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Harry
»Dürfen wir das eigentlich?« Louis zog sich einen dicken Pullover über den Kopf. Seine Haare standen in alle erdenklichen Richtungen ab und beinahe hätte ich gelacht, konnte es aber noch zurückhalten. Sonst hätte Louis es sofort wieder gerichtet. Er sollte viel weniger Wert auf sein ständiges, gutes Aussehen legen – er sah sowieso gut aus.
»Es ist eine Grauzone.«, erklärte ich ihm, während ich mir ein Paar Fausthandschuhe aus meinem Schrank suchte. »Alle Grundlagen für Nachtfußball wurden schließlich von der Schule geplant und organisiert. Es gibt zwar die Nachtruhe, aber es ist auch alles für Nachtfußball geregelt. Außer wann es stattfindet.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mindestens die Hälfte der Lehrer es mitkriegt, wenn wir Nachtfußball planen, aber es scheint sie nicht wirklich zu stören. Die Nachtruhe ist streng, aber an diesen Tagen scheint es sie nicht zu kümmern. Wahrscheinlich sehen sie ein, dass wir die Möglichkeit auch nutzen müssen, wenn wir sie haben. Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Lehrer ihre Ausgangssperren-Kontrollgänge an den Fußballtagen ausfallen lassen. Sie wollen uns nicht beim Brechen der Nachtruhe erwischen, also tun sie es auch nicht.«
»Was wäre denn, wenn wir trotzdem einem Lehrer über den Weg laufen?«, fragte Louis weiter und enttäuscht beobachtete ich, wie er jetzt von alleine seine Frisur wiederherstellte.
»Seit wann sorgst du dich denn um Regeln, Louis William?«, fragte ich grinsend. »Aber keine Angst; wir werden keinem Lehrer begegnen. Und so lange du nicht irgendwelche Wände auf dem Weg nach unten einreißt, ist alles super.« Ich musterte ihn prüfend. »Ich empfehle Handschuhe.«
Louis überlegte offenkundig, entschied sich dann mit rebellischem Blick dazu, meinen Rat nicht zu befolgen und ließ sein Paar Handschuhe unberührt.
»Und wann wirst du endlich aufhören, mich bei beiden meiner Vornamen zu nennen?«
Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Niemals. Du hast mich mit meinem angeblichen Prinzennamen aufgezogen, obwohl deiner ebenso einer ist. Aber du hast ihn mir verschwiegen!«
Louis legte eine Hand an den Türgriff. »Und das nimmt dich immer noch so sehr mit, kleiner Harry?«
Ich antwortete nicht, sondern sah ihn strafend dafür an, dass er sich über mich lustig machte. Ihn schien das überhaupt nicht zu stören, er grinste vor sich hin. »Na dann los.«, sagte er, bevor er die Tür öffnete und wir gemeinsam auf den dunklen Gang traten.
Louis ging einige Schritte vor mir, ungewöhnlich langsam. Als wir vielleicht drei der Jungenzimmer passiert hatten, ließ er sich zu mir zurückfallen und leise hörte ich sein Flüstern an meinem Ohr. »Das ist gar nicht so leicht, ganz ohne Licht.« Obwohl ich so dick angezogen war, verpassten mir seine Nähe und Stimme eine Gänsehaut. Aber gezwungenermaßen ignorierte ich das.
Ich beugte mich zu seinem Ohr und erwiderte ein gehauchtes »Ist es doch.« Dann ergriff ich seine Hand und zog ihn mit mir. Ich kannte hier alles gut genug, um sogar mit geschlossenen Augen jeden Weg zu finden.
Wir gingen weder durch die große Eingangs- noch durch die gläserne Hintertür, sondern schlichen uns in einen der Geräteräume, die ebenfalls Personaltüren nach draußen hatten, die sich deutlich besser als unbemerkte Aus- und Eingänge eigneten.
Sobald wir nach draußen traten, schlug uns die – Nachts noch deutlich stärkere – Winterkälte entgegen.
»Deswegen hast du dich so warm angezogen.«, stellte Louis verärgert fest – er hatte meine wiederholten Erinnerungen an die Kälte nicht wirklich ernst genommen. (»Fußball ist mein innerer Backofen, Harry!«)
»Siehst du?«, fragte ich genugtuend, während uns unser zügiges Tempo immer weiter vom Internat entfernte. »Du hättest auf mich hören sollen.«
Er ließ das auf sich beruhen – er wollte mir nicht Recht geben.
Der Weg bis zum Fußballfeld war lang, aber ich hatte auch hier draußen keine Schwierigkeiten, den Weg über das riesige Gelände zu finden.
»Weißt du noch«, redete ich irgendwann in die Stille hinein, »als du und Liam darüber geredet haben, meinen Kuss als Preis für ein Fußballturnier auszusetzen? Und du der kompletten Schülerschaft erklärt hast, dass sie das mit dem ›Harry küssen‹ falsch verstanden hatten?«
Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber an seiner Stimme hörte ich seine gequälte Miene. »Erinnere mich bloß nicht daran, Harry!«
»Ich glaube«, ignorierte ich ihn mehr oder weniger, »dass das das erste Mal war, dass ich darüber nachgedacht habe, wie es wäre. Ein Kuss mit dir.«
»Und?«, fragte Louis interessiert. »Zu welchem Schluss bist du damals gekommen?«
»Dass ich mich zumindest nicht dagegen währen würde. Weißt du, ich hätte dich hassen können so sehr ich wollte, aber ich habe mir seit ich dich das erste Mal gesehen habe, eingestanden, dass du ganz einfach gut aussiehst. Vom ersten Tag an.«
»Ich sehe gut aus, hm?«
Ich nickte, dann verstand ich, dass er das vermutlich nicht sah. »Ja. Unheimlich gut.«, gestand ich etwas kleinlaut.
Ich erwartete darauf keine Antwort und es kam auch keine. Er zog mich nur näher zu sich und küsste mich halb aufs Ohr (wahrscheinlich hatte er meine Wange küssen wollen).
Am Anfang unseres Weges war es schon dunkel gewesen, doch je weiter wir kamen, desto dunkler wurde es. Der Fußballplatz lag in einem kleineren Waldstück direkt neben einem der kleinen Geräteschuppen, die überall auf dem Gelände verstreut waren.
Als wir dort ankamen – Louis schien ziemlich orientierungslos, aber zu seiner Verteidigung musste ich anmerken, dass er auch noch nie hier gewesen war – waren schon einige Schüler da. Ich nahm an, dass heute nicht allzu viele hier sein würden, wegen des Schnees. Die meisten waren wahrscheinlich froh, drinnen bleiben zu können.
Man erkannte die anderen nur an ihren Stimmen, sehen konnte man kaum etwas. Weil ich nicht wusste, wie leicht ich Louis wiederfinden würde, wenn ich seine Hand losließ, nahm ich ihn mit, um das Feld zu überprüfen. Ich wollte nachsehen, ob noch Hilfe beim Schnee schaufeln benötigt wurde, aber es war bereits alles von dem weißen Niederschlag befreit worden.
»Sag mal, Harry, was machen wir hier eigentlich?«, fragte Louis nach einer Weile skeptisch. »Es ist verdammt kalt, ich werde ganz sicher krank. Und wir wollen Fußball spielen, dabei kann ich nicht mal die Hand vor Augen sehen. Geschweige denn irgendeinen Ball oder Tore, in die ich schießen soll.«
»Erstens; das mit der Kälte hatten wir schon. Deine Schuld, dass du dich nicht dicker angezogen hast. Und wegen der Dunkelheit; komm mit, ich zeige dir, wie wir spielen.« Ich zog ihn in zum Rand des Feldes zu dem Geräteschuppen.
»Hey ihr!« Jemand mit Nialls Stimme tauchte plötzlich neben mir auf, ich hörte seine Winterjacke rascheln.
»Hi, Ni. Weißt du, ob der Ball schon draußen ist? Wollen wir nicht langsam anfangen? Louis will sehen, wie wir spielen.«
Anstatt mir zu antworten, brüllte Niall für alle hörbar »Wir wollen loslegen! Einer muss auf den Schalter drücken!«
Es dauerte einige Sekunden, doch dann schien jemand Nialls Anweisungen gefolgt zu sein. Wie durch Magie zog sich eine leuchtende, weiße Linie schnell über den Winterboden und bildete ein in der Mitte durch eine weitere Linie geteiltes Rechteck (Spielfeld mit Mittellinie) und dann zeichneten sich auch die Metallrahmen der Tore durch dünne, weiße Linien in der Luft ab wie viereckige Portale in andere Welten.
Von irgendwoher rollte der blau leuchtende Fußball auf das Feld.
Das Leuchten der Feldbegrenzung und des Balles waren nicht stark genug, um irgendetwas zu erhellen, aber trotzdem stachen sie so grell aus der Schwärze hervor, dass sie ihren Zweck perfekt erfüllten.
»Das ist ziemlich...cool.«, gab Louis neben mir zu. Ich konnte ihn noch immer nicht erkennen, aber ich hörte ihm an, dass er beeindruckt war. »Ich habe schon gedacht, dass ihr hier irgendwie so einen Ball mit Glöckchen drin habt oder sowas. Dass wir einfach blind einem Klingeln hinterherrennen. Aber das Feld leuchtet, der Ball leuchtet. Das ist cool.«
»Endlich haben wir es geschafft, das verwöhnte Großstadtkind zu beeindrucken.«, sagte Niall triumphierend. »Wir kriegen noch unsere Bänder.«
»Bänder?«, fragte Louis in dem Moment, als irgendwer mir aus der Dunkelheit den Karton übergab. Ich wies Louis an, sich eines herauszunehmen, so wie Niall und ich es taten.
»Bind es dir irgendwie um oder befestige es irgendwo. Dann hast du einen kleinen Druckknopf an einem der Enden. Drück ihn.«
Louis brauchte anscheinend ein paar Sekunden, um den Knopf zu finden, doch dann leuchtete das vorher für mich unsichtbare Band grün in der Dunkelheit auf. Die Bänder waren dazu da, dass man die anderen Schüler orten, wenn auch nicht sehen konnte beim Spielen. Sie waren dünne, mit sich selbst verflochtene Lichterketten mit winzigen, bunten Lämpchen, die so lang wie mein Unterarm und etwa fünf Zentimeter breit waren. Geübt knotete ich mir meines wie ein Halstuch in meinem Nacken lose fest, es leuchtete bei dem Drücken des Knopfes lila auf. Louis hatte sich seines doppelt um den Oberarm gebunden.
»Na, Snoblinson?«, fragte Niall überlegen, er hatte sich sein oranges Band wie ein Ninja um die Stirn gebunden. »So gute Sachen gibt es in London nicht, hm?«
Louis ignorierte den hämischen Iren, als hätte dieser nichts gesagt. Er ließ meine Hand los und traf überraschend seine Lippen mit meinen. »Lila. Ich finde dich wieder.«, murmelte er gegen meine Lippen, küsste mich flüchtig und verschwand in Richtung des Feldes. Ich sah dem grünen Band nach, bis Niall direkt neben mir über eine Wurzel stolperte und ich ihm wieder aufhelfen musste.
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Nach nicht mehr als einer Viertelstunde entfloh ich dem Spiel und stellte mich an einen Baum gelehnt an die Seite, einige Meter entfernt von dem Lichtfaden, der als Feldgrenze scharf die Dunkelheit durchschnitt.
Nachtfußball machte Spaß, aber ich war müde. Man sah die anderen Spieler nie, nur die im Schwarz tanzenden Bänder in allen Farben des Regenbogens, die zu ihnen gehörten. Andere und man selbst rannten sich quasi pausenlos über den Haufen, weil man nichts sah außer den Ball und die Tore. Es machte riesig Spaß, aber heute war ich ganz einfach zu müde, um mich mit einem Haufen unsichtbarer Gegner um eine leuchtende Kugel zu raufen.
Ich schloss für ein paar Minuten die Augen und schaltete von den dumpfen Geräuschen des Spiels ab und lauschte auf die nächtliche Musik des Waldes. Es war nicht viel zu hören, der Schnee schluckte alles.
Ich öffnete die Augen wieder, bevor meine Lider von der Pause verführt werden konnten. Der Weg zurück zum Internat würde wieder einige Minuten dauern und je wacher ich wäre, desto weniger schlimm wäre er. Ich folgte den wenigen grünen Bändern auf dem Spielfeld mit meinem Blick, vier insgesamt. Sie bewegten sich alle wie von Geisterhand durch die Luft. An der Weise, wie Louis sein Band um seinen Oberarm geknotet hatte, konnte ich ihn auch ohne sichtbaren Körper schnell von den anderen unterscheiden. Ich beobachtete für eine Weile wie er – oder vielmehr das Band um seinen Arm – sich flink über das Feld bewegte. In zehn Minuten (zumindest, was ich für zehn Minuten hielt) fiel er viermal hin und schoss meiner vagen, körperlosen Beobachtung nach ein Tor.
Doch so gerne ich ihm auch von hier zusah, noch mehr freute ich mich, als ich ihn auf mich zukommen sah. Von dem anderen Spielfeldrand gesellten sich stattdessen ein rotes und ein blaues Band zum Spiel.
»Ich habe nicht mal mitgekriegt, dass du nicht mehr mitgespielt hast.« Er war ein wenig außer Atem. Als er direkt vor mir stand, konnte ich durch das lila und grüne Leuchten unserer Bänder schwach seine Gesichtszüge erahnen.
»Mhm. Du hast Spaß am Spiel.«, erklärte ich ihm. »Nur Augen für den Ball; ein kleiner Fußballfanatiker, London-Lou.«
»Ich habe Fußball noch nie so gespielt. Jeder gegen Jeden. Es macht Spaß. Aber hey, es ist nicht der Ball, für den ich als einziges Augen habe!«
»Ach nein?« Ich hoffte, dass er mich lächeln sah, in der Erwartung, die Antwort zu sein.
»Nein. Du wärst es.« Ich konnte die Grübchen in meinen Wangen spüren. »Aber nicht heute Nacht.«, fügte er hinzu und mein Lächeln fiel.
»Was soll das heißen?«, fragte ich enttäuscht. »Wer stiehlt deine Aufmerksamkeit?« Ich ärgerte mich darüber, wie betroffen ich davon klang.
Aber ich erkannte Louis' Lächeln. »Niemand. Aber es ist ganz einfach zu dunkel, um dich zu sehen. Es ist nicht so, dass ich dich nicht ansehen will, ich kann es nicht.« Er schien zu sehen, dass mich diese Antwort zufriedenstellte und trat einen weiteren Schritt an mich heran, um mir eine Hand an die Wange zu legen.
»Louis!« Erschrocken zuckte ich von seiner Berührung zurück. »Du bist eiskalt!«
»Kalte Hände werden mich nicht umbringen. Zumindest die Kälte nicht. Wenn mich etwas umbringt, dann dass du deswegen meinen Berührungen aus dem Weg gehst, Harry.«
»Wie gesagt; du hättest dich wärmer anziehen sollen.«
»Tja, das habe ich leider versäumt. Was für ein Glück, dass mein süßer, kleiner Freund nicht so dämlich war. Das verpflichtet dich unglücklicherweise dazu, mich zu wärmen.« Überraschend schnell stand er plötzlich hinter mir und schloss die Arme um meine Taille, während sein Kopf Platz auf meiner Schulter fand. Seine kalten Hände schob er in die Taschen meiner Jacke zu meinen eigenen Händen. Meine Handschuh-Hände umschlossen seine, um ihnen wieder ein wenig Wärme zu schenken.
Wir standen lange so da. Halb lag mein Gewicht an Louis' Körper hinter mir, mein Kopf lehnte an seinem auf meiner Schulter. Louis beobachtete das Spiel, ich schenkte den raufenden Farben nur meine halbe Aufmerksamkeit. Mit den verstreichenden Minuten spürte ich meinen Atem flacher werden, als träte ich schon in eine Vorstufe des Schlafes ein, der so verführerisch auf der Innenseite meiner Augenlider kitzelte.
Nach einer Weile schien Louis das allmähliche Erschlaffen meines Körpers in seiner Umarmung richtig zu deuten. Ich spürte ein kaltes Paar Lippen in meinem Nacken. Der federleichte Kuss ließ mich es nun sein, der eine Gänsehaut bekam.
»Nicht einschlafen, Harry.« Seine Worte waren noch weicher als seine Lippen.
Ich wollte nicht mit den Schultern zucken, um ihm nicht wehzutun. »Ich weiß.«, murmelte ich und hörte mich schläfriger an, als ich sein wollte. »Aber ich bin müde.«
Ein zarter Kuss hinter meinem linken Ohr. »Möchtest du zurückgehen?«
Ich seufzte leise. »Ich habe Niall gesagt, ich würde ihm Bescheid sagen, wenn ich gehe.«
»Du kannst ihm nicht Bescheid sagen«, erklärte Louis sanft und küsste meinen Hals ein weiteres Mal, »wenn du vorher eingeschlafen bist.«
Ich musste leicht lachen und das Geräusch schien viel zu wach für die zehrende Müdigkeit in mir. »Ich werde schon nicht im Stehen einschlafen, Louis.«, versicherte ich ihm – auch wenn ich mir dessen nicht mal absolut sicher war.
»Lass uns zurückgehen.«, beharrte Louis mit zartem, aber entschlossenem Tonfall. »Wenn du möchtest, gehe ich vorher noch schnell zu Niall und sage es ihm. Okay?«
Ich sehnte mich zwar einerseits unglaublich nach meinem warmen, weichen Bett, aber andererseits wollte ich nicht, dass Louis mich jemals losließ.
»Ich will nicht, dass du gehst.«, flüsterte ich und lehnte mich noch ein wenig mehr in Louis' Umarmung.
»Ich wäre sowieso nicht gegangen. Ich hätte es dich nur glauben lassen. Niall findet allein zurück.«
»Also bist du ein Lügner.« Auch wenn ich mich eigentlich nicht bewegen wollte, drehte ich mich in seinen Armen um.
»Lügner, kein schönes Wort. Es wäre ja nur zu deinem Besten gewesen. Sagen wir, ich bin ein Schummler.«
»Lass uns gehen.« Ich küsste ihn lächelnd und träge. »Lügner.«
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...uuund schon wieder zurück aus England
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