• 28 •
Louis
Wir setzten uns sofort nach dem Essen in die Bibliothek zum Lernen. Harry hatte einen Stapel mit Büchern von überall her geholt, der mindestens eine Tonne gewogen hatte.
Am Anfang hatte ich rein gar nichts verstanden. Null. Harry hätte genauso gut auf Spanisch reden können, ich hätte mit keinem der chemikalischen Begriffe etwas anfangen können. Aber nachdem er das begriffen hatte, änderte er sein Erklären. Und je länger wir hier saßen, desto mehr verstand Harry meine Denkweise und ich das Thema. Irgendwann kannte er sogar meine Fragen, bevor ich sie überhaupt ausgesprochen hatte und gab mir jedes Mal eine gute Antwort. Es war, als entwickelte er mit jedem seiner Worte eine stärker werdende Verbindung zwischen meinen und seinen Gedanken.
Aber es war nicht so einseitig, wie sich das jetzt vielleicht anhört. Harry redete nicht pausenlos und ich hörte nicht einfach nur schweigend zu. Es war schließlich mein Aufsatz, nicht seiner.
Und als er mir das ganze Thema dreimal erklärt hatte, begann ich dann mit dem eigentlichen Aufsatz.
Auch wenn das vielleicht ein wenig egoistisch von mir und langweilig für Harry war, bat ich ihn, bei mir sitzen zu bleiben. Er erklärte sich lächelnd bereit dazu und ich hoffte ehrlich, dass es ihn wirklich nicht störte. Aber für mich fühlte es sich viel besser an, wenn er hier saß. Ich hatte das Gefühl, das ich alles verstand. Ich fühlte mich klug, Harry brachte mir ein gewisses Selbstbewusstsein.
Er holte sich ein Buch (kein Schulbuch) und setzte sich in einen der drei Ledersessel an meinem kleinen, runden Holztisch. Es war angenehm ruhig hier in der großen Bibliothek. So begann ich zu schreiben.
Ich fühlte mich ziemlich sicher, während ich Seite für Seite beschrieb. Und als ich endlich fertig war, lag ein Sechs-Seiten-Aufsatz eines Themas vor mir, dass ich vor ein paar Stunden noch überhaupt nicht verstanden hatte. Ich war ziemlich stolz auf mich.
Zufrieden legte ich meinen Füller weg – wir mussten mit Füller schreiben – und klappte alle vor mir verstreuten Bücher zu. Dann sah ich zu Harry. Überrascht stellte ich fest, dass er eingeschlafen war. Die Füße hatte er mit auf den Sessel gezogen, das Buch lag aufgeschlagen in seinem Schoß. Sein Kopf war sanft zur Seite an die Sessellehne gekippt und sein Mund war leicht geöffnet. Er war einfach eingeschlafen, wie ein kleines Baby.
Bemüht leise stand ich auf und brachte die Bücher weg. Ich ließ mir Zeit, brachte jedes Buch wieder an seinen richtigen Platz. Danach schlief Harry immer noch. Erst war ich mir unsicher, ob ich ihn einfach alleine hier lassen konnte und ich überlegte, ob ich ihn vielleicht nach oben tragen sollte, aber die Vorstellung von zwei langen Treppen mit erschwerten Gewicht trieb mir die Überlegung aus. Also ging ich doch, ich nahm mein Schreibzeug und verließ die Bibliothek.
Mit jedem Ferientag hier – und es war gerade mal Montag – wurde mir mehr und mehr bewusst, wie groß die Schule war. In all den leeren Gängen fühlte ich mich winzig. Und ich war jemand, der ausladende Räumlichkeiten gewohnt war.
Zuerst brachte ich das Schreibzeug weg, dazu betrat ich unser Zimmer nicht mal richtig. Weil ich aber nicht wusste, ob vielleicht etwas kaputt gehen könnte, wenn ich es auf den harten Schreibtisch warf, beförderte ich es auf Harrys Bett. Dann ging ich auf Toilette, weil mir jetzt erst auffiel, dass ich schon seit einer Weile musste.
Ich ließ mir Zeit beim Händewaschen, beobachtete die Tropfen, die gegen die Scheiben schlugen, während ich meine Hände minutenlang unter das warme Wasser hielt. Es war inzwischen wirklich kalt draußen, Harrys Wunsch nach Schnee würde sicher bald erfüllt werden. Als meine Finger schon aufquollen, drehte ich das Wasser ab und trocknete sie in einem weichen Handtuch ab.
Dann fühlte ich mich untätig und planlos. Mit dem Aufsatz war ich fertig, Harry schlief und es war noch nicht Zeit zum Abendessen. Außerdem fiel mir auf, dass ich mein Handy vermisste.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mir einen Tee oder etwas Obst oder Kekse von unten zu holen, aber ich verwarf ihn wieder. Ich hatte in der Bibliothek ungefähr achtzig Liter Wasser getrunken und das erstickte eindeutig jedes Verlangen nach Essen oder Trinken.
Also kehrte ich gleich in unser Zimmer zurück.
Ich ließ mich schon fast auf mein Bett fallen, als mir das Schreibzeug wieder einfiel. Ich ging also stattdessen zu Harrys Bett und aus dieser kürzeren Distanz traute ich mich, es auf den Schreibtisch zu werfen. Weil ich schon einmal hier war, sank ich jetzt auf Harrys Bett. Erst saß ich mit angezogenen Beinen an der Wand und beobachtete das Zimmer – ganz genau wie Harry es heute Morgen getan hatte. Eine verrückte Sekunde lang überlegte ich sogar, ob ich auch versuchen sollte, es zu zeichnen. Aber das war mit meinen nicht vorhandenen Zeichenkünsten nicht die beste Idee (auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass Harry mich dazu ermutigt hätte).
Also legte ich mich jetzt auf den Rücken, mein Kopf versank im Kopfkissen. Doch sofort hob ich ihn ungläubig wieder hoch. Ich zwang meine Augen, scharf zu stellen.
Dort, wo ich eigentliche die weiße Zimmerdecke sehen müsste, schillerten bunte Farben auf dünnem Fotopapier. Die gesamte Fläche der Decke über Harrys oberem Bereich des Bettes war mit Fotos zugepflastert. Erst dachte ich, dass ich es mir vielleicht einbildete, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass mir das noch nie aufgefallen war.
Ich stand auf, lief zur Tür und schaute wieder an die Stelle an der Decke. Und ich musste zugeben, dass man es sehr leicht übersah, wenn man nicht darauf achtete. Etwas zögerlich kehrte ich wieder zum Bett zurück, legte mich genau hin wie vorher. Diesmal ließ ich meinen Kopf allerdings auf dem Kissen ruhen. Mit einer Mischung aus Neugier und Konzentration sah ich mir die Bilder jetzt genauer an.
Es waren alles Fotos, bei den meisten erkannte man, dass sie hier schon eine ganze Weile hingen. Ziemlich weit oben links war eines, auf dem zwei Jungen zu sehen waren. Eindeutig Niall und Harry. Sie sahen deutlich jünger aus, wahrscheinlich nicht lange, nachdem sie sich hier kennengelernt hatten. Zwölf vielleicht, oder dreizehn. Und obwohl sie sich noch nicht allzu lange kennen konnten, sahen sie schon aus wie die besten Freunde. Harrys Wangen waren rot gefärbt, die grünen Augen strahlten im Kontrast. Niall hatte einen Arm um ihn gelegt, seine blonden Haare waren viel kürzer gewesen, seine Zähne schief. Beide strahlten um die Wette. Unwillkürlich musste ich sehnsüchtig lächeln. Vielleicht war es auch ein leichter Anflug von Neid. Ich hatte nie einen Freund gehabt, der für mich wie Niall für Harry war. Nicht ansatzweise.
Aber ich verbannte diesen Gedanken, als ich interessiert an einem anderen Bild hängenblieb.
Es zeigte einen ziemlich jungen Harry (vielleicht sechs Jahre alt..?) und eine junge Frau und einen ebenso jungen Mann, die neben dem kleinen Harry knieten. Natürlich konnte ich es nicht wissen, aber ich tippte ziemlich sicher auf Harrys Eltern. Beide sahen wirklich gut aus – was sich in Harrys Genetik ja auch zeigte. Ich konnte nicht sagen, wer Harry ähnlicher sah, er schien beiden wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte niedliche, kleine Apfelbäckchen und die Locken umrahmten das Kindergesicht wild.
Wieder musste ich mir eingestehen, dass ich etwas neidisch war. Alle drei lächelten so ehrlich und breit, dass es beinahe deprimierend war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mit meinen Eltern das letzte Mal so glücklich gewesen war.
Ich dachte über Harry und seine Eltern nach. Vielleicht hatte er gestern wirklich die Wahrheit gesagt, vielleicht lebten seine Eltern wirklich einfach nur weit weg und er hatte keinen Streit mit ihnen. Sonst hätte er bestimmt nicht gewählt, sie jeden Morgen beim Aufwachen zu sehen.
Ich sah mir auch noch den Rest der Fotos an. Es waren viele mit seinen Eltern, einige wo Harry noch ein Baby war. Aber es gab auch sehr viele mit Niall und anderen Gleichaltrigen, zwei oder drei der Fotos konnten nicht älter als ein halbes Jahr sein. Dann gab es noch eines, das ich nicht so richtig einordnen konnte, darauf waren Harry und Evelyn zu sehen. Aber wahrscheinlich unterschieden sich Harrys Leben und Persönlichkeit einfach zu sehr von meinen, so dass ich es einfach nicht nachvollziehen konnte. Vielleicht musste ich das gar nicht.
Als ich dann das Zimmer verließ und Harry mir im Gang entgegenkam, wusste ich nicht, ob ich ihn auf die Bilder ansprechen sollte.
Ich tat es nicht, sondern zeigte ihm stattdessen meinen beendeten Chemieaufsatz.
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Ich habe ein paar Sachen zu sagen:
1. Wenn ich nicht bald die Studioversion von Medicine und Anna bekomme, werde ich wahrscheinlich eines unschönen Todes sterben.
2. Wieso waren die Lieder nicht auf dem Album? Mein Herz blutet.
Ok das war's auch schon, danke für die Aufmerksamkeit.
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