeldes werfen können, als Zayn seine Fragerei wieder aufnahm.
»Also mochte Louis dich als letzter?«, fragte er, ohne seine Stimme zu heben. Es war nicht wirklich eine Frage.
Geschlagen nickte ich. Streng chronologisch war es wahr. Ich zwang mich, meinen Blick auf unsere Umgebung zu richten, um mich zu entscheiden, was ich zeichnen wollte.
»Wieso?«, meldete Zayn sich wieder zu Wort. Er setzte den schwarzen Gelstift in seinen Fingern auf das Papier. »Wieso mochte Louis dich nicht, Harry?«
Ich unterdrückte ein Seufzen. Es fühlte sich so falsch an, mit Zayn über eine Vergangenheit zu reden, die vorüber und überschrieben war. Aber Zayn wirkte nicht wie der Typ Mensch, der schnell aufgab, wenn er etwas wissen wollte. Und lügen hatte keinen Sinn. »Ich mochte ihn auch nicht. Wir hatten unsere Reibepunkte. Louis wurde gezwungen, an diese Schule zu gehen, weißt du? Es war eine Bestrafung. Ich war so ziemlich der erste Schüler, den er hier kennengelernt hat. Noch dazu sein Zimmerpartner, nachdem er siebzehn Jahre lang allein gelebt hatte. Ich glaube, in diesen ersten Momenten hat er alles, was er an dieser unfairen Situation gehasst hat, auf mich übertragen. Und weil er mich gehasst hat, habe ich ihn gehasst. Außerdem war ich verletzt, weil-«, ich biss mir auf die Zunge. So weit hatte ich Zayn eigentlich nicht einweihen wollen.
»Weil was?«, fragte Zayn sofort. Natürlich. »Harry, wieso warst du verletzt? Was hat Louis getan?«
Dieses Mal seufzte ich wirklich. »Er hatte...«, ich zögerte, aber wusste, dass ich Zayn nicht anlügen würde, »homophobe Tendenzen.«
Überrascht sah Zayn mich an. Seine braunen Augen verrieten seine Gedanken nicht, aber die neue Information ließ sie aufleuchten. Was war es? Freude? Wohl kaum. Wut? Ich konnte es nicht sagen.
»Er war homophob.«, wiederholte Zayn langsam. »Arschloch.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Stumm starrte ich auf Zayns schlanke Finger, neben denen meine eigenen blass aussahen. Er hatte ein Recht darauf, verärgert über Homophobie zu sein. Aber ich fühlte mich wie ein Verräter, weil Zayn diesen Louis nie kennengelernt hätte. Die beiden hatten sich hervorragend verstanden; weil Louis jemand anderes geworden war.
»Du solltest ihn nicht so hart verurteilen.«, versuchte ich vorsichtig, ihn zu besänftigen. »Nicht mehr.«
Zayn hörte sich ein wenig ruhiger an, als er weitersprach. »Er sagt, dass er bi ist. In vielen Fällen kommt Homophobie daher, dass man sich selbst etwas verschweigt. Du bist sein erster Freund, Harry, nicht wahr?«
Ich konnte nicht einmal nicken. Glücklich lächelte ich hinab auf meinen Skizzenblock. Louis hatte mir gegenüber noch nie erwähnt, dass er seine Sexualität genau benannte. Bisexuell. Mein Lächeln wurde noch ein bisschen hartnäckiger. Louis hatte ein Label gefunden, mit dem er sich identifizierte.
»Du musst vorsichtig sein mit Jungen wie ihm, Harry.«, sagte Zayn jetzt. Anscheinend störte es ihn nicht, dass ich seine Frage ignoriert hatte. Er wirkte plötzlich wieder sehr leichtherzig. »Ich wurde mal abgezogen von einem, der vorgegeben hat, seine Homophobie längst abgelegt zu haben. Er hat mich geküsst, ich habe mit ihm geschlafen. Es hat sich herausgestellt, dass es eine Wette war. War nicht schön, Harry.« Seiner Stimme war weder Schmerz noch Reue anzuhören.
Ich musterte sein sorgfältig proportioniertes Gesicht. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Zayn auch auf Jungs stand. Ich hatte mir bis zu dieser Sekunde noch keine Gedanken über seine Sexualität gemacht. Und es war schrecklich, dass er ausgenutzt worden war. Aber das hatte nichts mit Louis zu tun, rein gar nichts.
Deswegen hielt ich mich dieses Mal mit meinen Gedanken nicht zurück. »Können wir bitte aufhören, über Louis zu reden?«
»Natürlich«, sagte er, als hätte er nicht bis eben gerade eine Menge Fragen über ihn gestellt. »Wie du willst.«
Ich bedankte mich leise und konzentrierte mich jetzt endlich auf den Bleistift in meiner Hand. Ich wusste, dass Louis jetzt vermutlich gerade auf dem Weg zu irgendeinem Inselflughafen war. In ein paar Stunden würde er wieder Fuß auf englisches Land setzen. Ich vermisste ihn.
Aber jetzt war ich hier, alleine mit Zayn. Und für diesen Moment sollte ich froh sein, dass das unangenehme Gespräch vorbei war. Wahrscheinlich wollte Zayn einfach nur wettmachen, dass er der Neue der Freundesgruppe war und wir anderen schon viel mehr übereinander wussten. Wahrscheinlich hatte er auch etwas Heimweh, ob nach New York, Paris oder London, das konnte ich nicht wissen. Wahrscheinlich hatte er nicht mal etwas gegen Louis sagen wollen. Wahrscheinlich war er einfach nur froh, jemanden zum Reden zu haben.
So wie ich es auch sein sollte.
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