• 21 •
Louis
»Guten Morgen, Louis! Wie geht es unserem Patienten heute?« Harry strahlte mich mit breitem Lächeln an und drückte mir wie an jedem der letzten Tage eine heiße Teetasse in die Hand. Ich setzte mich verschlafen auf und warf einen Blick auf den Wecker. Punkt 9:45 Uhr. Natürlich war Harry pünktlich. Wie jeden Morgen.
Er öffnete das Fenster und kam dann zurück zu meinem Bett, legte mir kurz seine Hand an die Stirn.
»Fühlt sich viel besser an!«, kommentierte er fröhlich. »Heute ist Freitag, Montag kannst du wieder mit in den Unterricht. Du warst auch lange genug krank!« Er strahlte dabei, als wäre das die beste Nachricht des Tages. Ich verdrehte die Augen.
Keine Ahnung, warum Harry das Alles tat. Wahrscheinlich fühlte er sich immer noch irgendwie schuldig. Er hatte mich die ganze Woche jeden Tag pünktlich um 9:45 Uhr geweckt – das war in seiner ersten Pause – um mir einen Tee zu bringen und sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Es war etwas nervig, aber ich sagte ihm nicht, dass er aufhören sollte, weil er sich immer so sehr darüber freute.
»Mrs. Brown möchte dich um Zwölf im Krankenzimmer sehen. Sie hält es nicht mehr für nötig, dass sie herkommen muss.« Ich nickte und notierte den Termin in meinem Kopf. »Brauchst du noch etwas, Louis?«, erkundigte sich Harry noch und ich hatte schon ein Dutzend anstößige Antworten auf der Zunge, von denen jede Einzelne Harry knallrot hätte anlaufen lassen. Allerdings ließ ich es und schüttelte nur den Kopf, weil ich Harry sowieso schon oft genug aufzog. Er hatte mal eine freie Minute verdient.
Er nickte lächelnd und öffnete die Tür.
»Dann bis später, Louis. Werd gesund!« Und damit war die Tür zu und ich und mein Tee alleine.
»Da wären wir also wieder.«, murmelte ich dem Früchtetee zu. »Heute ist es wohl das letzte Mal.«
Ich pustete kurz und trank dann einen Schluck.
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Bis es Zwölf war, besuchte Liam mich noch einmal in einer Pause und brachte mir einen Tee mit, weil er Harry hatte ablösen wollen und sowieso zu mir gewollt hatte. Allerdings war die Pause nicht sonderlich lang und er war schnell wieder weg. Ich hatte nichts zu tun, also ging ich schließlich eine halbe Stunde zu früh zum Krankenzimmer.
Die Untersuchung ging schnell, ich bekam noch ein paar Halstabletten und die Anweisung, mich auch ja warm anzuziehen. Außerdem die Erlaubnis, am Montag wieder am Unterricht teilnehmen zu dürfen. So wirklich froh war ich darüber ja nicht.
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»Wow, ich hatte das Essen nicht so gut in Erinnerung!«, sagte ich mit vollem Mund, während ich mehr in mich hineinschaufelte. Die letzten Tage hatte ich nur Suppe bekommen – die extra für mich gekocht worden war. Aber heute, Freitag, konnte ich endlich wieder hier unten im Speisesaal essen.
Liam verdrehte die Augen. »Du bist so empfindlich! Wer wird auch bei ein bisschen Regen gleich krank?«
»Hey!« Ich sah ihn empört an. »Ein bisschen Regen ist wohl etwas untertrieben, findest du nicht? Außerdem bin ich in London aufgewachsen! Da kannst du dich auf jeden Meter in ein hübsches, warmes Café setzen.«
Ohne mich anzusehen, grinste er. »Verwöhntes Großstadtkind!«
Ich wollte mich schon wieder rechtfertigen, als ich es mir anders überlegte. »Wo kommst du eigentlich her, Liam?«, fragte ich stattdessen.
»Liverpool«, sagte er knapp. Ich rümpfte die Nase. Ich war nur einmal mit meinen Eltern in Liverpool gewesen. Eigentlich hatte ich nicht mitkommen wollen, aber sie hatten mir versprochen, dass wir das Yellow Submarine der Beatles ansehen würden. Sie hielten ihr Versprechen nicht und schleppten ihren achtjährigen Sohn stattdessen mit in die Walker Art Gallery. Das waren einige der schlimmsten Stunden meines Lebens gewesen. Man konnte also sagen, dass ich Liverpool hasste.
»Ich hasse Liverpool.«, sagte ich geradeheraus und Liam runzelte nur die Stirn und zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal, was ich dachte. War es wahrscheinlich auch. Ich war allerdings in Gesprächslaune und erzählte ihm als Erklärung von der Gräueltat meiner Eltern und dass das letzte Mal, dass Arsenal Liverpool besiegt hatte schon ewig her war. Und wer meinen FC Arsenal des Sieges beraubte, der fand sich selbstverständlich sofort auf meiner Hassliste wieder.
Liam schien aber nicht allzu interessiert an Fußball, weswegen ich ihn leider nicht mal mit meinen provokanten Sticheleien gegen den Verein seiner Heimatstadt mit ins Gespräch ziehen konnte. Also gab ich es irgendwann auf und erzählte ihm einfach ohne Resonanz weiter Dinge über Fußball. Wenn man mich fürs Reden begeistern wollte, dann mit Fußball.
»Hey Liam!«, schoss mir plötzlich etwas durch den Kopf. »Hinter dem Internat ist doch ein riesiges Gelände, bestimmt könnten wir im Sommer dort ein bisschen kicken! Oder vielleicht schon im Frühling, wenn es dann trocken ist. Wie wär's? Wir könnten ein paar Mannschaften bilden und machen unsere eigene kleine Premier League!«
Liam sah mich erst skeptisch an, dann grinste er. »Super Idee, ich habe schon eine Idee für einen Preis.« An der Weise, wie er mit diesem Grinsen im Gesicht sprach, traute ich seiner Intention nicht ganz.
Fragend sah ich ihn an. »Was denn?«
Sein Grinsen wurde breiter als ich es für gesund – und möglich – hielt. »Ein Kuss«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »An wen denkst du dabei? Eleanor? Ich denke nämlich nicht, dass sie so erfreut darüber-«
»Doch nicht Eleanor!«, fiel er mir ins Wort. Ich runzelte fragend die Stirn.
»Wer dann?« In Gedanken ging ich alle Mädchen unseres Jahrgangs durch. Natürlich hatten wir einige nette und auch hübsche Mädchen, aber...keine von ihnen war mein Typ Mädchen. Hier waren alle so musterhaft und höflich und solche Sachen. Ich versuchte mir die Mädchen, die ein Jahr unter uns waren, ins Gedächtnis zu rufen. Aber bevor ich wusste, wen Liam meinte, verriet er es mir schon.
»Na Harry.«, sagte er, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit. Mein Mund klappte auf, ich schloss ihn sofort wieder.
»HARRY KÜSSEN?!«
Dass ich zu laut gesprochen hatte, begriff ich, als sich jeder einzelne Schüler im Speisesaal zu mir umdrehte. Verdammt. Wenn das mal nicht etwas war, was man schön aus dem Kontext reißen konnte. ›Harry küssen‹.
Ich spürte, dass meine Wangen wärmer wurden. Langsam wandte ich den Kopf herum und sah den anderen Schülern in die Augen. Sie starrten mich einfach nur überrascht an, im Moment sah ich noch keine Urteile in ihren Gesichtern.
Doch als ich mit meinem Blick langsam weiter über die Menschen wanderte, löste sich die komplette Starre. Einige Schüler begannen zu tuscheln, andere lachten oder aßen ganz einfach weiter. Aber es waren noch mehr als genug, die mich noch immer ansahen.
Doch schnell legte sich auch das und keiner sah mehr zu mir.
Dachte ich zumindest.
Liam stieß mich mit dem Ellenbogen an und deutete mir mit der Hand, dass ich einfach ganz normal weiteressen sollte. Ich drehte mich auch gerade wieder zurück zu meinem Teller, als mein Blick plötzlich an diesem ganz bestimmten Augenpaar hängen blieb.
Na toll. War ja klar, dass das passieren musste. Nicht nur, dass ich hier solche Sachen herumbrüllte von wegen Harry küssen (auch wenn ich das ja nicht mal so gemeint hatte). Natürlich musste er hier sein und es hören. Danke, Gott.
Hektisch suchte ich nach einem Weg, wie ich das Ganze wieder richten konnte. Und weil mir nichts Besseres einfiel, stand ich einfach intuitiv auf. Mein Stuhl kratzte mit einem unangenehmen Geräusch über den Boden.
»Hey!«, sagte ich ziemlich laut, um wieder die Aufmerksamkeit der Anderen auf mich zu ziehen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Liam mich wie einen Irren anstarrte. »Hört mal zu, das war nicht das, was ihr denkt!«
Liam zog mich am Ärmel und wollte offensichtlich, dass ich mich wieder hinsetzte. Ich ignorierte ihn einfach.
»Schon klar, was ihr jetzt denkt«, setzte ich fort und dachte ganz einfach nicht darüber nach, was ich hier machte. »Aber ich würde das gerne richtigstellen. Okay?«
Ich weiß nicht, was schwieriger zu ignorieren war. Liams energisches Geflüster, dass ich mich wieder hinsetzen sollte, oder das grüne Augenpaar, dessen Blick sich in meine Haut brannte. Aber irgendwie schaffte ich es, weder das Eine noch das Andere zu beachten.
»Gut, also es ging um Fußball. Ich habe vorgeschlagen, dass wir im Sommer vielleicht ein bisschen was organisieren könnten. Ihr wisst schon, hier ist ja echt genügend Platz. Jedenfalls hat Liam hier« – ich klopfte ihm auf die Schulter, auch wenn Jeder hier Jeden kannte und Liam sofort sein Gesicht in seinen Händen begrub – »einen Preis vorgeschlagen. Jap, richtig, einen Kuss. Mein Ausruf war also Skepsis. Okay, danke für die Aufmerksamkeit! Gut, dass wir dass jetzt geklärt hätten.«
Bevor ich noch irgendetwas machen konnte, sprang Liam auf und zog mich am Arm aus dem Saal.
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