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Louis
Zwischen Ferienende und Neujahrsball lag genau eine Schulwoche. Eine Woche, in der ich immer mehr realisierte, wie gut all das hier für mich war.
Ich gehörte hierher. Zu diesem Internat, der abgelegenen Ruhe, zu Liam und Niall. Und auch zu Harry. Ich begann mich in diesen Ort zu verlieben und konnte es nicht einmal bereuen. Dafür fühlte es sich einfach viel zu richtig an.
Langsam war ich nicht mehr ›Der Neue‹. Ich passte mich an und fügte mich ein und die Dinge fühlten sich so an, als wären sie nie anders gewesen. Als hätte ich schon mein Leben lang diese dämlich strikten Essenzeiten eingehalten, immer mit Niall in Algebra Tic-Tac-Toe gespielt – wobei ich schon längst all seine Taktiken kannte – und schon immer neben Liam morgens Zähne geputzt, während wir nuschelnd über Träume und vergessene Hausaufgaben redeten. Es fühlte sich so an, als hätte ich nie einen Abend verbracht, ohne mich mit Harry über Gott und die Welt zu unterhalten.
Die Anspannung zwischen uns war komplett verschwunden, nachdem wir darüber geredet hatten. Wir wussten beide, worauf wir uns einlassen würden – und dass noch nichts feststand.
Aber wir waren absolut okay damit. Vielleicht könnte es nicht besser sein.
•
Ich starrte an die Decke, obwohl die Dunkelheit mich nicht gerade viel erkennen ließ. Ich freute mich auf Freitag, das wurde mir jeden Tag mehr bewusst.
»Ich freue mich auf Freitag.«, sprach ich meine Gedanken aus und in der Stille wiederholten sich die Worte unzählige Male in meinem Kopf. Durch einen leichten Windstoß, der durch das Fenster von draußen kam, zog sich eine Gänsehaut über meinen nackten Oberkörper und ich zog meine Decke höher.
»Ich freue mich auch.«, antwortete Harry dann, er sprach ruhig und sanft, die allmähliche Müdigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich sah ihn nicht, er lag in seinem Bett, ich in meinem und ich war mir sicher, dass er ebenso wie ich auf dem Rücken lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und an die Decke sah.
»Hey Louis?«
Ich nickte, dann fiel mir auf, dass er mich nicht sehen konnte. »Mmh?«
»Warst du schon mal auf einem Ball?«, fragte er leise, als wäre es eine unangemessene Frage.
Ich musste ein Prusten zurückhalten. Als ich mich deswegen sicher fühlte, antwortete ich ihm. »Ja, schon viele Male. So oft. Es gehört dazu, meine Eltern haben mich zu so vielen langweiligen Bällen mitgenommen, ich hätte nicht zählen können. Wieso? Warst du nie auf einem?«
»Nur bei den Neujahrsbällen der Schule.« Ich dachte darüber nach, dass Harry ziemliches Glück mit seinen Eltern hatte. Vielleicht hatten sie Jobs, bei denen man viel Geld verdiente, aber die nicht zu dieser ganzen Highsociety gehörten, eventuell Piloten (das würde auch erklären, wieso Harry in den Herbstferien nicht zu ihnen gekonnt hatte). Vielleicht waren sie auch einfach Erben eines Vermögens, ohne selbst etwas damit zu tun zu haben. Oder sie waren ganz einfach anständig und hatten Harry nicht zu solchen dämlichen Ereignissen mitgeschleppt. Harrys Eltern wurden mir immer sympathischer.
»Bist du alleine zu diesen Bällen gegangen?«, fragte Harry weiter.
»Naja«, versuchte ich, es ihm zu erklären, »Ich habe nie meine echten Freundinnen mitgenommen. Die waren sehr selten gesellschaftstauglich. Aber ich hatte trotzdem das ein oder andere Mal Begleitungen, das waren meistens irgendwelche Töchter von Geschäftspartnern, an deren Seite ich gut aussah. Und sie an meiner. Es waren aber nie richtige Dates, nur arrangierte Höflichkeiten.«
Nachdem ich geendet hatte, legte sich eine Stille über uns. Denn mein letzter Satz hatte bei uns beiden zweifellos die gleiche Frage ausgelöst. War Harry für den Ball mein ›richtiges Date‹? War ich seines?
Aber keiner von uns sprach die Frage aus, also musste auch niemand eine Antwort finden.
»Morgen ist schon Donnerstag.«, sagte Harry dann nach einer Weile. »Die Zeit fliegt. Übermorgen ist dann schon der Ball. Du bist erst seit dreieinhalb Monaten hier, Louis. So fühlt es sich nicht an.« Ich musste lächeln, weil er damit genau meine Gedanken aussprach. Ich murmelte etwas Zustimmendes, was wohl weder er noch ich so richtig verstehen konnten.
Leise gähnte Harry und das Geräusch verlor sich in dem dunklen Zimmer.
Ich lag noch bestimmt eine Viertelstunde so da und dachte über alles Mögliche nach, auch wenn ich meinen Gedanken nicht immer ganz hinterherzukommen schien.
Als ich die Müdigkeit auch deutlich auf meinen Augenlidern spüren konnte, drehte ich mich auf die Seite und zog die Decke fest um meinen Oberkörper.
»Schlaf gut, Harry.«, sagte ich leise, erhielt aber keine Antwort mehr.
•
Der Donnerstagvormittag verging schnell. Nach dem Mittag gingen Liam und ich in die Bibliothek für ein Englischprojekt.
Ich konnte mich nicht wirklich gut konzentrieren. Ich freute mich wohl mehr auf morgen, als ich es mir bisher hatte eingestehen wollen. Wenigstens musste ich mir keine Gedanken darüber machen, was ich mir anziehen wollte.
Ich hatte schon ein paar Pläne gemacht. Ich war zwar derjenige an dieser Schule, der den Neujahrsball am schlechtesten kannte, aber trotzdem wollte ich vorbereitet sein. Und vor allem wollte ich, dass es für Harry ein schöner Abend werden würde. Er schwärmte so sehr von dem alljährlichen Ball, ich musste morgen einfach zu etwas Besonderem machen.
Zum Glück war aber auch Liam nicht mehr ganz bei der Sache, weswegen er mir meine schlechte Konzentration nicht übel nahm.
Nach einer halben Stunde, nahm ich mir eine Pause, um uns beiden einen warmen Tee zu holen. Zu etwas Nützlicherem war ich wahrscheinlich sowieso nicht in der Lage.
Ich wollte gerade den Speisesaal betreten, als mein Name vom anderen Ende des Ganges gerufen wurde. Überrascht sah ich Evelyn auf mich zukommen.
Sie lächelte – wie immer – als sie vor mir zum Stehen kam. Ich sagte nichts, sondern wartete darauf, dass sie sprach.
»Ich wollte dich nur daran erinnern dass du deinen Anzug nachher noch zum Bügeln in den Keller bringst.«
Ich runzelte fragend die Stirn. »Bügeln? Wieso soll mein Anzug gebügelt werden?« Ich dachte daran, wie makel- und faltenlos Anzug und Hemd in meinem Kleiderschrank hingen. Außerdem machten die anderen auch nichts mehr mit ihren Anzügen.
»Das haben deine Eltern sich gewünscht. Du sollst doch einen guten Eindruck machen.«
Das war einer dieser Momente, an denen ich meine Eltern wieder verfluchen könnte. Sie schrieben mir sogar vor, was ich zu tun hatte, wenn sie in London waren und ich hier. »Wieso? Was hat das mit meinen Eltern zu tun? Sie sollen mir nicht sagen, was ich auf dem Ball tun oder tragen soll.«
»Louis, es geht nicht um den-«, plötzlich verschwand ihr Lächeln, »Oh Gott, sie haben es dir nicht gesagt.« Der Ausdruck des Realisierens auf ihrem Gesicht erklärte rein gar nichts. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon sie sprach.
Evelyn strich sich einige Haare aus der Stirn und seufzte. »Komm bitte mal mit in mein Büro, Louis.«
Weil das der einzige Weg zu sein schien, wie ich irgendwie aufgeklärt werden konnte, tat ich das auch.
Ich setzte mich auf einen der gepolsterten Stühle, während Evelyn kurz zu überlegen schien und sich dann halb auf ihre Tischkante setzte. Sie strich ihren Rock glatt und sah mich nachdenklich an.
»Also gut. Das haben deine Eltern nun weder mir noch dir besonders einfach gemacht. Ich hätte mir wahrscheinlich denken können, dass sie es dir noch nicht erzählt haben. Ich war schon überrascht, dass du so gut darauf reagierst.«
»Worauf?« Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln, ich spannte mich an. Was auch immer mir meine Eltern verschwiegen hatten; ich musste wenigstens wissen, ob es gut oder schlecht war.
Wieder seufzte Evelyn und meine Hoffnungen sanken, dass es eine gute Nachricht war. Was wäre, wenn meine Eltern zum Ball kommen würden? Wenn ich deswegen den Anzug bügeln sollte. Oh Gott, bitte nicht. Das wäre definitiv das Schlimmste, was passieren könnte. Vielleicht kamen manchmal einige Schülereltern zum Neujahrsball. Oder vielleicht waren meine Eltern auch einfach nur taktlos und kontrollbesessen über ihren Sohn – wie eigentlich immer. Ich konnte jetzt nur beten, dass das nicht die Wahrheit war.
»Werden meine Eltern dort sein?«, fragte ich aus Angst, dass es stimmen könnte.
»Wo?«
»Auf dem Ball?«
Meine Schulleiterin schüttelte den Kopf. »Nein! Natürlich nicht. Es ist ein Schülerball. Keine Eltern erlaubt.«
Erleichtert ließ ich meine Schultern fallen. Gottseidank. »Was ist es dann?«
»Du wirst morgen nicht am Neujahrsball teilnehmen, Louis.«
Meine Kinnlade klappte herunter. »Was?«
»Ich weiß, dass es dir nicht gefällt. Deine Eltern veranstalten morgen ein Geschäftsessen, vielleicht sogar eher eine ganze Feier. Sie haben es nicht gesagt, aber es geht um deine Zukunft, Louis. Du weißt, dass deine Eltern dich in das Tomlinson-Geschäft aufnehmen wollen, das wird keine Überraschung für dich sein. Morgen werden eine Menge Leute da sein, wichtige Leute, die dir viele Türen öffnen können. Und du wirst dort sein. Gegen zehn Uhr morgens will euer Chauffeur hier sein. Du wirst mit ihm fahren, dein Anzug wird gebügelt sein. Sonntagnachmittag bist du wieder hier. Es tut mir leid, Louis. Der Neujahrsball fällt für dich aus.«
Jetzt hatte ich die Fäuste wirklich geballt. »Das ist ein Scherz, oder?« Meine Stimme war lauter, als ich es beabsichtigte, aber ich dachte nicht einmal daran, sie zu senken. »Ich werde nicht gehen!«
Evelyns Blick war mitleidig und verständnisvoll. Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Diese Wahl hast du leider nicht. Und ich ebenso wenig.«
»Wieso darf ich das überhaupt?« Meine eigene Lautstärke hallte in meinem Kopf. »Diese Schule schreibt sich ihre Strenge quasi auf die Fahnen! Alle Schüler werden gleich behandelt, es gibt strikte Regeln! Wie können Sie mich dann einfach für ein Wochenende nach Hause fahren lassen?«
»Bitte beruhige dich, Louis. An unserer Schule geht es nicht darum, euch einfach streng zu behandeln. Das tun wir, weil es für die Kreise, in denen wir uns bewegen, sehr wichtig ist. Unser Ziel ist es nicht, euch zu erziehen. Wir tun nicht alles, damit ihr Manieren lernt, sondern damit ihr die besten Voraussetzungen für eure Zukunft habt. Und dieses Essen ist sehr wichtig für deine Zukunft.«
»Ich werde nicht hingehen. Ich bleibe. Ich gehe zum Ball. Mit Harry.«
»Ich weiß, dass du es nicht willst, nicht für dich und nicht für Harry.«
»Nicht für Harry! Er freut sich so sehr, er hatte noch nie eine Begleitung. Ich werde morgen Abend mit ihm zum Neujahrsball gehen!«
Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich habe bereits mit deinen Eltern geredet und versucht, sie dazu zu überreden, es zu verschieben. Du fährst morgen nach London, Louis.«
Die Wut in mir brodelte. Evelyn tat mir beinahe leid, dass sie nun das Opfer meines Zorns war, wobei sie ja auf meiner Seite zu sein schien. Aber dafür hatte ich gerade wenig übrig.
Geräuschvoll schob ich den Stuhl auf dem Boden zurück, Evelyns Schultern zuckten unmerklich.
»Lassen Sie mich telefonieren, Evelyn! Bitte, ich brauche die Schlüssel.«
Sie zögerte für einen Sekundenbruchteil, dann nickte sie und holte aus einer der Schubladen einen Schlüsselbund.
»Viel Glück, Louis.«
Ich konnte hören, dass sie es ernst meinte, aber ich hörte genauso, dass sie nicht daran glaubte, dass ich Erfolg haben würde. Doch das würde ich. Niemand konnte mir verbieten, mit Harry zum Neujahrsball zu gehen.
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