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Louis
Ich hatte es nicht gewollt, und ich bereute es.
Vielleicht hatte es daran gelegen, dass ich zu wenig Schlaf in der Nacht bekommen hatte und von vornherein schlecht gelaunt gewesen war. Vielleicht hatte es an der Menge an Hausaufgaben, dem bevorstehenden Biotest und dem ganzen Stress gelegen.
Ich hatte nicht mit Harry streiten wollen.
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Montage waren selten besonders gute Tage. Aber heute war einfach einer dieser Tage, die komplett zu viel waren. Überladen.
»Noch eine Woche bis zu den Ferien, Louis.«, erklärte Liam triumphierend. »Wirst du bleiben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Meine Eltern haben ein Woche Sardinien gebucht. Und weil ich gerade zum ungefähr ersten Mal in meinem Leben dabei bin, ein gesundes Verhältnis zu meinen Eltern aufzubauen und zu pflegen, werde ich diese Woche mit ihnen verbringen.«
»Das hört sich doch gut an!« Liam grinste mich breit an.
Ich runzelte die Stirn. »Sardinien oder ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern?«
»Beides!« Er ließ den dünnen Bleistift in seinen Händen zwischen seinen Fingern kreisen. »Oder bist du traurig, weil du die Woche lieber mit Harry verbracht hättest?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Harry fährt eh mit seiner Familie nach Wales. Hat Niall mir erzählt. Wir hätten also sowieso nicht zusammen hierbleiben können.«
Liam legte den Kopf kurz schief, dann sah er mich wieder wie vorher an. »Ich fahre einfach nach Hause, aber über Ostern sind wir in Hauts-de-france. Das ist Familientradition bei uns.«
»Ihr fahrt jedes Jahr Ostern nach Frankreich?« Ungläubig sah ich ihn an.
Er nickte, ohne den Bleistift auch nur eine Sekunde lang ruhen zu lassen. »Wir haben ein Haus ganz in der Nähe von Calais. Der Weg ist also nicht mal weit. Können wir jetzt anfangen mit dem Lernen, Louis? Wir können uns wirklich kein Herumalbern mehr leisten. Wir haben das hier lang genug hinausgeschoben.«
Leider wusste ich, dass das wahr war. Verzweifelt stützte ich meinen Kopf in meine Hände. Ich musste unbedingt beginnen zu lernen, aber mein Kopf tat schon weh, wenn ich nur an Biologie dachte. Ich brauchte Schlaf, dringend. Aber noch dringender durfte ich Bio morgen nicht verhauen.
»Du hast recht.« Widerwillig schlug ich meinen Hefter auf. Ich hätte mich übergeben können, als ich meine eigenen Skizzen sah. Ich griff nach einem Stift und begann, eine davon abzuzeichnen.
»Hier«, sagte Liam plötzlich und schob mir sein Buch rüber. Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Was?«, fragte ich etwas barsch, aber ich korrigierte mich nicht mehr. Ich musste mich jetzt konzentrieren.
»Ich dachte, du würdest mich jetzt abfragen.«, Liam rückte das Buch zwischen uns noch ein wenig näher zu mir.
Entnervt schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. »Liam, ich muss lernen!«, sagte ich während ich all meine Sachen zusammenkramte. »Es ist ja schön, dass du schon so gut Bescheid weißt, dass ich dich abfragen kann! Aber ich habe gerade wirklich keine Zeit für dich.« Mir tat es irgendwie leid, dass ich nicht beherrschter war. Aber ich war einfach am Ende meiner Nerven. Schule ist ätzend.
»Louis, hey, tut mir leid. Ich wollte dich nicht zwingen. Setz dich wieder hin, wir können einzeln lernen.« Ich sah Liam an, dass es ihm leid tat, obwohl ich wusste, dass es mir leid tun musste.
Trotzdem schüttelte ich den Kopf. Ich wusste, dass es das Beste für Liam und mich war, wenn er mich jetzt nicht ertragen musste. »Nein, Liam. Ich gehe besser.« Liam sah mir mit fragendem Blick nach, als ich den Raum verließ.
Ich war erleichtert, als ich in der Stille meines eigenen Zimmers war. Doch das hielt nur wenige Sekunden an, denn dann erinnerte ich mich wieder an Bio und meine Laune sank ein nächstes Mal. Wow, mein Leben würde heute wirklich die Hölle sein.
Eine Stunde verging, und ich konnte nicht sagen, wie viel ich bisher wirklich in meinen Kopf bekommen hatte. Das einzige, was ich sagen konnte, war, dass ich noch unendlich viel vor mir hatte. Ich hatte Kopfschmerzen und mir war zu warm. Meine Augen brannten und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich letzte Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte oder daran, dass meine Augen seit einer Stunde diverse Anordnungen derselben verdammten 26 Buchstaben sahen.
Als sich die Tür öffnete und Harry den Raum betrat, wandte ich meinen Blick sofort zurück aufs Blatt. Ausnahmsweise wollte ich ihn nicht sehen. Er erinnerte mich daran, dass er schon vor einer Woche mit dem Lernen begonnen hatte, und es deswegen heute nicht mehr nötig hatte. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Wie läuft es, Lou?«, fragte Harry mit mitfühlender Stimme und stellte mir ein Glas eines dunkelroten Saftes neben die zahllosen Blätter auf den runden Tisch. Vielleicht war es auch Wein. Wie auch immer, ich wollte nichts trinken, das süß war. Das würde meinen Kopfschmerzen garantiert nicht helfen. Wasser wäre wirklich eine bessere Wahl gewesen.
»Hast du auch Wasser?«, fragte ich also ohne große Umschweife.
Harry sah mich mit gerunzelter Stirn an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich wusste nicht, dass du keinen Traubensaft magst.«, sagte er entschuldigend. Kurz zögerte er. »Ich kann Wasser holen gehen, wenn du möchtest..?«
Aber ich stützte nur meinen Kopf in die Hände und seufzte. »Schon gut. Danke.« Ich ignorierte den Traubensaft und widmete mich wieder meinen Aufzeichnungen.
Obwohl ich mich auf meine Schrift konzentrierte, hing meine Aufmerksamkeit unwillentlich an Harry, und den Geräuschen, die er machte, als er sich kurz auf sein Bett setzte, einige Bücher auf seinem Nachttisch umstapelte, um sich dann eines davon zu nehmen und sich damit auf die Fensterbank zu setzen.
Ich atmete frustriert aus. Mir war wirklich zum Heulen zumute. Oder zum Löcher-in-Wände schlagen. Zu allem Übel spürte ich nach einigen Minuten auch noch Harrys Blick auf mir und versuchte, mich davon nicht ablenken zu lassen, aber natürlich funktionierte das genauso wenig wie alles andere heute. Ich erwiderte Harrys Blick grimmig.
»Vielleicht hilft es, wenn du mal eine kleine Pause einlegst.«, sagte er mit leiser Stimme. Ehrlich, ich wollte sein Mitleid nicht. Ich wollte seine Ratschläge nicht. Er war der Intelligentere, schon klar. Aber ich wusste trotzdem besser, was jetzt gut für mich war. Und das war Bio lernen, denn sonst würde der Test eine Menge Schäden anrichten können.
»Ich kann mir keine Pause leisten.« Er sollte das eigentlich verstehen. Zumal ›kleine Pausen‹ bei mir drastisch ausarteten. Disziplinierte Leute wie Harry verstanden das nicht. Und gerade nervte mich das unheimlich.
Harry nickte. Ich sah in seinen Augen, dass er gerne etwas dazu gesagt hätte, mir die Entscheidung aber überlassen wollte.
»Stört es dich denn, wenn ich hier bin?«, fragte er und ich wusste, dass er den Raum sofort verlassen hätte, wenn ich ihn darum bat.
Aber ich schüttelte den Kopf. Harry konnte schließlich nichts dafür, dass wir morgen den Biotest schrieben, und auch nicht, dass ich nicht früher angefangen hatte zu lernen.
Als Antwort auf meine stille Akzeptanz lächelte Harry ermutigend. Dann öffnete er das Buch in seinem Schoß und lehnte sich gegen das vermutlich kalte Fenster, während seine Aufmerksamkeit endlich nicht mehr mir galt.
Ich beugte mich wieder über mein Dickicht an Fachbüchern, Aufzeichnungen und Lernzetteln, und versuchte, mich wieder einzufinden. Schnell begannen sich Zahlen und Namen wieder zu drehen.
Ich zählte in meinem Kopf die verschiedenen Arten weißer Blutkörperchen auf.
Harry blätterte eine Seite seines Buches um.
Ich ordnete nach und nach die Funktionen den Zelltypen zu und versuchte mich an den Unterschied zwischen Mastzellen und Neutrophilen zu erinnern. Es gelang mir nicht und ich musste nachsehen.
Harry blätterte um.
Ich versuchte, nicht auf ihn zu achten.
Ich griff nach einem leeren Blatt und einem Bleistift und malte die Abfolge der Apoptose zum vierten Mal heute auf. Zum vierten Mal heute vergaß ich den Namen des Proteins.
Harry hustete leise.
Perforin, ergänzte ich, geschummelt. Perforin! Perforin! Perforin!!, schrieb ich, um es mir endlich einzuprägen. Ich ertappte mich dabei, wie ich darauf wartete, wieder Harrys Umblättern zu hören. Sofort ermahnte ich mich und starrte wieder auf das widerlich weiße Papier. Meine Augen begannen erneut zu brennen.
Harry blätterte um.
»Weißt du was? Doch!«, fuhr ich ihn plötzlich an, ohne dass ich es selbst erwartet hatte. Aber ich wusste, woher es kam.
Erschrocken sah Harry mich an. »Was?«, fragte er verloren.
»Es stört mich, wenn du hier bist.«, erklärte ich und legte mit zusammengekniffenen Augen meinen Kopf in den Nacken. »Ich kann so nicht lernen, Harry, wieso bist du überhaupt hier?« Ich hob den Kopf wieder, um in sein erschrockenes Gesicht zu sehen. Alles in meinem Inneren fühlte sich heiß und klebrig an.
»Ich bin hier, weil der Gartendienst vorbei ist, Louis.« Ich hörte die Unsicherheit in seiner Stimme, aber im Moment war mir wirklich egal, dass ich mich nicht beruhigen konnte.
»Und da kommst du lieber hier ins Zimmer, um zu lesen, als mehr Zeit mit Niall zu verbringen? Harry, ich weiß doch, wieso du hier bist!« Es fühlte sich an, als würden eine Millionen Finger im Inneren gegen meine Schädelwand klopfen. Ich wollte schreien. Vielleicht schrie ich schon.
Ich wusste, dass Harry überfordert war. Ich sah, dass seine Augen glänzten. Aber ich wollte ihm nicht entgegen kommen. Ich wollte ihn nicht trösten. Gerade jetzt wollte ich ihm einfach nur sagen, was ich dachte.
»Ich bin nicht dämlich, Harry. Du bist hier, damit ich dir mal wieder sagen kann, dass ich dich liebe. Du willst es wieder hören. Aber weißt du was? Es fühlt sich nicht immer so schön für mich an, es zu sagen, wie für dich, es zu hören! Du willst, dass ich dir sage, dass ich dich liebe, während du... mir was sagst?! Dass du mir vertraust! Vertrauen; süß, Harry. Damit kannst du mich eine ganze Weile hinhalten, hm?« Die Worte verließen meinen Mund wie eine Lawine. Mein Gehirn hatte sich vor langer Zeit verabschiedet.
»Weißt du, worum es bei der ganzen Sache geht? Um dich! Natürlich um dich! Ich sage dir, dass ich dich liebe, jedes Mal. Und das nicht nur aus dem Grund, dass ich es tue. Natürlich tue ich es, Harry, natürlich habe ich mich in dich verliebt. Sieh dich an! Aber ich sage es auch, obwohl es wehtut. Ich sage es für dich, weil ich weiß, wie glücklich es dich macht. Verstanden? Es dreht sich um dich! Und was tust du? ›Ich vertraue dir, Louis.‹ Weißt du, wie es eigentlich sein sollte? Wenn das hier fair wäre? Es würde keine Rolle spielen, dass du länger brauchst, um es zu sagen als ich! Bis jetzt hättest du es längst sagen müssen, weil du mich glücklich machen willst. Genauso wie ich dir sage, dass ich dich liebe, obwohl du es niemals erwiderst. Aber vielleicht ist es mir wichtiger, dich glücklich zu machen als andersherum, nicht wahr? Aber, ha, das spielt ja keine Rolle! Ich kann mich so glücklich schätzen, schließlich vertraust du mir!«
Harry stand mir reglos gegenüber, Tränen rollten längst über seine Wangen. Ich spürte, dass auch meine Wangen nass waren, aber ich wollte es nicht mal.
Ich fühlte mich wie in einem Albtraum.
»Louis«, brachte Harry jetzt heraus – und ich hatte seine Stimme noch nie so verletzt gehört. Nie. Gleichzeitig hörte ich etwas, das sich langsam aufbaute, und ich sehr lange nicht von ihm gehört hatte. Wut. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Du weißt, wie viel du mir bedeutest.«
Ich straffte meine Schultern. »Was würde es dich dann kosten, mir zu sagen, dass du mich liebst? Wahrheit oder nicht. Du würdest es für mich tun.«
»Es wäre eine Lüge, Louis.« Die Tränen erstickten seine Stimme. Ich konnte ihm die Anstrengung ansehen, mir jetzt in die Augen zu sehen.
»Na und?«, erwiderte ich, ohne die verschwundene Sensibilität zu vermissen. »Fake it till you make it, oder etwa nicht? Ich müsste es nicht wissen. Ich könnte so glücklich sein, wie du es jetzt bist. Es wäre das Opfer, das du für mich bringst.«
»Du weißt, wie ich mich bei dieser ganzen Sache fühle!« Harrys grüne Augen schienen in dem geröteten Weiß aggressiv herauszustechen. Aber er war nicht aggressiv. Er war nur verletzt. »Du weißt, wie schlecht ich mich gefühlt habe, weil ich deine Worte nicht erwidern kann! Ich kann dir nicht vorwerfen, dass du traurig darüber bist, Louis, aber du weißt, dass du das nicht von mir erwarten kannst! Ich lüge nicht darüber. Ich kann mich nicht selbst belügen.« Er beendete den Blickkontakt. Sein Gesicht war dem Boden zugerichtet. Ich wusste, dass er noch etwas sagen würde.
Seine Stimme war leise und wund, als er es tat. »Und du solltest das nicht von mir verlangen, Louis.«
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Meine Wut war verflogen. Meine Kopfschmerzen pulsierten, aber ich konnte nicht mal daran denken. Ich fühlte mich erschreckend leer.
»Harry«, Ich stand auf, Reue machte meine Beine schwer. Ich sah meine hitzigen Worte in Harrys Tränen auf seinen Wangen und in seinen Augen brennen. Aber Harry schüttelte den Kopf. Seine Finger krallten sich in seine Handflächen.
»Es tut mir leid, wenn ich nicht die nötigen Opfer bringe, Louis.«, würgte Harry emotionslos heraus, während die Tränen noch immer von seinem Gesicht liefen. Er schob sich an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Ein Schluchzen begleitete ihn auf den Flur. Die Tür fiel weder laut noch leise zu.
Verzweifelt sah ich ihm hinterher. »Fuck.« Ich vergrub die Hände in meinen Haaren und sank kraftlos zurück auf meinen Stuhl. Ich hatte all diese Dinge nicht sagen wollen. Ich hatte sie nicht gemeint. Das war das Schlimme. Harry hatte gemeint, was er gesagt hatte. Was bedeutete, dass meine Worte ihn wirklich verletzt hatten.
Fast noch schlimmer war, dass ich Harry jetzt nicht folgen konnte. Harry war nicht gegangen, damit ich ihm hinterherrannte. Er war gegangen, weil er weg von mir wollte. Weg von mir. Schmerzhaft biss ich mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Unterlippe und die nassen Wangen.
Harry hatte sich immer gewünscht, mein London-Ich kennenzulernen. Es brauchte nicht mehr als eine beträchtliche Menge Druck, Stress, idealerweise Schlafentzug und ein bisschen Pech.
Jetzt er es kennengelernt.
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Lieblingslied von Fine Line?
Ich habe an diesem Wochenende so viel Schlaf für Harry verloren, aber Fine Line war es 1000% wert (und sogar die katastrophale Organisation von One Night Only, obwohl ich dafür von 4 bis 7 Uhr wach war, danke hshq)
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