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Louis
Sobald das Auto zum Stehen kam, schnallte ich mich ab. »Danke, Nathan.« Ich nickte dem Chauffeur unserer Familie mit flüchtigem Lächeln zu und schloss die Beifahrertür schon wieder, bevor ich seine Antwort hören konnte. Ich holte meine Sachen aus dem Kofferraum und lief dann sofort auf das große Gebäude zu.
In der Eingangshalle war es – wie typisch für die An- und Abreisetage – ziemlich voll und wuselig. Eine hässliche, glitzernde Happy-New-Year-Girlande spannte sich gleich über den Eingang.
Ich steuerte die Treppe nach oben an und war erstaunlich schnell, während ich mich zwischen den anderen Schülern hindurchschlängelte.
Ich hatte die beste Laune jemals an einem letzten Ferientag. Mein Unterbewusstsein wusste auch ganz genau woran das lag, aber ich erlaubte mir nicht, diesen Gedanken bewusst zu formen.
Die Stufen dieser Schule waren schon bekannter, als ich es in so kurzer Zeit für möglich gehalten hatte. Und trotzdem fiel ich sie fast rückwärts wieder herunter, als jemand in mich hineinlief.
Mir lag schon ein geschockter Schrei auf den Lippen, als eine fremde Hand um mein Handgelenk mein Gleichgewicht wiederherstellte.
»Tut mir wirklich- Louis!« Erst waren die grünen Augen groß vor Schreck gewesen; als er realisierte, dass ich es war, lächelte er erfreut.
»Hi Harry.« Mit meiner freien Hand strich ich mir selbst richtend über den Oberkörper. »Ich hätte nicht weniger von dir erwartet, als mich zur Begrüßung beinahe eine Treppe runter zu schmeißen.«
Mit schuldbewusstem, aber amüsierten Lächeln sah er auf den Boden. »Tut mir leid. Ich hatte meine Augen und Gedanken wohl nicht dort, wo sie hätten sein sollen.«
»Sie hätten bei mir sein sollen.«, sagte ich und verstand erst, als sich eine blasse Röte auf Harrys Wangen legte, dass die Worte noch anders interpretiert werden konnten. Aber irgendwie fühlte ich nicht die Notwendigkeit, das Missverständnis aufzuklären.
Jetzt, wo ich mich langsam von dem plötzlichen Schrecken und dem beinahen Fall in den Tod erholt hatte und Harry so vor mir stand, realisierte ich wieder, wie sehr ich ihn über die wenigen Tage vermisst hatte. Er sah toll aus, seine Augen leuchteten und er sah sogar für Harry-Maßstäbe außergewöhnlich glücklich aus. Als Grund dafür würde ich auf Familie tippen. Wahrscheinlich hatte er sich über die Feiertage wieder mit seinen Eltern versöhnt und trug jetzt eine Sorge weniger mit sich.
Seine Lippen formten sich plötzlich zu einem O, als er begriff, dass er noch immer mein Handgelenk umfasste. Er ließ es los und sofort wünschte ich mir die Hand zurück. Aber ich sagte es ihm nicht.
»Danke für den Geburtstagsbrief«, sagte ich stattdessen und beschloss, ihm nicht davon zu erzählen, dass er zuhause an meiner Wand hing.
Harry grinste schief. »Ich war mir nicht sicher, ob du es vielleicht hassen würdest. Den Brief abzuschicken, war schon ein kleines Risiko. Was, wenn du unheimlich wütend gewesen wärst?«
Ein sanftes Lachen entstand in meiner Kehle und ich verdrehte die Augen. »Mit Sicherheit«, sagte ich sarkastisch. »Vielleicht wäre ich komplett vor Wut ausgerastet. Ich hätte dann vielleicht als Rache deine süßen Locken geglättet. Oder dich gezwungen, mir dein Erstgeborenes zu überlassen. Da bist du wirklich ein verdammt großes Risiko eingegangen, Harry Styles! Sei froh, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
Harry sah mich unsicher an und verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Dann zuckte er überfordert mit den Schultern. »Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn du sarkastisch bist.«, gestand er und ich empfand den spontanen Drang, ihn in die Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen.
Auch das ließ ich sein.
Ich spürte eine gewisse Anspannung zwischen uns, als wäre ich nicht der einzige, der etwas tun wollte, es aber nicht tat. Es war keine angenehme Spannung (gab es überhaupt angenehme Spannungen?) und ich suchte verzweifelt nach etwas, das ich sagen konnte. Es fiel mir nichts ein. Harry schien es ebenso zu gehen.
Nur fehlten mir die Worte dieses Mal nicht, weil ich mich wieder in Harrys Augen verloren hatte oder Ähnliches. Es lag etwas ganz Anderes zwischen uns – nichts vergleichbar Gutes. Und wenn mir nicht bald ein sinnvoller Satz einfallen würde, müsste ich wohl schreien.
»Hey! Frohes Neues Jahr!«
Ich war noch nie so froh gewesen, Nialls Stimme zu hören. Bevor ich ihn überhaupt sah, fiel er mir um den Hals. Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. »Bist du auch endlich da, Tomlinson?«, fragte er überschwänglich und als sein Mund direkt an meinem Ohr war, hauchte er, »Du hast Harry zum Ball eingeladen. Wir müssen reden.
Schön, dass du zurück bist!«, schrie er dann wieder förmlich und das zweite Mal an diesem Tag wäre ich beinahe rückwärts die Treppe heruntergefallen.
Ich runzelte die Stirn und musterte den Iren kurz nachdenklich. Natürlich hatte Harry es ihm erzählt, etwas anderes hatte ich nicht erwartet. »Hi Niall.«, begrüßte ich ihn knapp. Er sah uns erwartungsvoll an, als hätte er uns in der Mitte eines interessanten Gespräches gestört, das jetzt unbedingt mit seiner Teilhabe fortgesetzt werden musste. Weil das leider nicht der Fall war, ließ ich mir möglichst schnell etwas Alternatives einfallen.
»Ist Liam schon da?«, fragte ich und noch als ich die Worte aussprach, ärgerte ich mich, dass mir das nicht schon eben mit Harry eingefallen war.
»Ja«, sagten Niall und Harry gleichzeitig, was Harry zum Lachen brachte und endlich die Situation zu lockern schien.
»Super«, seufzte ich erleichtert und hob meinen Koffer an. »Dann können wir hochgehen und ich werde das hier auch endlich los.«
Harry schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit, ich war eigentlich gerade auf dem Weg nach unten. Wir sehen uns nachher, spätestens beim Essen.« Er lächelte und deutete ein halbes Winken an. Dann lief er an mir vorbei die Stufen herunter.
»Gut«, sagte Niall. »Lass uns deine Sachen wegbringen.«
Ich nickte und folgte ihm in nach oben.
Unser Zimmer sah genauso aus, wie als ich es verlassen hatte. Harry schien nach den vielen Jahren im Internat schon geübt im notwendigen Ein- und Auspacken für die Ferien zu sein. Eine Gewohnheit, auf die ich definitiv neidisch war, denn es grauste mir jetzt schon davor, meine Sachen später wieder auspacken zu müssen.
Nachdem ich also mein Gepäck und auch meine dicke Winterjacke losgeworden war, machten Niall und ich uns auf den Weg zu Liam.
Dachte ich zumindest.
»Halt, Moment. Das ist das falsche Zimmer.«, stellte ich fest, als mir auffiel, dass wir uns in Nialls Zimmer befanden. »Wir wollten doch zu Liam.«
»Der kann warten.« Niall schloss die Tür und zog dann einen der Stühle auf die freie Fläche des Raumes. »Setz dich, Louis.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was jetzt schon wieder ablief, aber meistens war es das Beste, sich einfach auf Nialls kleine Spielchen einzulassen. Er schob mir den Stuhl von hinten in die Knie, sodass mir sowieso keine andere Wahl blieb.
»Frage alle Menschen auf der Welt nach einem beliebigen Wort. Dann schreibe aus diesen Wörtern ein Buch, das öfter verkauft wird, als die Bibel und alle Harry-Potter-Bücher jemals. Du lässt dir das Geld ausschließlich in 5-Pfund-Noten auszahlen, die du zusammennähst und damit das Ozonloch über Australien schließt, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Du hast zwölf Minuten Zeit.« Geschäftsmäßig setzte Niall sich auf den Tisch.
»Was zur Hölle, Niall?!« Ich starrte ihn absolut verständnislos an.
Er faltete die Hände in seinem Schoß. »Das ist die Aufgabe, die ich drei Tage, nachdem ich Harry kennengelernt habe, für jeden seiner zukünftigen Verehrer entworfen habe. Wer besteht, bekommt die offizielle Erlaubnis, den Jungen mit dem goldenen Herzen zu daten. Harry Styles.«
Ich hatte schon immer gewusst, dass dieser Junge komplett irre war. »Niall, ich werde mich nicht von den Auflagen der Bibel oder dem Klimawandel davon abhalten lassen, mit Harry zu diesem Ball zu gehen! Und schon gar nicht von dir! Du kannst mir nicht verbieten, mit Harry auszugehen.«
»Das kann ich schon.«, stellte er fachlich fest. »Aber du hast Glück, Snoblinson. Normalerweise gibt es keine Ausnahmen. Wärst du jemand anders, dann würden deine zwölf Minuten längst laufen und du solltest langsam damit beginnen, mit allen Menschen der Welt zu reden. Aber du wirst von dieser Prüfung ausgenommen.«
Ich runzelte die Stirn und auch wenn ich mich nicht auf diesen Schwachsinn einlassen sollte, sah ich ihn fragend an. »Wieso?«
»Ich habe meine Gründe, aber das lass mal meine Sorge sein. Sei einfach froh, denn irgendetwas sagt mir, dass du meiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen wärst.«
»Du musst ein Hellseher sein.«, sagte ich sarkastisch, Niall tat so, als hätte er es nicht gehört.
»Jedenfalls erteile ich dir hiermit die offizielle Erlaubnis, Harry zum Ball auszuführen.« Mit zufriedener Miene klopfte er sich selbst auf die Schulter.
»Darauf lief dieses dämliche Gespräch hinaus? Dass du mir eine Chance bei Harry erlaubst?«
Niall nickte, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Und um dir zu sagen, dass meine wunderschönen und makellos gutherzig wirkenden Gesichtszüge täuschen. Ich bin bereit, schmerzhaft zu foltern, solltest du Harry auch nur ein Haar krümmen.« Er räusperte sich und verlor dann urplötzlich den ernsten Ausdruck. Er lächelte sein typisches Niall-Kartoffel-Lächeln. »Okay, danke Louis! Du kannst dann gehen.« Er deutete auf die Tür und langsam stand ich auf, um das Zimmer zu verlassen.
Als ich auf den Flur trat, war ich mir sehr sicher, dass Niall die schrägste Person auf diesem Planeten war.
•
Es war schön, wieder gesprächig mit meinen Freunden zu essen, anstatt still mit meinen Eltern an einem Tisch zu sitzen.
Nach dem Essen meinte Niall, er und Liam müssten noch die Seesterne, die sie gemeinsam gezähmt hatten, füttern gehen und zog Liam – der genauso irritiert war wie wir anderen – mit sich.
Im ersten Moment war ich ganz froh, dass Harry und ich jetzt wieder alleine waren. So gern ich die Gesellschaft von Niall und Liam auch hatte, Harry nur für mich zu haben, gefiel mir immer besser.
Zumindest dachte ich, dass ihr Verschwinden etwas Gutes wäre. Doch schon als wir die Treppe nach oben betraten, spürte ich die seltsame Anspannung von vorhin wieder über uns sinken. Wir schwiegen beide krampfhaft, bis wir einander gegenüber in unserem Zimmer saßen.
Und dann schoss mir plötzlich eine Vorstellung in den Kopf, bei der ich mich beinahe übergeben könnte.
Ich hatte mit Harry zum Ball gehen wollen, weil ich dem Ganzen hier eine Chance geben wollte. Weil ich glaubte, dass ich nicht mehr nur noch Freundschaft empfand und herausfinden musste, ob es stimmte. Ich wollte herausfinden, ob ein Harry und Louis funktionieren könnte.
Aber was war, wenn diese nicht zu leugnende, schreckliche Anspannung zwischen uns beiden schon die verfrühte Antwort darauf war? Was, wenn sie ein Nein war? Wenn sie ein Zeichen dafür war, dass es nicht funktionieren könnte, weil wir nicht mal vernünftig miteinander reden konnten?
Ich zwang mich, nicht über diese Möglichkeit nachzudenken. Ich musste Harry nur ansehen und mir wurde angenehm warm, ganz egal, ob es angespannt zwischen uns war oder nicht. Und das konnte nicht Nichts bedeuten, oder?
Harry atmete seufzend aus und baute plötzlich einen so intensiven Augenkontakt auf, dass ich in dieser Sekunde ganz sicher nicht mehr wusste, wie mein eigener Name war.
»Wir müssen reden.«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich blinzelte, um der Magie seines Blickes zu entkommen. »Ich weiß.«
»Also. Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Es ist nicht, als hätte sich nichts verändert, weil du mich zum Ball eingeladen hast.« Ich nickte nur, um ihm zu bedeuten, weiter zu reden. »Hör zu, Louis. Ich bin schwul und-«
Ich konnte nicht verhindern, dass ich lachen musste. »Nichts Neues, Kleiner.«
Harry hob seine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Richtig, es ist nichts Neues. Aber es ist noch immer wahr. Denn das Einzige, was wir tun können, ist, uns auf die Fakten zu konzentrieren. Wenn wir sonst nichts haben.
Ich bin schwul. Und du bist es nicht. Ja, ich weiß, dass das nichts ausschließt, und ich bin ganz bestimmt der Letzte, der dir irgendetwas zu deiner Sexualität vorschreibt. Darum geht es auch gar nicht. Wir müssen ehrlich sein, über unsere größten Sorgen sprechen. Ich weiß, dass ich schwul bin. Und alles, was ich sicher über dich sagen kann, ist, dass du mich deswegen schon zu Tränen getrieben hast. Nein, sieh mich nicht so an! Ich werfe dir nichts vor, nichts, was du jetzt bist. Ich weiß, dass du dich geändert hast und ich weiß, dass ich mir gewünscht habe, mit dir zum Ball zu gehen, lange bevor der erste Schnee fiel. Aber ich habe Angst. Es hat Niall und ein paar Stunden nur für mich und meine Gedanken gebraucht, bis ich das verstanden habe. Ich habe Angst vor so vielen Dingen, die passieren könnten, wenn wir das hier tun. Aber ich will es.«
Ich war mir nicht sicher, ob er fertig war, aber als er wirklich nichts mehr zu sagen schien, legte ich eine Hand in die Tischmitte. Nach kurzem Zögern nahm Harry die wortlose Aufforderung an und legte seine Hand sanft hinein. Ich umfasste seine Finger nicht, ließ seine Hand einfach nur in meiner ruhen, während ich ihn ansah.
»Ich verstehe, dass du Angst hast. Aus deiner Situation ist das vermutlich verständlich und es gibt keinen Weg, dir zu beweisen, dass du keine Angst haben musst. Zumindest nicht vor mir.
Aber all das spielt keine Rolle, denn es gibt eigentlich nur eine Sache, die von Bedeutung ist.
Ich wollte dich zum Neujahrsball mitnehmen, weil es perfekt ist, um herauszufinden, was richtig ist und was manche Dinge bedeuten. Ich will dich zum Neujahrsball mitnehmen.
Harry. Ich mag dich. Und ich glaube ehrlich, dass wir eine Chance verdient haben.«
Harry sah mich für eine Weile an. Dann lächelte er sanft. »Du hast schon die erste meiner Ängste beseitigt.« Überrascht hob ich die Augenbrauen. »Ich hatte Angst, dass du mich aus Mitleid beim Ball dabei haben willst. Damit ich auch mal eine Begleitung habe.«
Ich schüttelte einfach nur den Kopf, denn das war für uns beide ausreichend Wahrheit. Dann zog Harry seine Hand zurück, ich meine danach.
Es war gut, dass wir miteinander geredet hatten. Wir mussten uns aussprechen, manchmal waren Worte der beste Weg.
Harry schob seinen Stuhl zurück. »Ich werde mal nachsehen, wie es den Seesternen geht. Ob Liam und Niall noch am Leben sind.«
Halb grinsend stand ich ebenfalls auf. »Ich komme mit. Lass uns nach den beiden sehen.«
Also gingen wir gemeinsam wieder runter. Ich war ziemlich glücklich, weil mir in diesem Moment zum ersten Mal bewusst wurde, wie viele gute Sachen passieren konnten.
Es lag allein an Harry und mir, wie sie sich ergeben würden.
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