
• 20 •
Louis
Vielleicht war ich nicht tot gewesen, wahrscheinlich nicht mal knapp davor. Aber wenn es mir jemand gesagt hätte, wäre ich sicher nicht verwundert gewesen.
Wenn es also nicht der Tod gewesen war, musste es ein traumloser Schlaf gewesen sein. Der tiefste, den ich je hatte. Ich war mir definitiv nicht bewusst gewesen, dass ich schlief. Ich war mir Nichts bewusst gewesen, nichtmal meiner eigenen Existenz.
Wie gesagt, quasi tot.
Und außerdem musste ich lange geschlafen haben. Zumindest konnte ich mich gerade nicht an das letzte Mal erinnern, das ich wach war. Es musste Ewigkeiten her sein.
All das wurde mir in der einen Sekunde zwischen besagtem Schlaf und Wachzustand bewusst. Kurz lag ich einfach unbewegt da, wurde mir wieder meines eigenen Körpers bewusst. Ich spürte eine Matratze und ein Kissen unter, eine Decke über mir. Ich fühlte Wärme, aber gleichzeitig war es kalt.
Dann öffnete ich langsam die Augen.
Mein Blick musste sich erst scharf stellen, als hätte ich meine Sehkraft zu lange nicht genutzt.
Beinahe erschrak ich, als ein grünes Augenpaar nur wenige Zentimeter von meinem eigenen entfernt vor mir schwebte und sich dann überrascht weitete. Dann nahm ich auch das sanfte Lächeln wahr, das sich auf den dazugehörigen Mund legte.
Es war Harry.
»Hey Louis«, er sprach sanft und leise, als hätte er Angst, mich zu verschrecken, »Du bist endlich wach.« Für einen kurzen Moment lächelte er einfach erleichtert. »Wie geht es dir?«
Bei der Frage fiel mir zum ersten Mal auf, wie krank ich mich eigentlich fühlte. Mein Kopf tat weh, mein Körper fühlte sich seltsam an und mein Hals brannte und kratzte schrecklich.
»Mir ist heiß.« Meine Stimme war schwach und hörte sich nicht wie meine eigene an. Ich setzte mich langsam auf und lehnte mich dann mit dem Rücken an die Wand. Es war anstrengend. Ich zog die Beine an meinen Körper.
Harry nickte verständnisvoll. »Das kommt vom Fieber. Du musst unbedingt trinken, Louis. Hier.« Er hielt eine Teetasse hoch und kletterte dann einfach neben mir auf die Matratze. Vorsichtig drückte er die Tasse in meine kraftlosen Hände. Er versicherte sich erst, dass ich stark genug war, bevor er sie wieder losließ.
Skeptisch sah ich den rötlichen Tee an. Früchtetee, den hatte ich nie gerne gemocht.
Ich verzog mein Gesicht. »Ich mag keinen Früchtetee.«, sagte ich stur. Harry lachte.
»Das ist dann Pech. Ungesüßter Früchtetee ist das Beste, was du jetzt trinken kannst.« Ich sah den Tee weiterhin feindselig an und beschloss, später vielleicht etwas davon zu trinken.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte ich nach einer Weile. Langsam wurden meine Erinnerungen an die Stunden im Regen klarer.
»Achtunddreißig Stunden. Heute ist Dienstag, es ist fast 15 Uhr.«, antwortete Harry schlicht und ich fühlte mich nicht dazu im Stande zu überlegen, ob das lang oder kurz war.
Plötzlich hatte ich so etwas wie ein Déjà-vu oder so ähnlich und die ganze Geschichte, wie Niall und Harry mich ausgesperrt hatten, fiel mir wieder ein.
»Wieso habt ihr mich ausgesperrt?«, fragte ich also und sah den kleineren Jungen neben mir an.
Harry seufzte leise. »Nach der Sache mit dem Tee fand ich, dass diese Kriegssache ein Ende haben muss. Und weil ich weder mit dir noch mit Niall darüber reden konnte, bin ich zu Liam gegangen.« Ich runzelte die Stirn, ließ ihn aber weitererzählen. »Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht mehr wollte und er hat mich verstanden. Er war der Meinung, dass wir dich nur überzeugen konnten, wenn du selbst merkst, wie unsinnig es ist. Also hat er sich das mit dem Aussperren ausgedacht. Nia-«
»Liam?! Er hat sich das ausgedacht?! Dieser Verräter!«
Harry sah mich beschwichtigend an. »Sei nicht böse auf ihn, er wollte einfach keinen Streit. Niall habe ich meinen Plan mit Liam nicht erzählt, ihm das Ganze einfach als nächsten Zug vorgestellt. Und naja, dann ging es los. Es war auch alles okay, bis am Nachmittag dieses Unwetter begonnen hatte.« Er sah beschämt auf seine Hände. »Ehrlich gesagt wollte ich es nicht mehr. Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil du dort draußen sein musstest. Ich wollte dich reinholen. Aber Liam hat es verweigert. Irgendwann habe ich es aber nicht mehr ausgehalten. Liam hat geschlafen, also war er kein Problem mehr. Ich habe dich reingeholt.«
Unwillkürlich musste ich lachen. Ich wusste nicht mal, wieso ich es so lustig fand.
»Aww, kleiner Harry ist nicht standhaft genug, um den Plan durchzuziehen. Nicht mal ich kann ihm gleichgültig sein!«
Als er begriff, dass ich mich über ihn lustig machte, zog er einen Schmollmund.
»Halt den Mund, Louis.«, sagte er trotzig und ich grinste noch breiter.
Für einige Minuten waren wir beide still. Ich beobachtete meinen Tee, Harry mich. Aber es störte mich nicht.
Als Harry wieder sprach, erschrak ich vor seiner brüchigen Stimme.
»Es tut mir so leid, Louis!« Ich sah ihn entsetzt an und sah die Tränen, die in seinen Augen schimmerten. »Es ist meine Schuld und jetzt bist du krank und hast Schmerzen! Nur weil ich so egoistisch war und zu feige, Liam zu widersprechen! Ich fühle mich so unglaublich schlecht. Ich weiß, dass du das nicht verdient hattest und trotzdem musst du jetzt darunter leiden. Es tut mir so leid!« Dicke Tränen kullerten über seine Wangen und er sah unglaublich jung aus. Die grünen Augen flehten um Verzeihung und ehrlich gesagt verstand ich nicht, wieso er sich solche Vorwürfe machte. Leider war ich etwas überfordert mit dem aufgelösten Harry neben mir.
»Hey. Harry, ist schon gut. Ich bin nicht wütend. Ich kann es...sogar irgendwie verstehen. War ja eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis der Eintracht liebende Harry etwas unternimmt. Es ist okay.« Ein wenig unbeholfen legte ich ihm eine Hand auf den Arm, um ihn irgendwie zu trösten.
Tränenverschleiert nickte er.
»Danke Louis.«, schluchzte er leise und krabbelte dann aus dem Bett, während er sich mit den Händen über die nassen Wangen wischte. »Ich werde mal Liam Bescheid sagen, dass du wach bist.«, sagte er leise und tapste mit gesenkten Schultern und nassen Wangen aus dem Zimmer. Ich hatte Mitleid mit ihm. Dafür, dass er sich so viele Gedanken machte, aber ich wusste nicht, wie ich ihm das klarmachen sollte. Also tat ich es nicht.
Ich ließ ihn einfach gehen.
•
Es dauerte einige Zeit, bis Liam kam. Währenddessen hatte ich schon fast den ganzen Tee ausgetrunken – der mittlerweile beinahe kalt war – und war ziemlich stolz auf mich.
Bevor Liam etwas sagen konnte, sah ich ihn einfach vorwurfsvoll an.
»Unglaublich!«, sagte ich dann empört, obwohl wir beide wussten, dass ich es nicht wirklich meinte. »Der einzige Freund hintergeht mich, womit habe ich das nur verdient? ...Ja, vielleicht weil ich ein homophobes Arschloch bin. Weil ich mal ein Nikotinproblem hatte. Weil ich den unschuldigsten und gutmütigsten aller Jungen hier hasse. Weil ich ein schlechter Mensch bin oder vielleicht einfach nur, weil ich als ich klein war, Schmetterlingen die Flügel herausgerissen habe. Wahrscheinlich gibt es viele Gründe dafür, dass jeder einzelne Mensch auf dieser Erde mich hintergehen sollte. Aber wieso du?«
Wir mussten beide gleichzeitig grinsen. Anstatt auf meine Frage zu antworten, lachte Liam.
»Du siehst echt nicht gut aus, weißt du das?«, fragte er grinsend. »Mehr tot als lebendig.«
»Das habe ich dir zu verdanken. Nur weil Klein-Harry naiv genug war, zu machen, was du gesagt hast – und du das wohlgemerkt schamlos ausgenutzt hast – liege ich jetzt krank im Bett. Wahrscheinlich hattest du eigentlich sogar gehofft, dass ich sterbe.«
Liam zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Du hast mich durchschaut, ich wollte dich eigentlich umbringen. Schade, dass es nicht geklappt hat.« Ich lachte und rutschte ein Stück zur Seite und Liam ließ sich neben mir fallen.
Eigentlich redete er die ganze Zeit (worüber ich wegen meiner Halsschmerzen ziemlich froh war) und erzählte mir von den letzten anderthalb Tagen, die ich verschlafen hatte. Dass ich noch bis zum Ende der Woche vom Unterricht befreit worden war (Jackpot!) und was er den Lehrern für eine Geschichte erzählt hatte, warum ich so krank war. Und da anscheinend keiner hinterfragt hatte, dass sich die Tür einfach von selbst verschlossen hatte, als ich draußen gewesen war und Niemand mich den kompletten Tag über gesehen hatte, war das jetzt Harrys und Liams Alibi.
Dann erzählte er mir noch, dass ich eigentlich Glück gehabt habe, weil ich nur eine heftige Erkältung hatte, keine Lungenentzündung oder so.
Irgendwann wurde ich ziemlich müde – was Liam mir als normal bei dem hohen Fieber erklärte – und deswegen ging er wieder.
Ich lag noch eine Weile mit offenen Augen da und starrte die Decke an. Ich dachte an Harry. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas hatte sich zwischen uns beiden geändert. Und ich war mir ziemlich sicher, dass es etwas Gutes war.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro