• 39 •
Harry
Als wir wieder an der Schule ankamen, rannte ich sofort zu Niall. Den Schnee schüttelte ich hektisch von meiner Jacke, die Mütze hätte ich fast aufbehalten.
Nachdem ich die Kleidung weggebracht hatte, platzte ich in Nialls Zimmer und dankte Liam in meinem Kopf dafür, dass er nicht auch hier war.
Als ich die Tür aufriss, zuckte Niall nicht mal zusammen. Vielleicht gewöhnte man sich in vier Jahren an gelegentliche Impulsivität.
Schnell schloss ich die Tür hinter mir.
»Wir hätten uns geküsst! Du hast keine Ahnung, es war perfekt! Er hatte seinen Arm um meine Taille! Es war so gut, alles hat gekribbelt. Ich wusste, dass meine Tollpatschigkeit nochmal nützlich sein würde!«
Niall hob überrascht die Augenbrauen. »Wow. Okay. Ihr kriegt es nicht auf die Reihe, oder?«
Ich sah ihn vorwurfsvoll an und stemmte einen Arm in die Hüfte. »›Ihr kriegt es nicht auf die Reihe, oder?‹ Ha ha, Niall. Man kriegt so etwas nicht einfach ›auf die Reihe‹. Ich zweifle noch immer ziemlich stark an Louis' Absichten, aber dieses Gespräch brauchen wir jetzt nicht nochmal zu führen. Das führt zu nichts, Louis würde nicht so ohne Weiteres einen Jungen küssen, das spräche so ungefähr gegen alles, was ihn ausmacht.«
Niall runzelte die Stirn und sah mich mitleidig an. »Also hat er es verhindert? War er unsicher? Oder hat er dich weggestoßen? Bitte sag nicht, dass er dir gesagt hat, dass du ihn bedrängst oder er auf Mädchen steht!« Er sah mich mitleidig an, als könnte ich jeden Moment in Tränen ausbrechen, wenn Louis mich gerade abserviert hatte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Glücklicherweise. Ich habe es verhindert.«
Die blauen Augen sahen aus, als würden sie gleich aus ihren Höhlen fallen. »Warte. Ist das ein Scherz? Du?!«
Wieder nickte ich. »Ja, ich. Zum Glück habe ich das getan.«
Falls das möglich war, sah er mich jetzt noch entgeisterter an. Als würde ich mich vor seinen Augen in einen Dinosaurier verwandeln. »›Zum Glück‹?! Harry, bist du gesund? Wieso ist es gut, dass ein Kuss zwischen dir und Louis verhindert wurde? Wieso hast du ihn verhindert?!«
»Ich weiß, es ist ein wenig verwirrend, ich hätte es am Anfang auch nicht verstanden. Aber zum Glück ist es mir noch rechtzeitig eingefallen!«
»Was denn?!«
»Dass ich noch nie geküsst habe.«, erklärte ich, als wäre es ganz offensichtlich – was es ja auch war. »Ich habe noch nie irgendjemanden geküsst, wie soll ich dann Louis küssen? Wie soll ich ihn gut küssen? Es gibt so schon genügend Probleme, ich müsste ihn erstmal davon überzeugen, dass er auch auf Jungs stehen kann. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht gerade helfen würde, wenn ich keine Ahnung hätte, was ich bei dem Kuss tun soll und es einfach nur...seltsam wäre. Er hat schon so viele Mädchen geküsst, wie könnte ich da mithalten, wenn ich noch nie in meinem Leben jemanden geküsst habe?«
Als Nialls Handfläche seine Stirn traf, knallte es dramatisch. »Ich hoffe sehr, dass das ein Scherz sein soll! Spinnst du, Harry? Du träumst dein ganzes Leben von einem märchenhaften ersten Kuss und dann erzählst du mir, dass du genau diesen verhinderst, weil er dein erster Kuss ist?! Das ergibt keinen Sinn!«
»Natürlich tut es das. Ich will Louis ja nicht gleich vergraulen.«
Niall verdrehte die Augen so sehr, dass er wahrscheinlich beinahe die Innenseite seines Kopfes sehen konnte. »Das würdest du nicht, Harry! Okay, hör mir zu.
Erstens; Wenn Louis dich küssen würde, wäre allein die Tatsache, dass er das tut, für dich genug, um zu wissen, dass die größten Probleme für ihn überwunden sind. War das ein Satz? Egal. Harry, sei nicht beleidigt, aber du bist kein Mädchen. Und damit widersprichst du allem, wozu Louis sich hingezogen fühlt. Eigentlich. Wenn er dich also küssen würde, oder es auch nur versucht, wäre das schon der Jackpot.
Zweitens; In einer Beziehung geht es nicht ums Küssen. Das weißt du so gut wie ich, denn deine pathetisch romantische Vorstellung von Liebe kommt aus dem Herzen und nicht von den Lippen. Wenn Louis dich küssen würde, dann weil er etwas für dich empfindet, nicht weil er einen guten Kuss will. Denn wenn er einfach nur gut küssen will, wieso würde er dann einen Jungen küssen? Was spräche gegen die altbewährten Mädchen? Nichts, richtig. Es sei denn, er will dich küssen, weil er dich mag und dich einfach küssen will. Und wenn er das will, dann ist das ganz bestimmt der falsche Moment, um ihn wegzustoßen, nur weil du nicht weißt, wie.
Drittens; Du wartest dein ganzes Leben auf diesen Moment, erster Kuss. Und weißt du, was den ersten Kuss besonders macht? Dass es der erste ist. Verstehst du, es soll so sein, dass du nicht weißt, was du machen sollst. Du wirst es wissen, wenn du es tust, okay? Lass es einfach geschehen.
Und viertens; ich weiß nicht, was du dir als Lösung vorstellst. Denn wenn du Louis nicht küssen willst, weil du noch nie geküsst hast, dann wirst du auch niemals irgendjemanden küssen. Was willst du machen? Üben? Das ist lächerlich. Und um das klarzustellen; ich werde dich ganz sicher nicht küssen.
Halt- bevor du jetzt was sagst; möchtest du wissen, was ich für das eigentliche Problem halte? Ich glaube nicht, dass du Angst davor hast, Louis falsch zu küssen. Du hast Angst davor, dass es das Falsche ist. In deiner süßen Vorstellung erklingen Fanfaren und fallen Rosenblätter vom Himmel, sobald du deinen ersten Kuss hast. Du und dein Prinz seid dann glücklich, alles ist perfekt, ihr heiratet, Happy End. Du hast Angst, dass Louis nicht dieser Prinz ist. Was danach passiert. Oder dass es dir nicht gefällt. Du hast Angst davor, dass die Vorstellung von Liebe besser ist, als die Liebe selbst.
Und wow. Ich habe noch nie so oft ›küssen‹ und ›Kuss‹ wie gerade eben gesagt.«
Erst wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte darüber nach, was Niall gesagt hatte, aber...ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.
»Was muss ich Ihnen für diese Diagnose bezahlen, Doktor Horan?«, fragte ich, als mir bewusst wurde, dass sich nichts Sinnvolles mehr in meinem Kopf bilden würde.
Niall grinste und schüttelte leicht den Kopf. »Nichts. Du musst dir nur eingestehen, dass ich Recht habe. Und meinen professionellen Rat befolgen.«
Ich hob die Augenbrauen. »Der da wäre?«
Sein Grinsen wurde breiter. »Nicht schwer. Küss ihn!« Er formte einen Kussmund und streckte die Arme nach mir aus. Er versuchte, mich am Handgelenk zu packen, aber ich zog es rechtzeitig weg. Nur stattdessen schloss er seine Hände dann fest um mein Gesicht und ich kniff die Augen zusammen, als er mir mit einem Schmatzen entschlossen einen Kuss auf die Wange drückte.
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»Wie sieht es mit euren Ferienplänen aus?«, fragte Liam, während er mit seinem Finger und einem verträumten Blick Wörter auf das Holz der Tischplatte schrieb. Ich konnte noch immer nicht sagen, was es war, das er seit ungefähr einer halben Stunde versuchte, dort zu verewigen.
Niall zeigte mit einem Apfelstück auf das Tannengesteck in der Mitte des Tisches. »Ich fahre nach Hause.«, sagte er und schob sich das Obst zwischen die Zähne. »Natürlich. Müssen wir ja auch. Es ist Weihnachten. Ich verpasse garantiert nicht das beste Fest des Jahres!«
»Ich fahre auch. Die gesamte Familie kommt, wie jedes Jahr. Und Silvester sind wir dieses Jahr als Gastgeber an der Reihe, also ein wichtiger Abend.«, berichtete Liam und zwang meinen Blick auf meine eigenen Finger. »Wie sieht es mit dir aus, Louis? Ist Weihnachten auch so hoch im Kurs bei euch?«
Louis verzog sein Gesicht, als wäre ihm übel. »Nein, unendlich nervig. Und ich hatte eigentlich geplant, die Weihnachtsferien auch wieder hierzubleiben. Aber wir müssen ja alle nach Hause. ›Weihnachten hat das Internat geschlossen‹«, wiederholte Louis meine Worte von heute morgen verächtlich, als ich ihm erzählt hatte, dass über die Weihnachtsferien alle Schüler nach Hause fahren mussten, »Also muss ich leider nach Hause. Ich überlege mir noch, ob ich mit meinen Eltern reden werde.« Er zuckte mit den Schultern.
Liam runzelte die Stirn. »Du bist immer noch sauer auf deine Eltern? Es ist doch nicht so schlimm hier. Du hast uns.«
Louis zuckte wieder mit den Schultern. Mir fiel auf, wie lang seine Wimpern waren. »Ich bin nicht mehr wirklich sauer, es geht einfach nur ums Prinzip. Sie haben mich abgeschoben und mir bis 24 Stunden vorher nicht mal etwas davon gesagt. Ich bin ihr Sohn und sie behandeln mich wie ein unerwünschtes Haustier. Meine Mum freut sich unglaublich, dass ich komme. Sie fühlt sich schuldig, das weiß ich. Aber das soll sie auch. Ich hoffe, die zwei Wochen gehen schnell vorbei. Harry?«
Ich sah ihn fragend an. »Deine Ferienpläne?«
Ich spürte Nialls Blick brennend auf meiner Haut, als ich geübt mit den Schultern zuckte. »Noch keine Pläne. Mal sehen.«, sagte ich mehr oder weniger gleichgültig und lächelte dann doch Niall an. Er nickte mir leicht zu, stupste meinen Fuß unter dem Tisch leicht mit seinem an.
»Oh!«, sagte er dann plötzlich und grinste breit. Liam, Louis und ich sahen synchron überrascht auf. »Ratet mal, wer eine Begleitung für den Ball hat!«, forderte Niall triumphierend auf.
Liam grinste mit einem Zwinkern. »Ich«, sagte er und Louis verdrehte die Augen.
Niall sah Liam genervt an. »Ja, schon klar, das wissen wir alle. Aber wer noch? Richtig! Ich!«
»Wen?«, fragte ich neugierig und musste bei der Begeisterung meines besten Freundes lächeln.
»Sophie!«, verkündete Niall strahlend. »Ich habe sie gefragt. Einfach so. Keine Ahnung, wir waren beide zum Schneeschieben eingeteilt und wahrscheinlich hat die Kälte meine Vernunft betäubt. Aber sie hat Ja gesagt, also ist alles perfekt!«
»Sophie?«, fragte Louis mit skeptischem Blick. »Ich dachte, sie geht mit Noah hin. Die beiden sind doch-« Mein vorwurfsvoller Blick brachte ihn zum Schweigen. Er hatte zwar Recht; Noah und Sophie waren mal zusammen gewesen und Noah war zweifellos noch an ihr interessiert...aber hey. Wenn sie Niall als Date gewählt hatte, war das wunderbar.
Glücklicherweise beschloss Niall, Louis' Kommentar zu überhören und summte leise vor sich hin. Bis auf das sanfte Summen legte sich eine angenehme Stille über uns vier. Der Wind draußen heulte leise, es hatte vor zwei Stunden wieder zu schneien begonnen. Die gesamte letzte Woche hatte es schon geschneit und meine gute Laune war unerschütterlich gewesen. Es lagen schon etwa dreißig Zentimeter Schnee, aber dem Sturm dort draußen nach zu urteilen, würde da jetzt noch ein bisschen was dazukommen. Keine Beschwerden meinerseits.
Plötzlich spürte ich, wie der Blick von Louis' blauen Augen mich durchbohrte. Ich versuchte nicht mal, so zu tun, als würde ich es nicht merken. Stattdessen sah ich ihn einfach auch an, lächelte leicht. Als ich seinen Blick erwiderte, legte sich ein zartes Rot auf seine Wangen und kurz fiel seine Aufmerksamkeit der Tischplatte zu, dann sah er aber doch wieder auf.
Er saß mir gegenüber an dem kleinen Tisch in unserem Zimmer, Niall und Liam links und rechts neben mir. Louis trug den blauen Pullover, der seine Augen beinahe besser betonte als sein hypnotisierender Wimpernschlag. Jetzt sah er mich mit diesen blauen Augen an, und ich stellte mir vor, dass der liebevollste aller Blicke für mich bestimmt sein könnte.
Niall hatte Recht. Ich hatte keine Angst davor, falsch zu küssen. Aber genauso wenig sollte ich mich davor fürchten, dass Louis der Falsche wäre. Ich hatte Angst, dass er mein Herz brechen würde.
»Hey!«, sagte Niall dann, als hätte unser Gespräch keine Pause eingelegt. »Und wisst ihr, wer noch keine Begleitung für den Ball hat?« Er grinste über beide Ohren und ich warf ihm flüchtig einen warnenden Blick zu. Meinen besten Ich-töte-dich-wenn-du-Louis-irgendwie-zeigst-dass-ich-etwas-für-ihn-empfinde-Blick. An dem hatte ich die letzten Tage ziemlich gut feilen können, denn Niall schien eine Vorliebe dafür zu haben, Louis und mich miteinander in Verbindung zu bringen. In allen möglichen Situationen, und mein Leben fühlte sich seitdem ein bisschen wie ein Minenfeld an.
»Ich«, sagte ich Schulter zuckend und versuchte, nicht niedergeschlagen zu klingen.
Louis stöhnte genervt auf, als hätte er schon zu viel über dieses Problem nachgedacht. »Braucht man unbedingt ein Date? Kann ich nicht einfach allein gehen?«
Niall schüttelte empört den Kopf. »Nein! Es ist ein Ball. Außerdem gibst du auch noch einen Sitzwunsch für eine Sitzordnung ab. Ich sitze neben Sophie. Louis, alle werden tanzen! Was wirst du dann tun? Mit wem wirst du tanzen?« Bei der Frage sah Louis uns überlegend an und vielleicht blieb sein Blick einige Sekunden zu lang an meinen Lippen hängen.
»Der Ire hat Recht, Louis«, sagte Liam, bevor Louis antworten konnte. »Es ist ein klassischer Ball. Man geht nicht alleine. Sogar als wir noch zwölf waren, hatten wir alle eine Begleitung zum ersten Neujahrsball – auch wenn es kein richtiges Date war, mehr einfach nur ein Tanzpartner. Du kannst nicht alleine zum Ball. Alle haben immer eine Begleitung. Naja, alle auß-« Er schlug sich schuldbewusst die Hand vor den Mund und sah mich entschuldigend an. Ich zuckte mit den Schultern, als Louis nickte.
»Harry«, sagte er und ich war ziemlich froh, dass ich es ihm schon erzählt hatte.
Ich räusperte mich leicht, als ich beschloss, es ihm dieses Mal etwas genauer zu erzählen. »Weil ich immer bei der Organisation geholfen habe, habe ich irgendwie immer vergessen, mich um eine Begleitung zu kümmern. In der achten Klasse war ich außerdem krank, aber ich durfte mich trotz verschriebener Bettruhe und Fieber unten etwas abseits in den Saal setzen und zusehen. Aber der Hauptgrund ist wahrscheinlich, dass es nie einen Jungen gab, der mit mir hingehen wollte. Mädchen hätten sich bereit erklärt, obwohl sie wussten, dass ich kein Interesse an ihnen hätte. Sie waren alle nett und wollten mir wahrscheinlich einen Gefallen tun. Ich hätte wohl jeden Jungen genommen. Nur als Tanzpartner, um auch mal den Ball richtig erleben zu können. Aber das war keine Option. Ich habe manchmal ein bisschen mit Niall getanzt«, ich lächelte meinen besten Freund an, »aber irgendwann wird er wieder weggeschnappt. Das wird dieses Jahr wohl Sophie übernehmen.« Ich lächelte mein bestes optimistisches Lächeln und mochte gar nicht, wie mitleidig Liam und nachdenklich Louis mich ansah. Aber vor allem gefiel mir nicht, wie auffällig – beinahe auffordernd – Niall Louis anstarrte. Ich stieß ihn leicht mit dem Fuß an und glücklicherweise beließ er es dann dabei.
»Okay, genug über den Ball geredet!«, sagte ich, um die Stimmung zu lockern. »Es wird super werden, Louis, das verspreche ich dir! Der Ball ist die beste Nacht im Jahr, das war sie sogar bei meinem Fieberball. Mach dir keine Sorgen, das mit der Begleitung klappt auch noch alles.«, versicherte ich ihm und lächelte ermutigend – auch wenn ich mich ganz und gar nicht so fühlte.
Aber Louis verzog sein Gesicht, als hätte er Bauchschmerzen. »Das mit der Begleitung bezweifle ich. Aber danke trotzdem.«
Und bevor Niall noch irgendeine Bombe platzen lassen konnte, schob ich laut meinen Stuhl zurück und bot den Dreien an, meine Hausaufgaben abzuschreiben (wozu sie zum Glück nie Nein sagten).
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