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Harry
Schweigen war so viel einfacher als Reden.
Ich war eigentlich immer ein ziemlich offener Mensch gewesen, das hatte jetzt wohl seine Grenzen gefunden.
Louis und ich taten ganz einfach so, als wäre nichts passiert. Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht mal ganz sicher, ob für Louis überhaupt etwas Besonderes passiert war. Ich hatte keine Ahnung, wie er die ganze Situation gestern wahrgenommen hatte. Und ich würde wahrscheinlich meine Locken opfern, um zu wissen, wie er es empfunden hatte.
Leider war das wohl keine Option. Ich glaubte nicht, dass Louis für ein paar dämliche Haare seine Gefühlswelt mit mir teilen würde, deswegen bat ich es ihm gar nicht erst an. (Und vielleicht war ich auch gar nicht allzu scharf darauf, meine Locken loszuwerden.)
Jedenfalls gab es diese unausgesprochene Abmachung zwischen uns. Wir würden es einfach ignorieren, aus unseren Erinnerungen löschen. Das war fast so, als würden wir es ungeschehen machen. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich das überhaupt wollte.
Ich will nicht lügen. Ich wollte ihn küssen, ich wollte es wirklich. Es war so ungefähr das Beste, was ich je gefühlt hatte – und dabei hatten wir uns nicht mal geküsst. Aber diese paar Sekunden, Minuten, Stunden..? Sie hatten sich angefühlt, als müsste ich gleich explodieren. Aber ein gutes Explodieren, ein unbeschreiblich gutes Explodieren. Louis war so...wow. Es gab wohl keine bessere Beschreibung für ihn. Es schien als hätte dieser eine Moment meine Schwärmereien für den Londoner Jungen zu weit mehr als süßem Schmachten gemacht. Vielleicht ein Moment des Realisierens. Aber so weit wollte ich noch nicht denken.
Denn es war nicht alles Regenbogen und Zuckerwatte, was ich erst nach dem Fast-Kuss begriffen hatte, als ich die letzte Nacht beinahe komplett ohne Schlaf verbracht hatte. Natürlich war es mir gestern so vorgekommen, als würde Louis den Kuss genauso wollen, wie ich es getan hatte. Aber erst hinterher hatte ich verstanden, dass das nicht so selbstverständlich war, wie ich angenommen hatte. Dass es wahrscheinlich nicht mal stimmte.
Ich durfte nicht vergessen, dass Louis der Junge war, der mich mit seiner Homophobie zum Weinen gebracht hatte. Ja, er hatte mir zwar erzählt, dass das so eine Art Gruppenzwang gewesen war und es hatte wirklich so gewirkt, als stünde er gar nicht mit seiner eigenen Meinung dahinter. Aber trotzdem änderte das nicht gleich seine ganze Persönlichkeit, denn zumindest hatte er sich überhaupt auf diese ganze Homophobie eingelassen – was nicht gerade ein Pluspunkt für ihn war.
Und selbst wenn diese Homophobie-Sache nicht mal ein Problem wäre; nicht homophob zu sein, bedeutete nicht gleich Homosexualität. Oder vielmehr Bisexualität in Louis' Fall (oder etwas noch anderes, das Spektrum war breit).
All diese Gedanken machten mich verrückt, wenn ich mir das elektrische Kribbeln von gestern vorstellte, das allein von der Berührung unserer Knie ausgelöst wurde. Wenn all das nur einseitig war und Louis-
»Hey, Erde an Harry! Haz? Harry Styles!«
Ich stellte meinen Blick scharf, um mich Niall gegenüber zu finden. Langsam kam die Realität zurück und mir wurde wieder bewusst, dass Niall und ich auf einer der Bänke am kleinen Cricketfeld saßen.
Ich zog die Jacke enger um meinen Körper, als auch die kalte Novemberluft wieder präsent wurde. Ich lächelte Niall an, um ihm zu signalisieren, dass ich ihn gehört hatte. Er runzelte die Stirn und sah mich fast besorgt an.
»Ich wollte dich wirklich nicht aus deinen Gedanken reißen, Harry, aber du hast dieses Gesicht gemacht, als würdest du gleich alle Koffer packen und nach Argentinien auswandern. Ehrlich gesagt hat es sogar geschwankt. Am Anfang war es noch mehr der Gleich-erzählst-du-mir-dass-du-schwanger-bist-und-ich-der-Pate-werden-soll-Blick.«
»Vielleicht sollte ich das tun.«, murmelte ich vor mich hin.
»Warte- du bist schwanger?!« Theatralisch warf Niall seine Arme in die Luft. Ich sah ihn trocken an.
»Ha ha ha«, sagte ich stumpf. »Nein, das mit dem Auswandern nach Argentinien.«
Plötzlich aufgeregt kniff Niall grinsend die Augen zusammen. Verdammt, dieser Junge kannte mich einfach viel zu gut. »Uuh, was hast du gemacht, Harry? Erzähl. Was ist so belastend, dass du nach Argentinien auswandern willst? Das letzte Mal, als du auswandern wolltest, hattest du unabsichtlich einen Schmetterling zertreten, aber da wolltest du nach Schweden. Südamerika ist da doch noch etwas anderes. Was ist passiert?«
Manchmal hasste ich es, dass Niall so viele Erinnerungen und Erlebnisse mit mir teilte. »Ich war zwölf, Niall!«
»Ja, und du konntest kein Wort Schwedisch! Aber der Mord an dem Schmetterling hat dich so abgrundtief erschüttert, dass du dein altes Leben einfach hinter dir lassen musstest, in dem dich alles an das unschuldige Opfer deiner erbarmungslosen Füße erinnert hätte. Wenn meine Erinnerungen mich nicht täuschen, wolltest du sogar deinen Namen ändern.«
»Halt den Mund, Ni. Außerdem war es kein Mord, es war ein Versehen. Aber das spielt doch auch keine Rolle, wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?«
»Erzähl mir, was los ist!«, sagte er anstelle einer Erklärung und leider war das wieder Erklärung genug. Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte ich, es ihm zu erzählen. Dann seufzte ich leise. Natürlich würde ich es Niall erzählen. Sein irischer Superrat (wie er ihn manchmal nannte) hatte mir schon so manches Mal weitergeholfen – er hatte zwar auch schon mehr als oft alles nur schlimmer gemacht, aber wozu hatte ich einen besten Freund, richtig?
»Louis und ich hätten uns beinahe geküsst.«, rückte ich sofort mit der ungeschönten Wahrheit heraus. Ich musste dem Drang widerstehen, mich umzudrehen und sicherzugehen, dass hier draußen niemand war und uns belauschte. Auch wenn ich ganz genau wusste, dass wir alleine waren.
Niall schien kurz nachzudenken, dann lächelte er breit. »Ja, richtig! Gestern, nicht wahr? Ich hatte das schon fast wieder vergessen wegen der ganzen Aufregung um die Kiefer. Als ich bei euch reingeplatzt bin, ihr- warte! Habe ich den Kuss verhindert?! Erzähl mir alles, Haz, na los!«
Ich setzte mich anders hin, sah ihn jetzt direkt an. Meine Fingerspitzen waren bestimmt schon schwarz vor Kälte, aber ich ignorierte es.
»Es gibt nicht viel zu erzählen.«, begann ich langsam und mit gezwungener Ruhe. »Nachdem du und Liam einfach weggelaufen seid – warum ihr das gemacht habt, verstehe ich übrigens auch nicht – waren wir allein. Und auf einmal war ich ihm viel näher, als wir uns eigentlich sein sollten. Ich weiß gar nicht mehr, wieso überha- oh.« Ich brach ab, als mir die Sache mit der Wimper wieder einfiel. Ich spürte allein bei dem Gedanken daran das Blut in meine Wangen schießen. Ich wollte gar nicht wissen, wie seltsam das auf Louis gewirkt hatte. Wieso musste ich nur immer so komische Sachen machen?
»Was?«, fragte Niall neugierig.
»Wimper«, sagte ich nur gequält und fand die Argentinien-Option jetzt nicht mehr so abwegig.
Niall verzog sein Gesicht, als würde es ihm physischen Schmerz bereiten, denn das eine Wort war definitiv Erklärung genug für ihn. Er kannte es.
»Okay, Harry, das hättest du wirklich...besser lösen können.«
»Ich habe es nicht mal gemacht, um ihm näher zu kommen!«, versuchte ich verzweifelt, mich zu rechtfertigen. »Er hatte da einfach diese Wimper und.. Oh Gott, Niall! Er wird denken, ich bin verrückt! Er wird nie wieder ein Wort mit mir reden!«, kurz schwiegen wir beide, »Glaubst du, in Argentinien gibt es schöne Blumen?«
Niall lachte leise und stieß mich leicht ermutigend mit dem Ellenbogen an. »Er wird dich schon nicht so sehr hassen. Vielleicht nur ein bisschen. Das wird schon!«, versuchte er – vergeblich – mich aufzuheitern. »Und jetzt erzähl weiter! Was war dann?«
»Nichts«, erklärte ich wahrheitsgemäß, »Dann bist du reingekommen.«
Sein Blick war wahrscheinlich sehr passend als mitleidig zu beschreiben. Aber dann schüttelte ich energisch den Kopf.
»Niall, was auch immer du gerade denkst; schlag es dir aus dem Kopf! Ich wollte Louis küssen. Ja. Aber er nicht mich, egal wie sehr es mir so vorkam. Wenn ich bei irgendeinem Menschen dieser Erde meine goldenen Boots auf seine Heterosexualität verwetten würde, dann wäre das Louis.«
»Rest in Peace, Harrys goldene Boots.«
Ich verdrehte die Augen und wünschte mir, dass mein eigenes Glück Niall nicht so wichtig wäre. »Mach mir keine falschen Hoffnungen, Ni. Hätte ich ihn geküsst, dann gäbe es jetzt nur Probleme. Zuallererst würde er mich hassen. Er ist mehr als heterosexuell, das hat er überdeutlich klargemacht. Es wäre nicht richtig gewesen, ihn zu küssen.«
»Es hätte ihm gefallen.«, sagte Niall, als wäre es ein unumstößlicher Fakt und hob leicht die Augenbrauen.
Ich seufzte. »Dann hätte er mich noch mehr gehasst. Wenn ich ihn nicht nur geküsst, sondern auch noch gut geküsst hätte. Wenn es ihm gefallen hätte, einen Jungen zu küssen. Er hätte mich vermutlich umgebracht.«
Niall runzelte die Stirn. »Vielleicht. Kann sein. Aber ich schätze nicht, Haz. Denk an all deine bittersüßen Liebesfilme und -romane. Küsse können alles ändern!« Er machte mit einem Arm eine ausladende Geste, als befänden wir uns in irgendeinem Disneyfilm. So viel zum keine falschen Hoffnungen machen.
»Du bist ein viel zu guter bester Freund!«, beklagte ich mich und schlang ihm seufzend die Arme um den Oberkörper.
»Du hast Recht.«, erklärte Niall, »Ich sollte wirklich manchmal ein schlechterer Freund sein. Weißt du was? Lass uns gleich anfangen!«
Bevor ich seine Worte richtig verarbeitet hatte, hatte er mich schon hart von der Bank in den Matsch geschubst. Schneller, als ich denken konnte, zog er mir die Schuhe von den Füßen und die Mütze ins Gesicht.
Als ich mich nach dem kurzen Schock – der vor allem von der nassen Kälte kam – erholt hatte und empört die Mütze hochschob, hatte Niall schon etwa dreißig Meter hinter sich gebracht und rannte immer weiter, meine Schuhe in seinen Händen. Selbst über den Wind hinweg hörte ich ihn lauthals lachen.
»Niall Horan, du- ah!« Ich rappelte mich auf und ignorierte, dass ich auf einer Seite komplett schlammverschmiert war. Auf Socken lief ich Niall, so schnell es auf dem schlüpfrigen Untergrund ging, hinterher. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Lachkrämpfe meines besten Freundes nur weiter dadurch geschürt wurden, dass ich mehr als einmal hinfiel.
Und ohne dass Niall oder ich es realisierten, war der Ire mir nur wieder der beste Freund, der er hätte sein können, indem er mich zum ersten Mal heute von den bedrückenden Gedanken um Louis befreite. Denn hätte ich noch viel länger über ihn nachgedacht, hätte ich mich wahrscheinlich im See ertränkt.
Dabei wusste nicht mal Niall, dass ich tatsächlich um ein Paar Boots ärmer wäre, würde ich häufiger wetten.
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