• 48 •
Louis
Ich war zweiundvierzig Minuten gefahren, hatte die Geschwindigkeitsbegrenzung dabei zweifellos ein paar Mal überschritten. Das letzte Mal war ich im Sommer Auto gefahren, aber glücklicherweise verlernte man das nicht so schnell.
Den Weg hätte ich vermutlich auch nie gefunden, wenn nicht die Straßenkarte mit eingezeichneter Route von unserer ersten Fahrt zum Internat in der Beifahrertür gelegen hätte.
Doch jetzt war ich endlich hier. Ehrlich gesagt war es mir ziemlich egal, wie wütend meine Eltern werden würden. Sollten sie doch. Aber ich hatte dringend einen Schulball nachzuholen.
Ein weiteres Mal hatte ich Glück, als ich die Eingangshalle des Internats betrat und schon hier nach einigen Sekunden den braunen Lockenkopf auf der anderen Seite der Halle ausmachte.
»Harry!« Bevor er mir noch weglaufen konnte, rief ich lieber gleich nach ihm. Ich hatte schon genügend Zeit dieses Tages verschwendet.
Ich rief seinen Namen noch einmal, als er beim ersten Mal nicht reagierte. Während ich mehr der Distanz zwischen uns schloss, begann er jetzt, sich wie eine Person aus einem Horrorfilm qualvoll langsam umzudrehen.
Als er sich dann vollständig umgedreht hatte, starrte er mich tatsächlich wie etwas unvergleichbar Furchteinflößendes an. Aber das war mir im Moment komplett egal. Ganz einfach glücklich kam ich lächelnd vor ihm zum Stehen.
»Hi«, strahlte ich ihn an, während seine Mimik noch immer nicht weicher wurde.
Dann sah er seine Hände an. »Ich halluziniere.«, murmelte er sich zu und ich konnte nicht anders, als zu lachen.
Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen war. Ohne Zögern schloss ich Harry in meine Arme.
Er erwiderte die Umarmung erst nach ein paar Sekunden, aber dann klammerte er sich an mich, als könnte ich jeden Moment wieder verschwinden.
»Ich kann es nicht glauben.«, nuschelte er in meine Halsbeuge und ich konnte nicht fassen, dass ich so viele Stunden dieses Tages am komplett falschen Ort verschwendet hatte.
Doch plötzlich drückte Harry mich entschieden von sich.
»Was machst du hier?« Er sah mich an, als wäre ich irgendeinem Hochsicherheitsgefängnis entflohen und hätte damit quasi meine Todesurkunde unterschrieben.
»Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, wollte ich dich zu diesem Ball hier begleiten. Ich habe mich ein wenig verspätet, das tut mir leid.«
Harry lächelte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, im Ernst. Du kannst überhaupt nicht hier sein, Louis. Was ist passiert?«
»Ich habe meine Prioritäten gesetzt. Ich bin abgehauen.« Harrys Kinnlade klappte herunter und ich musste lachen. »Du solltest dich sehen, Harry! Aber ehrlich; ich war lange genug auf dieser dämlichen Veranstaltung. Ich wollte nicht dort sein, also habe ich gewissermaßen unser Auto geklaut und bin hergefahren.«
Überrascht hob er eine Augenbraue. »Du kannst Auto fahren?«
»Autos fahren, Autos stehlen...ich bin ein Multitalent.«
»Louis, deine Eltern werden unglaublich wütend sein! Wie früh bist du gegangen? London ist eine Ewigkeit entfernt und-«
»Keine Sorge, so schlimm ist es dann auch nicht. Wir waren in Hemsby, nicht in London. Ich bin keine Stunde gefahren und habe meinen Eltern erzählt, dass es mir nicht gut geht. Perfekt gelöst.«
»Du hast ihr Auto gestohlen, Louis!«
Ich grinste. »Cool, oder?«
Harry antwortete nicht, sah mich für mindestens eine Minute wortlos an. Dann lächelte er. »Ich bin so froh, dass du da bist.«
»Da bist du nicht der Einzige! Du siehst übrigens toll aus. Ich weiß nicht, wer deine Kleidung angefertigt hat, aber bei dem Schnitt von Weste und Hose hat er definitiv nichts falsch gemacht!« Bevor Harry rot werden konnte – denn das würde er definitiv – drehte ich mich weg von ihm zur Tür des Sternsaales. »Na los, zeigst du mir alles?«
Er gab mir keine Antwort, lief einfach an mir vorbei auf die hohen Türen des Saals zu.
Es sah toll aus. Ich war vorher nie im Sternsaal gewesen, er war riesig, die Decke hoch. Die Wände waren in dem gleichen altertümlichen Stil gestaltet wie der Rest des Internats, nur dass ich hier drinnen wirklich das Gefühl hatte, in irgendeinem mittelalterlichen Königsschloss zu stehen. Die vielen Schüler in feiner Ballkleidung machten die Illusion nur noch glaubhafter.
Das Licht war gedämpft, angenehm.
Über den Raum verteilt waren Tische aufgestellt, Harry führte mich zielgerichtet zu einem ziemlich weit hinten. Als wir dort waren, zog er einen Stuhl zurück.
»Et voilà. Dieser Platz hat nur auf deine Ankunft gewartet.« Er warf einen schüchternen Blick auf seine Hände und fügte dann »So wie ich« hinzu. Ich ließ mir nichts anmerken, spürte aber die Wärme in meinem Inneren brodeln, auf eine angenehme, anziehende Weise.
Mit dankbarem Nicken setzte ich mich auf den angebotenen Stuhl und wartete, bis Harry sich neben mich gesetzt hatte.
»Sie haben für mich trotzdem aufgedeckt? Ziemlich sadistisch, zumal du dir das die ganze Zeit ansehen durftest.« Ich musterte die beiden Namensschilder, meins und Harrys, die direkt nebeneinander standen. Sofort musste ich daran denken, wie Harry und ich uns gemeinsam auf der Liste mit den Platzwünschen eingetragen hatten. Wir hatten jeweils den Namen des Anderen geschrieben und Harry hatte ein Herz über das i in meinem Namen gesetzt. Ich kannte Harrys Handschrift, er nutzte niemals Herzen als i-Punkte.
»Jetzt ist es ja gut, dass sie es getan haben. Apropros; bist du hungrig? Da hinten ist das Buffet und es ist noch eine Menge da. Ich weiß nicht, du hast in London wahrscheinlich schon gegessen, richtig? Hemsby, meine ich.«
»Ja, habe ich.« Mit einem Finger fuhr ich den Rand des Tellers nach. »Aber da habe ich nicht wirklich viel bekommen. Die Manieren und so, es sieht besser aus, wenn man nur Mäusemahlzeiten zu sich nimmt. Ich beschwere mich nicht über noch ein bisschen Essen. Hey, ist das Sekt? Ich meine richtiger, mit Alkohol? Sie geben uns hier Sekt? Das ist die beste Schule jemals. Meine Eltern haben mir Alkohol für heute Abend verboten, aber ehrlich gesagt sollte ich darüber froh sein, denn sonst wäre ich vielleicht nicht so reibungslos hergekommen.« Mein Blick fiel auf Harrys Sektglas und forschend sah ich ihn an. »Hast du schon viel getrunken?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ein halbes Glas. Vielleicht hätte ich mich später noch mit Sekt betrunken, wenn du nicht gekommen wärst. Es ist ein wenig einsam als Einziger ohne Begleitung.«
Wie auf Knopfdruck sprang das schlechte Gewissen wieder an. »Es tut mir so leid. Ich weiß, ich sage das jetzt zum zwanzigsten Mal, aber du hattest das wirklich nicht verdient, Harry. Jetzt bin ich hier, ja, aber du hättest einen perfekten Ball verdient, nicht einen, der erst anfängt, wenn die Hälfte der Schüler schon verschwunden ist. Nur weil deine Begleitung etwas Besseres zu tun hatte.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt, Louis. Du solltest dir keine Vorwürfe machen, es ist nicht deine Schuld. Aber du sollst auch wissen, dass es mir viel bedeutet, dass du das Auto deiner Eltern gestohlen hast, um hierher zu kommen.«
Ich zwinkerte ihm grinsend zu. »Das beeindruckt dich immer noch, nicht wahr? Wir beide könnten die neuen Bonnie und Clyde sein. Ich wäre Clyde, natürlich. Aber mal ehrlich, Harry, du musst auf jeden Fall mal berühmt werden! Wer Styles mit Nachnamen heißt, darf das nicht verschwenden.«
Er verdrehte die Augen. »Das letzte Mal, als du etwas über meinen Namen gesagt hast, hieß es noch, ich wäre irgendein Prinz.«
»Beides, heute Abend siehst du definitiv aus wie ein Prinz. Im Ernst, du siehst wirklich gut aus.« Es war mir egal, dass ich ihm das schon gesagt hatte. Es stimmte einfach. Er sah unheimlich gut aus.
»Du siehst gut aus, Louis William! Hast du dich mal gesehen in dem Anzug? Nicht, dass du in anderen Klamotten nicht auch gut aussiehst...«
Es wäre eine Lüge gewesen, hätte ich behauptet, dass mir Komplimente von Harry nicht gefielen. Es war eigentlich nichts Besonderes, Harry war immer offen, wenn ihm etwas gefiel, weil er es liebte, Menschen zum Lächeln zu bringen. Aber trotzdem fühlte es sich besonders an, die Art wie er verlegen wurde, wenn er diese Dinge zu mir sagte.
»Ich fühle mich geschmeichelt. Aber jetzt muss ich dieses wahnsinnig interessante Gespräch leider unterbrechen, weil das Essen mich von dahinten so verführerisch anlächelt. Da kann ich nicht widerstehen, tut mir leid, Haz. Ich bin gleich zurück.«
Eigentlich hatte ich keinen großen Hunger mehr gehabt, aber der Anblick des ganzen Essens änderte diese Meinung nochmal. Nachdem ich meinen Teller bunt gefüllt hatte, kehrte ich zu Harry zurück.
»Wo sind denn Liam und Niall eigentlich?«, fragte ich eher beiläufig, während ich mir einhändig Sekt einschenkte.
»Niall müsste irgendwo auf der Tanzfläche sein, schätze ich. Bei Liam und Robyn hat es wohl irgendwie gekracht, Liam ist vorhin auf sein Zimmer geflohen und will nicht reden. Robyn ist auch weg.« Mit bedauerndem Blick zuckte er leicht mit den Schultern. »Ein wenig Drama gibt es jedes Jahr. Hoffentlich ist es nicht allzu schlimm.«
Ich dachte kurz nach. Liam war mein bester Freund und er war mir wichtig, aber für heute Abend musste er das selbst durchstehen. Ich hatte Harry hängenlassen und er verdiente meine Aufmerksamkeit jetzt, wo er schon den gesamten bisherigen Abend allein gewesen war.
»Mach dir keine Sorgen, Harry.«, sagte ich also. »Wir werden morgen schon sehen, eine Nacht Schlaf ändert die Dinge meistens sowieso noch. Erinnerst du dich, was ich dir geschrieben habe? Genieß den Abend. Und genau das sollst du jetzt tun, hörst du? Ich will nicht länger ein schlechtes Gewissen haben, dich sitzen gelassen zu haben.«
Er nickte, angelte sich dann ein Stück Baguette von meinem Teller und biss davon ab, als wäre es die Quelle seines Glücks. Grinsend schüttelte ich leicht den Kopf und widmete mich dann ebenfalls meinem Essen.
Ich ließ mir Zeit, nach und nach das Essen von meinem Teller zu stochern, bis er leer war. In der Zwischenzeit erzählte ich Harry von Hemsby und wie schlecht ich mich gefühlt hatte, er kritzelte mit einem Bleistift auf einer Serviette herum und hörte mir einfach nur zu. Die Musik wurde allmählich wieder langsamer – als ich angekommen war, war sie noch ziemlich schwungvoll gewesen.
Natürlich blieb meine Ankunft nicht komplett unbemerkt. Als Evelyn mich und Harry hier sitzen sah, war die Überraschung ihr deutlich aufs Gesicht geschrieben. Sie hatte schon den halben Saal durchquert, als Harry sie anlächelte und sanft den Kopf schüttelte. Damit war sie dann wieder umgekehrt und hatte uns in Ruhe gelassen. Da konnte ich mich morgen wohl noch auf ein paar Fragen freuen.
Die letzte Weintraube verschwand in meinem Mund und mein Blick wanderte wie von einem Magneten angezogen zu Harry. Er schien nicht mal zu merken, dass ich seit bestimmt drei Minuten aufgehört hatte zu reden. Keine Ahnung, wie jemand so friedlich aussehen konnte, während er zeichnete, aber Harry tat es zweifellos. Seine Gesichtszüge waren beinahe so entspannt, als würde er schlafen. Nur der Blick seiner grünen Augen, der pausenlos den kleinen Strichen des Stifts folgte, und das leichte Lächeln, das seine Lippen umspielte, verriet das Gegenteil.
In genau diesem Moment realisierte ich, dass ich niemals zuvor einen Harry getroffen hatte und vermutlich auch nie wieder einen treffen würde. Harry hatte so viel in meinem Leben geändert, indem er einfach nur ehrlich und nett gewesen war. In nicht mal einem halben Jahr hatte sich mein komplettes Leben verändert und ich könnte niemals behaupten, dass es keine Verbesserung zum Guten war. Vielleicht hatte mir irgendeine höhere Macht Harry geschickt, damit ich lernen könnte.
Ein Junge, der sich etwas auf das Geld seiner Eltern eingebildet hatte. Ein Junge, der kriminell geworden war, nur um seinen Status aufrecht zu erhalten. Ein Junge, der in vollem Bewusstsein Homophobie akzeptiert hatte, um nicht aus der grauen Masse herauszustechen.
Aber der Junge war ich nicht mehr und ich wollte es auch nie wieder werden. Ich hatte quasi alles an mir Harry zu verdanken und es gab keinen menschlichen Weg, das jemals zurückgeben.
Aber es gab andere Dinge, die ich Harry geben wollte und auch konnte.
Manchmal war alles andere ganz egal, wenn Dinge sich einfach nur richtig anfühlten.
»Harry?« Er sah auf und musterte mich fragend. »Möchtest du tanzen?«
Sofort war der friedliche Ausdruck weg, er wurde durch ein perfektes Strahlen ersetzt. »Gern.«
Still folgte Harry mir, bis ich die Tanzfläche komplett überquert und noch nicht gestoppt hatte.
»Louis?«
»Keine Sorge, Harry«, sagte ich ruhig, während ich den Saal verließ, »Du bekommst deinen Tanz. Nur nicht hier drin. Es sieht toll aus, wirklich. Ich weiß, dass du mit organisiert hast. Aber hier drin sind zu viele Leute, finde ich.«
Kurz schwieg er, ich hörte seine Schritte aber noch hinter mir. »Wo willst du dann hin?« Er zog scharf die Luft ein, als wäre ihm eine schlechte Vorstellung in den Sinn gekommen. »Ich steige nicht mir dir in dieses Auto, Louis! Ganz egal, wo du hinfahren willst!«
Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Wir fahren nirgendwohin, Harry. Hier entlang bitte.« Ich bog in der Eingangshalle nach rechts ab, dorthin, wo ich Harry vorhin gefunden hatte. »Du wolltest rausgehen, Harry. Richtig?« Ich blieb vor der Glastür, die auf das hintere Gelände führte, stehen und drehte mich zu Harry um.
Skeptisch sah er mich an. »Nein, also ja, aber das war bevor du da warst. Weil mir langweilig war.«
»Perfekt!« Ich drehte den Türgriff und öffnete die Tür nach außen. »Wenn ich bitten darf..?«
Er wartete noch einige Sekunden, ob das nicht doch nur ein Scherz war, trat dann aber hinaus auf den Kiesweg, der dank unseres Schippens fast schneefrei war.
»Komm mit.« Ich trat ebenfalls nach draußen und lief den Weg entlang. Die sonst bunte Wiese und die vielen Bäume und Sträucher waren noch unter einer mindestens fünfzehn Zentimeter dicken Schneeschicht vergraben. Der silberne Mond war zwar die einzige Lichtquelle, aber der Schnee erweckte ebenfalls den Eindruck von zusätzlicher Helligkeit. Natürlich war es noch immer dunkel, aber wir konnten einander erkennen.
Ich blieb erst an der Abzweigung, an der der Weg sich zwischen See und Schulgarten teilte, stehen. Das Internat war noch zu sehen, die Fenster wie magische Wegweiser in der Dunkelheit, doch ihr Licht war zu schwach und zu weit entfernt, um uns Helligkeit zu schenken.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich. Harry nickte, auch wenn er noch immer ein wenig verwirrt schien. Ich konnte erkennen, wie riesig seine Pupillen in der Dunkelheit waren.
»Bitte schließ die Augen, Harry.«
Auch dieses Mal reagierte er nicht sofort, tat nach ein paar Sekunden aber doch, worum ich ihn gebeten hatte. Zufrieden lächelte ich. Solange er sich ohne Bedenken auf mich einlassen konnte, bedeutete das wohl aufbauendes Vertrauen.
»Frierst du?«, fragte ich zur Sicherheit und musterte sein dünnes, weißes Hemd, das unter der (auch nicht allzu wärmenden) Weste Harrys Oberkörper bedeckte. Doch er schüttelte den Kopf. Vermutlich wusste Harry schon, was jetzt folgen würde, aber er stand einfach ganz ruhig vor mir und wartete.
Er war noch weiter gewachsen. Jetzt war er bestimmt nicht mal mehr zwei Zentimeter kleiner als ich. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Zwerg noch größer werden würde als ich.
»Nicht erschrecken«, flüsterte ich und legte ihm in derselben Sekunde einen Arm um die Taille. Kurz spannte er sich an, dann wurden seine Muskeln wieder locker.
Ich legte auch meine zweite Hand an Harrys unteren Rücken und genoss für einen Moment das Gefühl.
Sein Körper war warm, sein Brustkorb hob und senkte sich langsam gegen meinen Oberkörper. Nach kurzem Zögern legte Harry seine Hände zwischen meinem Hals und den Schultern ab. Die Augen hatte er noch immer geschlossen.
»Möchtest du tanzen, Harry?«, wiederholte ich meine Frage leise, während sein Kopf mit einem leichten Seufzen gegen meinen sank. Ich spürte sein Nicken, hörte dann ein leises Kichern.
»Wir haben keine Musik, Louis.« Der Luftzug der Worte ließ meinen Hals kribbeln. Natürlich hatte er recht. Es war still, schließlich war es keine dieser Sommernächte, in denen man Tausende von Grillen zirpen hören konnte. Es gab auch kein Blätterrascheln vom Wind, die Bäume trugen keine Blätter.
Ich antwortete Harry nicht, begann stattdessen, sanft Greensleeves zu summen. Seicht wiegte ich meinen und damit auch Harrys Körper zu der warmen Melodie des Liedes hin und her.
Eine weitere der Sachen, die ich dank meiner Eltern hatte lernen müssen, war klassisches Tanzen. Ich war nie ein Freund davon gewesen und hatte mich um jede Tanzstunde gedrückt, bei der es mir möglich gewesen war, aber trotzdem hatte sich aus mir ein ziemlich guter Tänzer entpuppt.
Aber hierfür, um hier mit Harry zu tanzen, dazu brauchte ich keine meisterhaften Tanzschritte. Das harmonische Hin-und-her-Wiegen brauchte keine besondere Technik, nur Harry, mich und die zarten Töne von Greensleeves.
Harry lehnte sein Gewicht an mich, ließ mich die Bewegungen steuern. Als ich mich halbwegs sicher fühlte, begann ich, meine Füße langsam in einem seichten Schritt zu bewegen, einfach, wie es zu der Musik passte. Es gelang mir, Harry so zu führen, dass er schnell fast nichts mehr selbst machen musste. Es funktionierte von alleine, solange ich Harry an der Hüfte die Richtung vorgab.
Es fühlte sich wunderbar an. Harrys Körper schmiegte sich an meinen als wären nie Distanzen zwischen uns geschaffen worden. Die Musik trug uns wie eine Bestimmung von einem Fuß auf den anderen. Ich summte weiter und ich spürte mit jeder weiteren Sekunde, dass das hier genau das Richtige war. Um jetzt mit Harry zu tanzen, hätte ich jedes Auto dieser Welt gestohlen.
Bevor die letzten Töne der Melodie durch waren, hob Harry seinen Kopf und sah mir in die Augen, kurz bevor Greensleeves endete. Mit dem Schluss der Melodie stoppte ich auch unsere Schritte. Es war wieder still, ein Lächeln zeichnete sich auf Harrys Lippen ab.
»Das war wunderschön, Louis.«Er sprach leise, als hätte er Angst vor seiner eigenen Stimme.
»Auf einem Ball muss man tanzen, das gehört dazu.« Ich grinste leicht. »Aber ich bin wirklich beeindruckt, dass du es nicht geschafft hast, uns umzureißen und in den See rollen zu lassen.«
Vorwurfsvoll sah er mich an. »Haha. So tollpatschig bin ich nun auch nicht. Tanzen kriege ich noch hin.«
»Möchtest du zurück zum Internat?«, fragte ich und löste jetzt meinen Griff um Harrys Taille und trat einen halben Schritt zurück. Auch seine Arme fielen zurück zu seinem Körper.
Aber er schüttelte den Kopf. »Ich würde gerne noch bleiben. Es ist schön. Außerdem befürchte ich, dass Eve dich sonst nicht gehen lassen wird, bevor du nicht einen zehnseitigen Fragenkatalog ausgefüllt hast.«
»Damit könntest du recht haben.« Ich überlegte kurz zwischen den beiden Abzweigungen. »Wollen wir runter zum See?«
Harry nickte und selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass er glücklich war.
Je näher wir an den See kamen, desto schneeiger wurde der Kies unter unseren Füßen. Das Knirschen war jetzt das Geräusch, das unseren Weg begleitete. Wir gingen langsam und so dicht beieinander, dass unsere Schultern sich fast berührten.
»Louis?« Harry sah mich nicht an, sondern sah weiter auf den Weg vor uns. »Ich bin froh, dass du hier bist.«
»Das bin ich auch, Harry. Sonst würde ich jetzt bei meiner Großtante Judith sitzen und so tun, als würde ich zuhören, wenn sie über ihren toten Weißkopfpapagei Jackson redet. Aber eigentlich würde mein schlechtes Gewissen mich zerreißen, weil ich dich sitzenlassen habe.«
»Louis, ich kann es dir noch zehnmal sagen; das war nicht deine Schuld. Und außerdem hast du es doch wieder gutgemacht. Du bist hier.
Und weißt du, worüber ich noch froh bin? Dass du mich überhaupt gefragt hast wegen heute Abend. Egal, wie sehr du es versuchen würdest, du könntest niemals verstehen, wie viel mir das bedeutet.«
Ich dachte über eine Antwort darauf nach, wurde aber davon abgelenkt, wie unsere Handrücken sich streiften. »Vielleicht kann ich es irgendwann verstehen. Denn das würde ich gerne.«
Ich nahm seine Hand in meine, verschränkte unsere Finger miteinander.
Keiner von uns sagte etwas, wir gingen einfach weiter. Ich spürte Harrys Hand ganz leicht in meiner zittern und ich wusste ohne ihn anzusehen, dass er lächelte.
Hand in Hand schlenderten wir weiter, bis wir am Seeufer standen. Eine dünne Eisschicht bedeckte das Gewässer. In der Dunkelheit konnte man das Eis nur daran ausmachen, dass es das Mondlicht schluckte, anstatt es zu reflektieren.
»Wir könnten aufs Eis gehen.«, sagte ich ruhig und fixierte die Mitte des Sees mit den Augen.
»Wenn wir sterben wollen, dann könnten wir das tun, ja.«, erwiderte Harry und der Sarkasmus in seiner Stimme blieb einen Moment länger in der kalten Luft hängen als die eigentlichen Worte.
Es war still für eine Weile, aber es war eine angenehme Stille. Vielleicht waren es sogar Minuten, die vergingen. Als Harry dann wieder sprach, schien seine Stimme Bilder zu malen.
»An dem Tag, an dem ich erfahren habe, dass ich einen Mitbewohner bekommen würde, habe ich es genau hier Niall erzählt. Es war einer der warmen Tage im September und ich war so glücklich, als Evelyn es mir erzählt hat.«
»Und dann kam ich.«
»Und dann kamst du.» Er atmete hörbar laut aus. »Ich konnte dich absolut nicht leiden.«
Ich musste grinsen. »Ich habe dich gehasst. So sehr, dass Niall mich irgendwann zu diesem dämlichen Krieg überredet hat, der eigentlich überhaupt nichts mit dir zu tun hatte. Ich bin froh, dass wir das beendet haben.«
»Stell dir vor, wir hätten es nicht abgelegt. Dann hättest du wahrscheinlich meinen Anzug für heute Abend zerschnitten. Oder ›aus Versehen‹ verbrannt.«
Ich lachte rau. »Das klingt ganz nach mir.«
»Du hättest mich nicht gefragt, ob du meine Begleitung sein darfst.«, setzte Harry fort und klang beinahe traurig. »Vielleicht wärst du mit Eleanor gegangen.«
»Ich wäre nie mit Eleanor gegangen, Harry. Hör zu, ich habe dich gefragt, weil ich es wollte. Wir haben schon darüber geredet.« Ich ließ seine Hand los und drehte ihn an den Schultern zu mir, sodass er gezwungen war, mich anzusehen. »Du musst aufhören, dich zu unterschätzen, Harry.«
Er antwortete nicht, sein Blick wanderte zwischen meinen Augen hin und her. Schnell war ich mir ziemlich sicher, dass er vergessen hatte, was ich gesagt hatte.
»Ich habe dich gezeichnet.«, sagte er dann verträumt.
»Ich weiß.«, gestand ich. »Ich habe es gesehen.«
Er schien nicht mal überrascht. »Erinnerst du dich, was ich gesagt habe?«
Ich nickte. »Du zeichnest Dinge, die du so schön findest, dass du sie festhalten möchtest.« Ich machte eine kurze Pause. Dann sprach ich weiter. »Ich würde dich auch zeichnen, Harry.«
Ich sah seine Mundwinkel nach oben zucken, aber noch bevor er richtig lächeln konnte, legte ich meine Lippen auf seine.
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