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Louis
Ich nahm mir nicht die Zeit für eine Begrüßung, sobald das Knacken in der Leitung ertönte. »Nein! Ich werde es nicht tun! Terrorisiert jemand Anderen, aber nicht mich!«
Es war kurz still in der Leitung und ich überlegte, ob vielleicht gar nicht meine Eltern abgenommen hatten, sondern irgendein Sekretär oder sonst wer.
Doch dann hörte ich die zögernde Stimme meiner Mutter. »Louis?«
»Ja! Mum! Das könnt ihr nicht machen!«
Ich hörte das ungläubige Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie antwortete – und komplett ignorierte, was ich sagte. »Du rufst an!«
Langsam hatte ich das Gefühl, dass sie mich nur noch wütender machen wollte. »Natürlich rufe ich an! Ihr seid ja gerade dabei, mein Leben zu zerstören!«
Dann schien sie mir endlich ihre Aufmerksamkeit zu schenken, denn natürlich wusste sie ganz genau, wovon ich sprach. »Louis, du machst gerade eine schwere Zeit der Veränderung durch. Ich weiß, dass es schwierig ist, sich von alten Verhaltensweisen zu trennen, aber du machst tolle Fortschritte. Ich habe doch gesehen, dass du es schaffst, dich immer weiter von deinem alten, kriminellen, ungezähmten Ich zu entfernen. Ich verstehe, dass das eine sehr schwere Zeit ist. Du suchst jetzt nur jemanden, an dem du deinen Zorn auslassen kannst.« Sie sprach mit mir, als wäre sie irgendeine Therapeutin. Und ich ein unzurechnungsfähiger Fünfjähriger.
»Mum, ich suche niemanden, an dem ich meinen Zorn auslassen kann! Aber ihr könnt nicht einfach ohne mein Wissen bestimmen, dass ich nach London fahre!«
»Es ist das Beste für dich. Morgen ist ein wirklich wichtiger Abend. Du bist-«
»Ja, Mum!«, fiel ich ihr ins Wort. »Morgen ist ein sehr wichtiger Abend. Und zwar genau hier, weil ich mich wirklich auf diesen Ball freue. Ich fühle mich hier wohl, okay? Ich mag die Leute hier und sie mögen mich. Ich fühle mich endlich richtig dazugehörig! Ihr könnt mir diesen Abend nicht nehmen! Ich werde nicht nach London fahren! Oder den dämlichen Anzug bügeln oder was sonst ihr versucht, mir aufzuzwingen!«
»Du brauchst den Anzug nicht zu bügeln, wenn du das gar nicht möchtest.«
»Es geht nicht um den Anzug!« Am liebsten hätte ich irgendeine Wand eingetreten. »Du tust ja so, als würdest du nicht mal verstehen, was ihr da tut!«
Sie schwieg für einen Moment, dann seufzte sie. »Ich hole deinen Vater ans Telefon.«
Ich sagte nichts, was sollte ich auch sagen? Ich würde nicht nach London fahren. Punkt. So einfach war das.
»Hallo Louis. Schön, von dir zu hören.«, meldete sich die geschäftliche Stimme meines Vaters. Höflichkeitsfloskel. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob mein Vater ein Mensch war.
»Ihr habt euch nicht mal getraut, es mir selbst zu sagen!«, stieg ich sofort ein, mein Vater würde mit Sicherheit keine Schwierigkeiten haben, mir zu folgen. »Ihr habt es Evelyn überlassen, weil ihr zu feige wart. Denn ihr wusstet ganz genau, dass ich es nicht wollen würde!«
»Du überreagierst, Louis.«, sagte er trocken.
»Nein, ich werde mich dort nicht hinschleppen lassen! Ihr könnt mich nicht zwingen!«
»Du wirst dort sein.«
»Ihr bevormundet mich!«
»Wir sind deine Eltern.«
»Und? Normale Eltern würden mich nicht dazu zwingen, den Ball ausfallen zu lassen!«
»Es geht dabei doch um dich, Louis. Du unterschätzt die Wichtigkeit des morgigen Abends. All die Leute kommen für dich.«
»Dann können sie auch für mich wieder gehen! Sag es ab, verschiebe es, was auch immer.«
»Louis, nein.«, sagte mein Vater plötzlich mit der Stimme, die ich erst ein paar Mal in meinem Leben gehört hatte. Sie hatte einen Anflug von Wut, Drohung und Unumstößlichkeit in sich. »Die Diskussion ist beendet. Es ist mir egal, wie viele hübsche Mädchen du dir für deinen kleinen Schulball gesichert hast, denn du wirst nicht dort sein. Dieses Thema ist jetzt abgeschlossen. Wir sehen uns morgen. Und lass den Anzug bügeln.«
Dann hatte er aufgelegt. Tränen der Wut sammelten sich in meinen Augen. Aber ich wischte sie weg, bevor sie über meine Wangen fließen konnten.
Ich war so schwach. Wieder hatten sie gewonnen. Sie taten einfach, was sie wollten und ich litt darunter.
Ich hatte mich so sehr auf diesen Ball gefreut. Es war eigentlich nicht zu glauben, dass ich mich jemals im Leben auf einen Ball freuen würde.
Ich wusste, dass ich es Harry erzählen musste. Harry. Für ihn war es noch so viel schlimmer.
Ich schloss den Flur zu den Telefonen wieder ab, rannte zu Evelyns Büro. Ich platzte ohne zu klopfen hinein und die Schulleiterin sah mich wissend an. »Es tut mir leid, Louis.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte das nicht hören. Es würde nichts ändern. Aus irgendeinem Grund schien ihr Harry beinahe genauso wichtig zu sein wie mir. Aber sie konnte ebenso wenig tun wie ich. Also war mir ihr Mitgefühl egal.
Ich legte den Schlüsselbund auf ihren Tisch. »Danke.«
Damit verließ ich ihr Büro wieder.
Auf direktem Weg lief ich nach oben. Mit jedem Schritt schienen Wut und Überraschung sich langsam in mir abzusetzen. Aber damit kam ein weiteres Gefühl zum Vorschein, mit dem ich nicht wirklich gerechnet hatte und das ich auch lange nicht mehr so empfunden hatte. Ich war traurig. Es begann, mich so traurig zu machen, dass ich mich leer fühlte. Ich hatte mich so sehr auf morgen gefreut.
Harry war nicht in unserem Zimmer (wie immer, wenn ich ihn dort suchte). Allerdings fand ich ihn und Niall in dem Zimmer des Iren. Sie saßen beide am Tisch und kritzelten begeistert auf einem gemeinsamen Blatt herum. Vielleicht zerbrach etwas in mir, als ich Harry lächeln sah. Diese Freude würde vermutlich nicht mehr lange halten.
»Hi.«, sagte ich mit schwachem Lächeln. »Es tut mir leid, Niall, aber ich muss dir Harry kurz entführen.«
Niall runzelte die Stirn skeptisch. Sie wussten, dass sie viele Seiten von mir kannten, aber nicht diese. Er nickte aber, Harry stand auf und ließ sich verständnislos von mir aus dem Zimmer führen.
»Ist alles okay, Lou?«, fragte er verwirrt und mit einem Anflug von Besorgnis. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass es eigentlich meine Eltern sein sollten, die sich um mein Wohlergehen sorgten.
Ich schloss die Tür unseres Zimmers hinter ihm, wir setzten uns auf mein Bett.
Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, nein. Ich muss dir was sagen, Harry, und, Gott, es tut mir so leid! Ich wünschte, ich könnte es ändern.«
»Hey, ist schon gut, Louis. Ich werde es überleben.«, sagte er beruhigend.
Ich nickte. »Das wirst du, ja. Aber du wirst enttäuscht sein. Ich bin eine schlechte Begleitung für den Ball.«
Harry hob fragend die Augenbrauen. »Was hat das mit dem Ball zu tun? Du bist keine schlechte Begleitung, ich möchte mit niemand Anderem hingehen!« Ich stellte mir vor, wie sehr mich diese Aussage gefreut hätte, wenn ich tatsächlich mit Harry gehen würde.
Ich seufzte. »Ich werde nicht mir dir zum Ball gehen.«
»Du- was?« In seinen Augen sah ich die Hoffnung, dass er mich nur falsch verstanden hatte.
»Meine Eltern holen mich nach London. Ich habe es selbst gerade eben erst von Evelyn erfahren. Ich habe mit ihnen telefoniert, aber ich habe keine Wahl.«
Er sah mich aus großen Augen an und ich war mir nicht sicher, ob er eine bestimmte Emotion zeigte. »Ist das wahr?«, fragte er dann leise.
»Ich wünschte, das wäre es nicht. Ich fühle mich so schlecht, Harry. Ich habe mich auf den Ball gefreut, ja, aber ich weiß, dass das nicht mit deiner Situation zu vergleichen ist.«
Harry biss sich auf die Unterlippe. Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Der Anblick zerfetzte mein Herz mit gnadenlosen Klauen.
Ohne zu zögern zog ich ihn in meine Arme. »Es tut mir leid«, wiederholte ich. Das war das Einzige, was ich für immer sagen wollte. Ich hatte Harry einen Traum erfüllt. Die letzte Woche lang war er selbst für seine Verhältnisse besonders sorglos und einfach glücklich gewesen. Und jetzt hatte ich diesen Traum zerstört, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Harrys Griff um meinen Oberkörper schrie nur noch mehr nach der plötzlichen Verzweiflung , nachdem ich ihm eben den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Aber er schaffte es irgendwie, nicht zu weinen. Also konnte auch ich stark bleiben.
Nach einer Weile löste er sich von mir und nickte mit bemüht tapferem Blick. »Viel Spaß in London, Lou.«
Dann lief er aus dem Zimmer, weil wir beide wussten, dass er die Tränen jetzt unmöglich noch zurückhalten konnte. Ich wusste, dass er in ein paar Sekunden bei Niall wäre. Dort wäre er wenigstens gut aufgehoben. Niall war immer eine sichere Wahl für ihn – niemand, der mal ebenso nach London verschwand.
Mit einer unerklärlichen Übelkeit im Magen stand ich auf und holte meinen Anzug aus dem Kleiderschrank, um ihn für morgen bügeln zu lassen.
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